Urteil des AG Tiergarten vom 14.03.2017

AG Tiergarten: vollstreckung der strafe, erste hilfe, hörensagen, polizei, balkon, ersetzung, bier, unmittelbarkeitsgrundsatz, bewährung, körperverletzung

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Gericht:
AG Tiergarten
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
(257 Ds) 63 Js
4783/08 (301/08)
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 56 StGB, § 223 Abs 1 Alt 2
StGB, § 224 Abs 1 Nr 2 Alt 2
StGB, § 244 Abs 2 StPO, § 250
StPO
Beweisaufnahme: Ersetzung der Vernehmung eines Kindes
durch Vernehmung eines Zeugen vom Hörensagen und
Verlesung der Niederschrift über eine frühere Vernehmung
Leitsatz
1. Die Vernhmung eines Zeugen vom Hörensagen verstößt nicht gegen den
Unmittelbarkeitsgrundsatz des § 250 StPO. Ob zusätzlich der unittelbare Zeuge zu vrnehmen
ist, richtet sich allein nach der richterlichen Aufklärungspflicht gemäß § 244 Abs. 2 StPO.
Stützt das Gericht seine Entscheidung auf Ausführungen des Zeugen vom Hörensagen zur
Glaubwürdigkeit des unmittelbaren Zeugen, bedürfen diese Ausführungen einer
hinreichenden Darlegung und Würdigung in den Urteilsgründen.
2. Weigert sich der Erziehungsberechtigte, sein Kind als Zeuge vernehmen zu lassen, kann
die Vernehmung durch eine Niederschrift über eine frührere Vernehmung gem. § 251 Abs. 1
Nr. 3 StPO ersetzt werden.
Tenor
Der Angeklagte wird wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von
7 – sieben – Monaten
verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird.
Er hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Gründe
I.
...
II.
Als am 25. Juni 2008 beim Länderspiel der Türkei gegen Deutschland das zweite Tor für
die Türkei fiel, warf der auf seinem Balkon jubelnde und angetrunkene Angeklagte gegen
22.30 Uhr eine Biertulpe in die Zuschauermenge, welche sich in der C.straße 17 in Berlin
zum „public viewing“ versammelt hatte. Hierbei traf das Bierglas die Zeugin am Kopf,
wodurch die Zeugin eine Schnittwunde erlitt, welche genäht werden musste und eine
Narbe unter den Haaren hinterließ. Außerdem trafen Glassplitter den Zeugen, welcher
sich hierdurch eine schmerzhafte Handverletzung zuzog. Diese Verletzungen hat der
Angeklagte billigend in Kauf genommen und sich mit ihrem möglichen Eintritt
abgefunden.
III.
1.
Angaben des Angeklagten und auf dem verlesenen Bundeszentralregisterauszug vom 2.
Februar 2009.
2.
diesbezüglich glaubhaften Angaben, welche sich insoweit mit den Bekundungen der
Zeugin sowie dem Protokoll über die um ein Uhr des Folgetages erfolgte Blutentnahme
vom 26. Juni 2008 (Befund: leichte Alkoholisierung) und dem Gutachten zur Feststellung
der Blutalkoholkonzentration vom 26. Juni 2008 (1,37 Promille Ethanol im Vollblut) –
beide Urkunden sind gemäß § 256 StPO verlesenen worden – decken.
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Hinsichtlich der eingetretenen Verletzungen der Zeugen und beruhen die getroffenen
Feststellungen auf den jeweils glaubhaften Bekundungen der Geschädigten, wobei die
der Zeugin mit den Angaben im gemäß § 256 StPO verlesenen Erste-Hilfe-Bericht des
St. Joseph Krankenhauses vom 26. Juni 2008 übereinstimmen.
Der Angeklagte hat eingeräumt, die Biertulpe beim Jubeln über das Ausgleichstor der
türkischen Mannschaft fallen gelassen zu haben. Dass die vorgenannten Verletzungen
lediglich durch den – vom Angeklagten insofern eingeräumten – Glaswurf des
Angeklagten verursacht worden sein können, steht bereits aufgrund der glaubhaften
Bekundungen der Zeugen, und fest. Diese Zeugen haben glaubhaft und
übereinstimmend bekundet, dass es bei dem ansonsten friedlichen Zusammentreffen
nach ihren Wahrnehmungen ausschließlich zu den festgestellten Verletzungen
gekommen sei. Zudem hat der Zeuge den Angeklagten als diejenige Person erkannt,
welche das Glas geworfen habe, wenngleich er sich nicht festlegen wollte, ob dies auch
versehentlich geschehen sein könnte.
Dass der Glaswurf zum Zeitpunkt des zweiten (Ausgleichs-) Tores der türkischen
Mannschaft erfolgte, steht aufgrund der insoweit glaubhaften Einlassung des
Angeklagten, welche sich mit den Bekundungen der Zeugen und deckt, fest.
