Urteil des AG Melsungen vom 05.07.2010

AG Melsungen: wohl des kindes, pflegeeltern, haushalt, wechsel, trennung, jugendamt, kindeswohl, wahrscheinlichkeit, alter, gutachter

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Gericht:
OLG Frankfurt 2.
Senat für
Familiensachen
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
2 UF 90/10
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Norm:
§ 1632 Abs 4 BGB
Anordnung des Verbleibens bei den Pflegeeltern aus
Gründen des Kindeswohls
Anmerkung
Ein Rechtsmittel ist nicht bekannt geworden.
Tenor
Die Beschwerde der Verfahrensbeteiligten zu 1) gegen den Beschluss des
Amtsgerichts Melsungen vom 3. März 2010 wird zurückgewiesen.
Das Beschwerdeverfahren ist gerichtsgebührenfrei; die Verfahrensbeteiligte zu 1)
hat die außergerichtlichen Kosten der übrigen Verfahrensbeteiligten zu erstatten.
Der Beschwerdewert wird auf 3.000 € festgesetzt.
Gründe
I.
X wurde am … 2005 als nichteheliches Kind der Verfahrensbeteiligten zu 1)
geboren. Möglicher Vater ist Y aus Stadt1. X blieb zunächst im Haushalt der
Mutter. Nachdem es zu ersten Schwierigkeiten bei der Erziehung des Kindes im
Haushalt der Mutter bzw. der Großmutter gekommen war, wurde das Kind Ende …
2006 vom Jugendamt des …-Kreises in Obhut genommen. In einer Anhörung vor
dem Amtsgericht Melsungen am … 2006 erklärte sich die Mutter bereit, einem
Erziehungshilfeangebot des Jugendamtes nachzukommen und wurde schließlich
im … 2006 in eine Mutter-Kind-Einrichtung in Stadt2 aufgenommen; zuvor war das
Kind in einer Bereitschaftspflegestelle untergebracht worden. Anfang … 2007
verließ die Mutter jedoch die Einrichtung und brach die Maßnahme ab. Ihren Sohn
ließ sie dort zurück, der wieder in einer Bereitschaftspflegestelle aufgenommen
und schließlich am … 2007 in der Pflegefamilie Z untergebracht wurde, wo er sich
bis heute befindet. In einem persönlichen Brief an das Jugendamt vom … 2007
begründete die Mutter ihren Schritt damit, dass sie mit ihrem Sohn nicht
klarkomme und keine feste Beziehung zu ihm aufbauen könne.
Eine Sorgerechtsübertragung durch eine gerichtliche Entscheidung hat nicht
stattgefunden.
Vielmehr kam es im Dezember 2007 zu einem von der Mutter veranlassten
Verfahren, gezielt auf Regelung des Umgangsrechtes und auf Durchführung eines
Vermittlungsverfahrens. In diesem Verfahren holte das Amtsgericht ein
kinderpsychologisches Gutachten über den Verbleib des Kindes und den Umgang
mit der Mutter ein. Der Sachverständige SV1 sprach sich in seinem Gutachten
vom 13. Februar 2009 dafür aus, das Kind in der Pflegefamilie zu belassen, vor
allem, weil die Bindung zwischen Mutter und Sohn nicht als besonders positiv, tief
und eng eingeschätzt werden könnten. Er empfahl die Fortführung von
Besuchskontakten, jedoch ohne eine Übernachtung.
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Im vorliegenden Verfahren streben die Pflegeeltern eine Verbleibensanordnung
gemäß § 1632 Abs. 4 BGB an.
Das Amtsgericht hat den Sachverständigen angehört und ihn sein Gutachten
mündlich erläutern lassen.
Durch den angefochtenen Beschluss, auf dessen Gründe zur Vermeidung von
Wiederholungen Bezug genommen wird, hat das Amtsgericht angeordnet, dass X
in der Pflegefamilie verbleibt.
Gegen diesen Beschluss wendet sich die Beteiligte zu 1) mit ihrer Beschwerde. Sie
beruft sich vor allem darauf, dass eine erneute Exploration durch den Gutachter
nötig gewesen wäre, da das Gutachten zum Zeitpunkt der mündlichen
Verhandlung vor dem Amtsgericht bereits über ein Jahr alt gewesen sei. Der
Sachverständige habe außerdem die Sachlage völlig verkannt, wenn er jetzt
empfehle, den Umgang wegen der Spannungsverhältnisse mit Pflegefamilie und
Jugendamt auszusetzen. Außerdem müsse besonders berücksichtigt werden, dass
sich ihre persönlichen Verhältnisse wesentlich stabilisiert hätten. Sie erziehe ein
weiteres Kind beanstandungsfrei. Die Verhaltensweisen, die ihr angelastet würde,
lägen mehr als … Jahre zurück. In diesem Zeitraum sei nichts vorgefallen, was ihr
auch nur ansatzweise anzulasten wäre. Sie habe seit mehr als zwei Jahren den
Versuch unternommen, die Beziehung zu X aufzubauen. Außerdem müsse
berücksichtigt werden, dass X bei ihr in einer intakten Ehe mit einem
Halbgeschwisterchen aufwachsen würde.
Sie strebt daher die Aufhebung der Verbleibensanordnung und die Herausgabe
des Kindes an sich an.
Die übrigen Verfahrensbeteiligten verteidigen den angefochtenen Beschluss.
II.
