Urteil des AG Nauen vom 12.02.2005

AG Nauen: vernehmung von zeugen, gegenverkehr, vollstreckung, überholen, behinderung, verkehrsunfall, kollision, betriebsgefahr, gefährdung, sicherheitsleistung

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Gericht:
AG Nauen
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
12 C 63/05
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 7 StVG, § 17 Abs 1 S 1 StVG, §
18 Abs 3 StVG, § 5 Abs 3 Nr 1
StVO, § 5 Abs 4 StVO
Haftungsverteilung bei Verkehrsunfall: Kollision eines eine
Fahrzeugkolonne überholenden Motorradfahrers mit einem zum
Überholen ausscherenden Pkw
Tenor
1. Die Beklagten werden verurteilt, als Gesamtschuldner an die Klägerin 248,47 Euro
nebst fünf Prozent Zinsen über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 12.02.2005 zu
zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Von den Kosten des Rechtsstreits tragen die Klägerin 85 % und die Beklagten 15 %.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des
beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Vollstreckung
Sicherheit in gleicher Höhe leisten.
Die Beklagten dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des
beizutreibenden Betrages abwenden, wenn die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit
in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
Die Klägerin macht Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall geltend, der
sich am 22.11.2003 auf der L 20 von Falkensee in Richtung Schönwalde ereignet hat.
Die Klägerin ist Eigentümerin und Halterin des Motorrades der Marke Suzuki GS 500 E,
mit dem amtlichen Kennzeichen HVL ...
Die Beklagte zu 1. ist Halterin und Fahrerin des Fahrzeuges der Marke Daewoo,
amtliches Kennzeichen B ..., welches bei der Beklagten zu 2. haftpflichtversichert ist.
Der Zeuge F befuhr mit dem Motorrad der Klägerin zum Unfallzeitpunkt die L 20 von
Falkensee kommend in Richtung Schönwalde in einer Fahrzeugschlange.
Die Beklagte zu 1. befuhr mit ihrem Kraftfahrzeug die L 20 in gleicher Richtung vor dem
Zeugen F. Am Ausgang des Ortes Falkensee war eine Baustellenampel eingerichtet, vor
der sich eine Autoschlange gebildet hat. Kurz vor der Grünphase fuhr ein Lkw von dem
neben der linken Straßenseite befindlichen Gelände auf die rechte Fahrbahn und setzte
sich vor die Fahrzeugschlange.
Nachdem die Ampel auf grün schaltete, setzte sich die Fahrzeugschlange in Bewegung.
Als der Lkw seine Geschwindigkeit an einer Baustelle verlangsamte, wurde er von
mehreren Fahrzeugen, die vor der Beklagten zu 1. fuhren, überholt.
Die Beklagte zu 1. fuhr dann unmittelbar hinter dem Lkw, der zum Stillstand gekommen
war und beabsichtigte ebenfalls einen Überholvorgang einzuleiten. Der Zeuge F, der
seinerseits den Überholvorgang eingeleitet hatte, leitete eine Vollbremsung ein, um eine
Kollision mit dem von der Beklagten zu 1. geführten Fahrzeug zu vermeiden. Hierdurch
blockierte das Hinterrad des Motorrades, der Zeuge verlor die Kontrolle über das
Motorrad und stürzte.
An dem Motorrad entstand ein wirtschaftlicher Totalschaden.
Mit der vorliegenden Klage begehrt die Klägerin nunmehr vollen Ersatz des ihr
entstandenen Schadens in Höhe des Wiederbeschaffungswertes von 1.800,00 Euro, die
Kosten für die Erstellung eines Sachverständigengutachtens in Höhe von 321,32 Euro,
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Kosten für die Erstellung eines Sachverständigengutachtens in Höhe von 321,32 Euro,
nachdem die Beklagte zu 2. einen Betrag in Höhe von 187,83 Euro an die Klägerin
gezahlt hat.
Die Klägerin trägt vor, die vor dem Zeugen F fahrenden Kraftfahrzeuge hätten keinen
Versuch unternommen, den Lkw zu überholen. So habe sodann der Zeuge F zum
Überholen angesetzt.
