Urteil des AG Wedding vom 14.03.2017

AG Wedding: flugzeug, maschine, gepäck, verordnung, verspätung, pilot, reparatur, sammlung, einfluss, aufzählung

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Gericht:
AG Wedding
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
22a C 38/07
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
Art 2 Abs 1 EGV 261/2004, Art 5
Abs 1 Buchst c EGV 261/2004,
Art 5 Abs 3 EGV 261/2004, Art 7
Abs 1 Buchst a EGV 261/2004,
Art 7 Abs 1 Buchst c EGV
261/2004
Haftung aus Luftbeförderung: Begriff der "Annullierung";
Leerflug als Durchführung des Fluges; Berechnung der für die
Höhe der Ausgleichsleistung maßgeblichen Flugstrecke
Tenor
1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 2400 Euro nebst Zinsen in Höhe
von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 10.01.2007 sowie
vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 331,35 Euro zu zahlen.
2. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.
3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des
beizutreibenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
Der Kläger schloss am 05.05.2006 mit der ... GmbH einen Luftbeförderungsvertrag über
einen Flug Berlin (Tegel) – München – Fort Myers – Düsseldorf – Berlin (Tegel), der am
05.07. bzw. 29./30.07.2006 stattfinden sollte. Der Kläger buchte 4 Plätze, und zwar für
sich sowie für seine Ehefrau, seine Tochter sowie eine Freundin der Tochter. Der Vertrag
sah als ausführenden Luftfrachtführer für den ersten und letzten Teilabschnitt die
Beklagte vor, für den zweiten und dritten Flugabschnitt ein Unternehmen der ...-Gruppe.
Nachdem der Kläger und die Mitreisenden am Abflugtag rechtzeitig am Flughafen Tegel
erschienen sind, ihr Gepäck aufgegeben und regulär das Flugzeug bestiegen haben,
erklärte der Pilot etwa zum angegebenen Startzeitpunkt, dass seine Instrumente einen
Druckverlust in der Hydraulik anzeigten. Nachdem die Maschine in eine Warteposition
gebracht worden ist, wurden Wartungsarbeiten durchgeführt. Nach ca. 15 Minuten
erklärte der Pilot, dass die Reparatur längere Zeit in Anspruch nehmen würde, alle
Passagiere daher die Maschine verlassen und am Schalter der Beklagten eine
Umbuchung auf einen anderen Flug vornehmen müssten. Der Kläger und seine drei
Mitreisenden sind daraufhin auf einen Flug Berlin (Tegel) – New York – Atlanta – Fort
Myers umgebucht worden, mit dem sie ihr Ziel Fort Myers 24 Stunden später als
eigentlich geplant erreichten. Zu diesem Zweck mussten die Passagiere ihr Gepäck
wieder abholen und bekamen neue Bordkarten ausgehändigt. Die Maschine, für die
ursprünglich die Plätze gebucht waren, startete schließlich ca. 5 ½ Stunden später ohne
Passagiere nach München.
Die drei Mitreisenden haben dem Kläger ihre durch die mangelhafte Flugleistung
entstandenen Ansprüche abgetreten.
Der Kläger ist der Ansicht, es handele sich im vorliegenden Fall um die Annullierung des
Fluges Berlin-München gemäß Art. 2 I) EG-VO 261/04, weshalb ihm nach Art. 5 Abs. 1 c),
Art. 7 Abs. 1 c) EG-VO 261/04 ein Ausgleichsanspruch in Höhe von 600 Euro pro Person,
insgesamt also 2400 Euro zustehe.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 2400 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5
Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Zustellung der Klage sowie vorgerichtliche
Rechtsanwaltskosten in Höhe von 331,35 Euro zu zahlen
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
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Die Beklagte ist der Ansicht, es handele sich im vorliegenden Fall nicht um eine
Annullierung, sondern um eine Verspätung, da das Flugzeug unstreitig 5 ½ Stunden
später, als ursprünglich geplant, nach München geflogen ist. Die Tatsache, dass die
Passagiere vorher umgebucht worden seien, könne nicht zu Lasten der Beklagten
gehen. Selbst wenn man aber eine Annullierung annehmen wollte, sei sie gemäß Art. 5
Abs. 3 EG-VO 261/04 nicht verpflichtet, Ausgleichszahlungen zu leisten, da die
Annullierung auf technische Schwierigkeiten und damit auf unvermeidbare,
außergewöhnliche Umstände zurückzuführen sei. Sie behauptet, es habe eine
unvorhersehbare Leckage am blauen Hydrauliksystem vorgelegen, welches im Notfall
funktionieren müsse, um die Steuerung des Flugzeugs sicherzustellen. Dieser Ausfall sei
auch nicht vermeidbar gewesen, da das Flugzeug regelmäßig und vorschriftgemäß
gewartet worden sei. Sie ist der Ansicht, dass für den Fall, dass ein Anspruch auf eine
Ausgleichsleistung bejaht werde, diese jedenfalls nur nach der Entfernung bis zum
letzten Zielort des ausführenden Flugunternehmens berechnet werden könne, hier also
nach der Entfernung Berlin-München.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die
wechselseitigen Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist begründet.
Der Kläger hat einen Anspruch auf Zahlung von 2400 Euro aus Art. 5 Abs. 1 c), 7 Abs. 1
c) EG-VO 261/04.
Entgegen der Ansicht der Beklagten handelte es sich im vorliegenden Fall um eine
Annullierung des Fluges LH 219 Berlin-München. Es ist zwar richtig, dass das Flugzeug
mit dieser Flugnummer 5 ½ Stunden später noch nach München geflogen ist. Nach Art.