3.
versehentlich fallen gelassen zu haben. Insoweit ist die Einlassung des Angeklagten
durch die Beweisaufnahme indes widerlegt worden.
Der Angeklagte und seine Ehefrau, die Zeugin, sind ersichtlich bemüht gewesen, den
Eindruck einer negativen Einstellung gegenüber Deutschen im Allgemeinen und
deutschen Fußballfans im Besonderen zu vermeiden. Es habe sich um ein Spiel
gehandelt, bei dem man nur habe gewinnen können. Eine Einlassung bzw. Bekundung,
welche sich insoweit mit den in Augenschein genommenen Ausdrucken der
Videoaufnahmen des Zeugen, die einen mit zahlreichen ausschließlich türkischen
Fahnen geschmückten Balkon und den Angeklagten mit einer mit Bier gefüllten Biertulpe
zeigen, nicht decken. Ferner hat der Zeuge glaubhaft bekundet, dass der Angeklagte
bereits vor dem Glaswurf durch aggressive Gestik aufgefallen sei, so dass der
Angeklagte nach Überzeugung des Gerichts in den Deutschen durchaus die sportlichen
Gegner gesehen und dies auch entsprechend zum Ausdruck gebracht hat. Insoweit
erscheint es dem Gericht durchaus erklärbar, dass der Angeklagte das Glas beim
Ausgleichstreffer für die Türkei in die gegnerische Fanmenge geworfen hat.
Zudem haben die Zeugen, und übereinstimmend und jeweils glaubhaft bekundet, dass
sich die Geschädigten mit zahlreichen weiteren Zuschauern nicht direkt unterhalb des
Balkons des Angeklagten, sondern mindestens drei Meter schräg davon entfernt
befunden hätten. Dass der Angeklagte seine Biertulpe über die auf den vorgenannten
Videoausdrucken zu erkennende Balkonbrüstung über eine derartige Entfernung und
zudem seitlich lediglich hat fallen lassen, ist hiernach schlicht ausgeschlossen.
Das Gericht erachtet es als ebenso ausgeschlossen, dass der Angeklagte die Biertulpe
versehentlich aufgrund einer Jubelbewegung in Richtung der Geschädigten geworfen hat.
Zwar hat keiner der in der Hauptverhandlung vernommenen Zeugen Wahrnehmungen
zum Wurf an sich machen können. Lediglich der erst am … 1996 geborene Zeuge hat
insofern Angaben bei der Polizei machen können.
Das Gericht hat jedoch den Vater des Zeugen, den Zeugen, auch über die
Wahrnehmungen seines Sohnes als Zeugen vernommen. Einer derartigen Vernehmung
eines Zeugen vom Hörensagen steht nicht der Unmittelbarkeitsgrundsatz des § 250
StPO entgegen (BGHSt 17, 382, 384). Vielmehr ist die Frage, ob das Gericht den
Sachverhalt mit der für eine Verurteilung erforderlichen Wahrscheinlichkeit auch ohne
den – hier kindlichen – direkten Zeugen feststellen kann, gemäß § 244 Abs. 2 StPO zu
beantworten. Der Zeuge hat glaubhaft bekundet, sein Sohn habe ihm unmittelbar nach
dem Glaswurf spontan und emotional bewegt geschildert, dass er gerade die bereits
zuvor gemeinsam als aggressiv wahrgenommene Person dabei habe beobachten
können, wie sie zuerst das Bier aus der Tulpe in Richtung der Zuschauer geschleudert
und sodann das Glas nachgeworfen habe, welches eine Frau am Kopf verletzt und eine
blutende Wunde hinterlassen habe. Diese Schilderung habe sein Sohn in der Folgezeit
gleich bleibend wiederholt und so auch bei seiner polizeilichen Vernehmung
wiedergegeben. Anlässlich dieser Vernehmung habe er den Angeklagten auf einer
Wahllichtbildvorlage wiedererkannt. Zuvor habe er mit seinem Sohn über die Aussage
bei der Polizei gesprochen und ihm verdeutlicht, welche Folgen auch versehentlich
unrichtige Angaben für die Betroffenen haben könnten. Er solle lediglich angeben, was er
sicher gesehen habe und etwaige Unsicherheiten sofort als solche kennzeichnen. Er
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sicher gesehen habe und etwaige Unsicherheiten sofort als solche kennzeichnen. Er
habe mit seinem Sohn auch darüber gesprochen, ob die werfende Person das Glas
wirklich absichtlich geworfen habe, was immer wieder bejaht worden sei. Vom
Entwicklungsstand her könne sein Sohn durchaus unterscheiden, ob jemand einen
Gegenstand absichtlich wirft oder versehentlich fallen lässt.