Er habe den linken Blinker gesetzt, nachdem er sich davon überzeugt habe, dass kein
vorausfahrendes Kraftfahrzeug ebenfalls zum Überholen angesetzt habe und kein
Gegenverkehr in Sichtweite gewesen sei. Er sei dann auf die Überholspur ausgeschert
und habe das Motorrad auf die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h
beschleunigt.
Nachdem der Zeuge F bereits zwei Kraftfahrzeuge überholt gehabt habe, habe sich die
Beklagte zu 1. zum Überholen entschlossen. Dabei habe sich die Beklagte zu 1. nicht
versichert, ob die Überholspur frei sei, sie habe weder in den Rückspiegel noch über die
Schulter geschaut.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagten zu verurteilen, an sie gesamtschuldnerisch einen Betrag in Höhe
von 1.733,39 Euro nebst fünf Prozent Zinsen über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem
12.02.2005 zu zahlen.
Die Beklagten beantragen,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagten tragen vor, die Beklagte zu 1. habe das von ihr geführte Kraftfahrzeug
zunächst bis zur Straßenmitte gelenkt, um sich zu vergewissern, dass sich kein
Gegenverkehr nähere. Da Gegenverkehr zu sehen gewesen sei, habe sie diesen
zunächst passieren lassen. Als sie dann gesehen habe, dass kein Gegenverkehr
komme, habe sie sich durch Rückschau und Blick in den Rückspiegel vergewissert, dass
sie den Überholvorgang ohne Behinderung oder Gefährdung nachfolgender Fahrzeuge
habe einleiten können. Sie habe dann den linken Blinker gesetzt und zügig mit dem
Überholen des sehr langsam auf der rechten Fahrspur fahrenden und mit Füllsand
beladenen Lkws begonnen. Als das von ihr geführte Fahrzeug in Höhe des Fahrerhauses
des Lkws gewesen sei, habe sich die Beklagte bei einer Geschwindigkeit von ca. 60 - 70
km/h wieder nach rechts einordnen wollen, als es einen lauten Knall gegeben habe.
Die Beklagte zu 1. sei nach rechts an den Straßenrand gefahren und ausgestiegen.
Die Beklagte zu 1. habe sich bei der Durchführung des Überholvorganges
verkehrsgerecht verhalten.
Der Zeuge F habe den Unfall selbst verschuldet, da er bei unsicherer Verkehrslage und
mit überhöhter Geschwindigkeit überholt habe. Er habe mit dem Überholvorgang
begonnen, obwohl nicht zu übersehen gewesen sei, dass während des ganzen
Überholvorganges jede Behinderung des Gegenverkehrs ausgeschlossen sei. Auch habe
der Zeuge F erkannt, dass die ihm vorausfahrenden Fahrzeuge ebenfalls den Lkw
überholen wollten, und habe daher damit rechnen müssen, dass auch das nächste
Fahrzeug diesen überholen werde. Daher habe der Zeuge F den Unfall durch seine
eigene Unaufmerksamkeit beim Überholen, durch überhöhte Geschwindigkeit und
seinen Fahrfehler verursacht.
Das Gericht hat gem. Beweisbeschluss vom 06.04.2005 (Bl. 40 d. A.) sowie vom
24.06.2005 (Bl. 79 d. A.) Beweis erhoben durch Vernehmung von Zeugen.
Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die gerichtlichen
Niederschriften vom 06.04.2005 (Bl. 40 ff. d. A.), vom 11.08.2005 (Bl. 82 ff. d. A.) sowie
vom 03.11.2005 (Bl 102 ff. d. A.) verwiesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den
Parteien gewechselten Schriftsätze und auf die zu den Akten gereichten Unterlagen
Bezug genommen.
Die Akte der Staatsanwaltschaft Potsdam, Az.: 34 Owi 443 Js - Owi 8458/04 (157/04), lag
vor und war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
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Die Klage ist teilweise begründet.