2 I) EG-VO 261/04 bezeichnet der Ausdruck "Annullierung" die Nichtdurchführung eines
geplanten Fluges, für den zumindest ein Platz reserviert war. Für die Auslegung des
Begriffs Nichtdurchführung kann es jedoch nach Sinn und Zweck der Verordnung nicht
auf eine Betrachtung ex post, sondern nur auf die Situation zum Zeitpunkt der
Information der Passagiere ankommen. Hier ist den Passagieren mitgeteilt worden, dass
die Reparatur länger dauern werde, alle Passagiere die Maschine verlassen und ihren
Flug umbuchen müssten. Damit mussten die Passagiere davon ausgehen, dass der Flug
jedenfalls nicht wie geplant mit den gebuchten Passagieren stattfinden würde. Für den
Kläger und seine Begleiter, die nunmehr auf einer völlig anderen Flugroute zu ihrem Ziel
befördert wurden, verlief dieser Flug als Ganzes anders als geplant und stellte sich
seinem Zuschnitt nach als völlig anderer Flug dar, was für eine Annullierung des Fluges
spricht (vgl. Führich, Die Fluggastrechte der VO (EG) Nr. 261/2004 in der Praxis, MDR
2007, S1 (S 5/6)). Auch die Tatsachen, dass den Passagieren das Gepäck wieder
ausgehändigt worden ist und sie neue Bordkarten erhalten haben, sprechen hier für eine
Annullierung (vgl. Führich, a. a. O., S8 m. w. N.). Entscheidend ist schließlich, dass die
Passagiere zum Zeitpunkt des Abbruchs des Startversuchs gezwungen waren, einen
Ersatzflug anzutreten, da ihnen nicht einmal angeboten worden ist, später mit der
ursprünglich gebuchten Maschine zu fliegen. Der Einwand der Beklagten, das Flugzeug
sei tatsächlich später nach München geflogen, ist demgegenüber irrelevant, da der
Leerflug eines Flugzeugs nicht als "Durchführung" eines Fluges zu werten ist. Denn
entscheidendes Merkmal für die Durchführung eines Fluges im Sinne der Verordnung ist
der Transport von Passagieren. Das Verbringen eines leeren Flugzeugs zu seinem
nächsten Einsatzort hingegen ist nicht als eine solche anzusehen. Insbesondere kann
der spätere Leerflug nicht die schon vorher erfolgte Annullierung des ursprünglichen
Fluges rückgängig machen. Nach alledem liegt hier keine Verspätung, sondern eine
Annullierung des Fluges von Berlin nach München vor.
Die Zahlung einer Ausgleichsleistung ist auch nicht nach Art. 5 Abs. 3 EG-VO 261/04
ausgeschlossen. Selbst wenn es zutrifft, dass an dem Flugzeug unvorhergesehene
technische Probleme aufgetreten sind, stellen diese keine "außergewöhnlichen
Umstände" im Sinne dieser Vorschrift dar. Zur Auslegung des Begriffs der
außergewöhnlichen Umstände kann hier der Erwägungsgrund 14 der EG-VO 261/04
herangezogen werden, in dem beispielhaft Sachverhalte aufgezählt sind, die der
Verordnungsgeber als solche angesehen hat. Danach sind derartige Umstände
beispielsweise politische Instabilität, Wetterbedingungen, Sicherheitsrisiken, unerwartete
Flugsicherheitsmängel oder ein Streik. Entscheidend bei dieser Aufzählung ist, dass es
sich hier durchweg um Umstände handelt, die außerhalb des direkten Einfluss- und
Organisationsbereichs des Luftfahrtunternehmens liegen, so dass als außergewöhnliche
Umstände nur solche angesehen werden können, die nicht in die betriebliche Sphäre
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Umstände nur solche angesehen werden können, die nicht in die betriebliche Sphäre
des Luftfahrtunternehmens fallen (vgl. AG Rüsselsheim RRa 2007, 46; Führich, a. a. O.,
S6; Schmid, Die Bewährung der Fluggastrechte in der Praxis, NJW 2006, 1841 (1844);
Weise/Schubert, Konkurrenzen der VO (EG) Nr. 261/04, TranspR 2006, 340(344)). Da
dies bei technischen Problemen aber nicht der Fall ist, kann hier selbst ein tatsächlich
vorliegender Defekt an der Hydraulik nicht zu einer Entlastung der Beklagten führen.
Schließlich ist hier die Höhe der Ausgleichsleistung nach Art. 5 Abs. 1 c) EG-VO 261/04
entgegen der Ansicht der Beklagten nach Art. 7 Abs. 1 c) zu berechnen. Denn bei der
Ermittlung der Entfernung wird gemäß Art. 7 Abs. 1 a. E. EG-VO 261/04 der letzte Zielort
zugrunde gelegt, an dem der Fluggast infolge der Nichtbeförderung oder der
Annullierung später als zur planmäßigen Ankunftszeit ankommt. Das heißt, dass für die
erforderliche Streckenberechnung nicht lediglich die Teilstrecke zugrunde zu legen ist,
auf der die Annullierung stattfand, sondern der Flug als ganzes zu betrachten ist. Eine
Unterscheidung danach, ob auch ein Anschlussflug mit dem gleichen
Luftfahrtunternehmen stattfindet, trifft die Verordnung nicht. Für die
Zahlungsverpflichtung der Beklagten kann es daher keinen Unterschied machen, ob der
Weiterflug mit ihr oder einer anderen Fluggesellschaft geplant war. Nach alledem hat der
Kläger einen Anspruch auf Zahlung einer Ausgleichsleistung in Höhe von 600 Euro pro
Person, insgesamt also 2400 Euro.
Der Zinsanspruch sowie der Anspruch auf Ersatz des Verzugsschadens ergibt sich aus
§§ 286, 288, 291 BGB.
Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 91 Abs. 1 S. 1, 709 S. 1 ZPO.
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