Angesichts dessen, dass der Zeuge der einzige (bekannte) direkte Zeuge des Wurfs ist,
hat das Gericht seine Vernehmung für eine hinreichende Sachaufklärung für erforderlich
gehalten, § 244 Abs. 2 StPO. Als Erziehungsberechtigter des Zeugen hat sich der Zeuge
indes geweigert, seinen Sohn vor Gericht aussagen zu lassen. Da eine Aussetzung des
Verfahrens bis zum Erreichen eines Alters des Zeugen, in dem ein Widerspruch des
Vaters gegen die Vernehmung seinen Sohnes für das Gericht nicht mehr maßgeblich
gewesen wäre, mit dem Beschleunigungsgebot nicht vereinbar gewesen wäre, ist eine
Vernehmung des Zeugen in der Hauptverhandlung nicht in Betracht gekommen. Die
Zustimmung zur Ersetzung der Vernehmung des Zeugen durch Verlesung des
entsprechenden polizeilichen Vernehmungsprotokolls (§ 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO) ist durch
den Angeklagten und seinen Verteidiger verweigert worden. Da der Zeuge aufgrund der
geschilderten Weigerung seines Vaters in absehbarer Zeit jedoch nicht vernommen
werden konnte, hat das Gericht gemäß § 251 Abs. 1 Nr. 2 StPO durch mit Gründen
versehenen Beschluss angeordnet, dass die Vernehmung des Zeugen durch Verlesung
des entsprechenden polizeilichen Vernehmungsprotokolls ersetzt wird. Das darauf als
Urkunde verlesene polizeiliche Vernehmungsprotokoll vom 7. Juli 2008 hat die
Bekundungen des Zeugen hinsichtlich der Angaben seines Sohnes bestätigt.
Obwohl sich das Gericht keinen direkten persönlichen Eindruck vom Zeugen verschaffen
konnte, konnte es die Verurteilung gleichwohl auf dessen Angaben stützen, da der
Zeuge nachvollziehbar und überzeugend geschildert hat, warum er seinem Sohn
Glauben geschenkt hat. Aufgrund der geschilderten Reife des Zeugen und dessen gleich
bleibender Sachverhaltsschilderung auch nach eindringlicher Ermahnung zur Wahrheit
durch seinen Vater, ist auch das Gericht vom Wahrheitsgehalt der damaligen Angaben
des Zeugen überzeugt und erachtet einen versehentlichen Wurf des Angeklagten nicht
nur für lebensfremd, sondern ausgeschlossen. Zwar mag es sich bei der Beurteilung des
Zeugen, dass der Angeklagte die Tulpe nicht versehentlich geworfen habe, um eine –
jedoch nachvollziehbar auf Tatsachen gestützte – Wertung handeln. Insbesondere das
vorherige Ausgießen des Bieres stützt jedoch die Einschätzung des Zeugen.
Soweit sich das Gericht auf die Bekundungen der Zeugen, und bezieht, waren deren
Aussagen detailliert und sowohl in sich als auch untereinander stimmig.
Belastungstendenzen insbesondere der Geschädigten vermochte das Gericht nicht zu
erkennen. So waren die Aussagen der mit dem Angeklagten nicht bekannten Zeugen
frei von ersichtlichen Übertreibungen, Erinnerungslücken wurden freimütig eingeräumt.
IV.
Nach den getroffenen Feststellungen hat sich der Angeklagte wegen gefährlicher
Körperverletzung gemäß §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2 2. Var. StGB schuldig gemacht.
Aufgrund des festgestellten Sachverhalts handelte er nicht lediglich bewusst fahrlässig,
sondern zumindest mit Eventualvorsatz.
Zugunsten des Angeklagten hat das Gericht dessen Teilgeständnis und
Nachtatverhalten gewertet. Der Angeklagte hat unmittelbar nach der Tat versucht, die
Geschädigten namhaft zu machen und diese in der Hauptverhandlung um
Entschuldigung gebeten. Erheblich strafmildernd hat das Gericht zudem die
alkoholbedingte Enthemmtheit des Angeklagten berücksichtigt. Gegen den Angeklagten
sprachen indes seine einschlägigen Vorstrafen, wenngleich diese bereits länger
zurückliegende Taten betreffen.
Unter Abwägung sämtlicher für und gegen den Angeklagten sprechender Umstände
hielt das Gericht die erkannte Freiheitsstrafe von
sieben Monaten
für tat- und schuldangemessen.
Die Vollstreckung der Strafe konnte zur Bewährung ausgesetzt werden, da zu erwarten
stand, dass sich der Angeklagte insbesondere im Hinblick auf die erfolgte
Auseinandersetzung mit seiner Tat bereits die Verurteilung zur Warnung dienen lassen
und künftig auch ohne Einwirkung des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird
(§ 56 Abs. 1 StGB).
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V.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 465 StPO.
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