Der Klägerin steht gegenüber den Beklagten als Gesamtschuldner ein
Schadensersatzanspruch in Höhe von 248,37 Euro gem. §§ 823 BGB, 7, 17, 18 StVG, 3
Pflichtversicherungsgesetz zu.
Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist das Gericht davon überzeugt, dass der
Verkehrsunfall vom 22.11.2003 auf der L 20 in Richtung Schönwalde sowohl auf ein
schuldhaftes Verhalten des Zeugen F, der das klägerische Motorrad führte, als auch der
Beklagten zu 1. zurückzuführen ist.
Unter Würdigung aller Umstände und bei Abwägung der beiderseitigen
Verursachungsbeiträge sowie unter Berücksichtigung der von den unfallbeteiligten
Fahrzeuge ausgehenden Betriebsgefahr, erachtet das Gericht eine Haftungsquote von
70 % (Zeuge F), zu 30 % (Beklagte zu 1.) als angemessen.
Die Beklagte zu 1. hat den Unfall schuldhaft herbeigeführt, weil sie zu einem Zeitpunkt
den Überholvorgang eingeleitet hat, zu welchem der Zeuge F mit dem von ihm
geführten klägerischen Motorrad sich bereits auf der Überholspur befunden hat.
Die Beklagte hat daher gegen die ihr nach § 5 StVO obliegenden Sorgfaltspflicht
verstoßen.
Nach § 5 Abs. 4 StVO muss derjenige Fahrzeugführer, der zum Zwecke des Überholens
ausscheren will, dies rechtzeitig und deutlich ankündigen und darüber hinaus durch eine
rechtzeitige und sorgfältige Rückschau eine Behinderung oder Gefährdung des
nachfolgenden Verkehrs verhindern.
Gegen die ihr als Ausscherende insoweit treffende äußerste Sorgfalt hat die Beklagte zu
1. verstoßen. Zwar ist im Ergebnis der Beweisaufnahme davon auszugehen, dass die
Beklagte ihre Absicht, den Überholvorgang einzuleiten, durch Setzen des linken Blinkers
angezeigt und sich zur Mittellinie eingeordnet hat, gleichwohl ist die Beklagte zu 1. auf
die Gegenfahrbahn ausgeschert, als sich das von dem Zeugen F geführte Motorrad
lediglich in einer Entfernung von 20 - 30 m hinter der Beklagten zu 1. befand.
So gab der Zeuge M. nachvollziehbar an, dass sich die Beklagte zu 1. auf der Hälfte der
Gegenfahrbahn befunden habe, als das von dem Zeugen F geführte Fahrzeug an ihm
vorbei gekommen sei. Da er sich mit dem von ihm geführten Kraftfahrzeug an vierter
oder fünfter Stelle hinter dem von der Beklagten zu 1. geführten Kraftfahrzeug befunden
habe, konnte der Zeuge angeben, dass sich das Motorrad ca. 20 - 30 m von dem von
der Beklagten zu 1. geführten Kraftfahrzeug entfernt befunden habe, als es an ihm
vorbeigefahren sei. Mithin ist nach den Bekundungen des Zeugen M. davon auszugehen,
dass die Beklagte zu 1. bei ordnungsgemäßer Erfüllung ihrer Rückschaupflicht den
Zeugen F, der bereits den Überholvorgang eingeleitet hat, hätte erkennen können und
müssen. Dies gilt umso mehr, als nach den Bekundungen des Zeugen M. die Strecke in
diesem Bereich auf eine Entfernung von 300 - 500 m gerade und daher auch gut
einsehbar ist.
Soweit die Beklagte zu 1. vor Einleitung des Überholvorganges nach den glaubhaften
Bekundungen des Zeugen P den linken Blinker setzt und in den linken Außenspiegel
geschaut hat, so ist unter Berücksichtigung der Bekundungen des Zeugen M., wonach
die Beklagte zu 1. zunächst bis an den Mittelstreifen herangefahren sei, kurz gestoppt
habe, und dann ausgeschert sei, davon auszugehen, dass die Beklagte zu 1. anlässlich
des nach dem Heranfahren an den Mittelstreifen eingeleiteten Überholvorganges ihrer
zweiten Rückschaupflicht nicht Genüge geleistet hat.
Nach alledem hat die Beklagte zu 1. durch ihr Verhalten den nachfolgenden Verkehr und
damit den Zeugen F gefährdet, so dass das Unfallereignis und damit der eingetretene
Schaden auf ihr schuldhaftes Verhalten zurückzuführen ist.
Dabei ist unerheblich, dass der Schaden nicht durch eine unmittelbare Kollision beider
Fahrzeuge eingetreten ist.
Die Klägerin muss sich jedoch gem. §§ 18 Abs. 3, 17 Abs. 1 Satz 2 StVG den von dem
Zeugen F gesetzten Ursachenbeitrag anrechnen lassen.
Zwar begründet alleine das Überholen der vor dem Zeugen F fahrenden
Fahrzeugkolonne noch kein Verschulden des Zeugen F, gleichwohl muss der Überholer
überblicken können, dass der gesamte Vorgang vom Ausscheren bis zum
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überblicken können, dass der gesamte Vorgang vom Ausscheren bis zum
Wiedereingliedern für einen durchschnittlichen Fahrer ohne irgend ein Wagnis gefahr-
und behinderungslos möglich sein werde. Danach verbietet gerade ein unklare
Verkehrslage gem. § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO jedes Überholen, wobei sich der Begriff der
unklaren Verkehrslage nicht nach dem Gefühl des Überholwilligen, sondern gerade nach
den objektiven Umständen richtet.
Nach diesen Grundsätzen ist eine unklare Verkehrslage insbesondere dann
anzunehmen, wenn sich der Vorausfahrende unklar verhält, indem er auffällig seine
Fahrtgeschwindigkeit verlangsamt, so dass sich nicht verlässlich beurteilen lässt, was der
Vorausfahrende jetzt zugleich tun werde.
Nach den Bekundungen des Zeugen M. hat die Beklagte zu 1. den linken Blinker gesetzt
und ist zunächst bis an den Mittelstreifen herangefahren. Nachdem sie dort kurz
gestoppt habe, sei sie dann ausgeschert und auf die Gegenfahrbahn gefahren. Diese
Bekundungen stehen im Einklang mit den Angaben des Zeugen F, der angab, dass er zu
dem Zeitpunkt, als er bereits zwei Fahrzeuge überholt gehabt habe, gesehen habe, dass
das von der Beklagten zu 1. geführte Kraftfahrzeug, welches sich unmittelbar hinter dem
Lkw befand, in Richtung Fahrbahnmitte ausgeschert, und sodann wieder nach rechts
gefahren sei. Mithin musste der Zeuge F nicht nur aufgrund des gesetzten linken
Blinkers, sondern auch aufgrund des Fahrverhaltens der Beklagten zu 1. davon
ausgehen, dass diese einen Überholvorgang einleiten wollte.
Angesichts des zögerlichen Verhaltens der Beklagten zu 1. bestand eine unklare
Verkehrslage, bei der der Zeuge F nicht verlässlich beurteilen konnte, was die Beklagte
zu 1. als Vorausfahrende zugleich tun werde. Vielmehr hätte sich der Zeuge F auch
unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Beklagte zu 1. sich unmittelbar hinter
einem stehenden Lkw befand, die Geschwindigkeit des von ihm geführten Motorrades
verringern und eine Gelegenheit zum Einscheren nach rechts suchen müssen.
Bei der Abwägung der beiderseitigen Schadensverursachungsbeiträgen und der
vorliegend zu berücksichtigenden Betriebsgefahr der unfallbeteiligten Fahrzeuge
erachtet das Gericht eine Haftungsquote von 70 % (Zeuge F), zu 30 % (Beklagte zu 1.),
als angemessen.
Die Klägerin kann demnach Ersatz von 30 % des ihr entstandenen Schadens gem. § 249
ff BGB beanspruchen.
Es ergibt sich folgendes Schadensbild:
Der geltend gemachte Zinsanspruch ist gem. §§ 286 ff BGB gerechtfertigt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit hat ihre Rechtsgrundlage in § 708
Nr. 11, 711 ZPO.
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