Die Beschwerde ist zulässig, in der Sache jedoch nicht begründet. Im Interesse des
Kindeswohles hat die Verbleibensanordnung zunächst weiter zu bestehen. Die
Voraussetzungen hierfür nach § 1632 Abs. 4 BGB sind immer noch gegeben.
Ebenfalls zur Vermeidung von Wiederholungen bezieht sich der Senat auf die
umfassende und überzeugende Begründung im angefochtenen Beschluss. Das
Amtsgericht hat erschöpfend und zutreffend die für die Verbleibensanordnung
maßgeblichen Erwägungen angestellt, durchaus gesehen, dass sich die
persönlichen Verhältnisse der Mutter verbessert haben, hält jedoch bei einer
Herausnahme des Kindes aus der Pflegefamilie, in der es jetzt … Jahre lebt, eine
Kindeswohlgefährdung für äußerst wahrscheinlich. Es hat sich damit an die
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 31. März 2010 (FamRZ 2010,
865) gehalten. In dieser Entscheidung wird betont, dass das Wohl des Kindes
immer den Richtpunkt bildet, so dass dieses bei Interessenkonflikten zwischen
dem Kind und seinen Eltern letztlich bestimmend sein muss. Wenn sich ein Kind
längere Zeit in einer Pflegefamilie befindet, gebietet es das Kindeswohl, die neuen
gewachsenen Bindungen des Kindes zu seinen Pflegepersonen zu berücksichtigen
und das Kind aus seiner Pflegefamilie nur herauszunehmen, wenn die körperlichen,
geistigen oder seelischen Beeinträchtigungen des Kindes als Folge der Trennung
von seinen bisherigen Bezugspersonen unter Berücksichtigung der
Grundrechtspositionen des Kindes noch hinnehmbar sind (BVerfG a.a.O.). Die
handelnden Personen haben vor der Herausnahme aus der Pflegefamilie eine
Prognose anzustellen, die im Einzelfall durchaus Schwierigkeiten bereiten kann. Sie
bleibt deshalb immer mit Unwägbarkeiten und Risiken behaftet. Die Rückführung
des Kindes zu seinen leiblichen Eltern kommt nicht mehr in Betracht, wenn unter
Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit nicht auszuschließen ist, dass die Trennung des Kindes von
seinen Pflegeeltern psychische oder physische Schädigungen nach sich ziehen
kann. Ein solches Risiko ist für das Kind nicht hinnehmbar (BVerfG a.a.O.). Die
Herausnahme aus dem Haushalt der Pflegeeltern ist eine Maßnahme, die für das
Kind von existenzieller Bedeutung für die Weiterentwicklung ist.
Das Amtsgericht hat diese Grundsätze zutreffend angewendet, indem es eine mit
hoher Wahrscheinlichkeit eintretende Gefährdung des Kindes durch ein Wechseln
in den Haushalt der Mutter gesehen hat. Es mag sein, dass sich die Einstellung der
Mutter zu ihrem Kind inzwischen grundlegend verändert hat, sie selbst ist älter
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Mutter zu ihrem Kind inzwischen grundlegend verändert hat, sie selbst ist älter
geworden und reifer und erzieht offenbar beanstandungsfrei ihr zweites Kind.
Allerdings hat sie dem Senat nichts Brauchbares auf die Frage sagen können, wie
sie sich denn den Wechsel in der Form, wie er beantragt ist, also von heute auf
morgen, vorstellen würde und was sie unternehmen würde, um dem Kind den
Wechsel zu erleichtern. Auf die Frage, wie sie sich verhalten würde, wenn das Kind
im Zusammenhang mit dem Wechsel oder danach zu weinen oder zu schreien
begänne, fiel ihr nur ein, sie würde das Kind in die Arme nehmen und zu trösten
versuchen.
Allerdings ist nach wie vor mit dem Gutachter SV1 davon auszugehen, dass eine
intensive Bindung zwischen Mutter und Sohn immer noch nicht besteht. Hierzu
hält der Senat die Einholung eines neuen Sachverständigengutachtens oder auch
nur eines Ergänzungsgutachtens des Sachverständigen nicht für erforderlich. Zum
einen ist das Gutachten im hiesigen Verfahren erstattet worden, denn dieses
Verfahren ist unmittelbar durch Verfügung des Amtsgerichts aus dem Verfahren
… hervorgegangen.
Auch stellt sich die Mutter offenbar vor, dass bei einem Wechsel des Kindes in
ihren Haushalt auch die über … Jahre hinweg gewachsenen Bindungen zur
Pflegefamilie abrupt unterbrochen werden sollen. Auch insofern stellt sie ihre
eigenen Interessen über das Wohl des Kindes, da es naturgemäß für sie belastend
ist, für Besuchskontakte zu den Pflegeeltern zu sorgen. Dies mag verständlich und
nachvollziehbar sein, trägt aber dem Kindeswohl nicht in ausreichendem Maße
Rechnung, wie dies von einer verantwortungsbewussten Mutter erwartet werden
könnte, zumal auch der Sachverständige die Aufrechterhaltung dieses Kontaktes
über eine gewisse Zeit für unabdingbar hält.
Allerdings konnte der Senat am Schluss des Anhörungstermins mit Erstaunen
feststellen, dass X sich spontan von seinen Pflegeeltern löste und auf die Mutter
zuging, um mit ihr Worte zu wechseln und ihr etwas zu zeigen. Hier war der
Eindruck zu gewinnen, dass doch noch Bindungen zu dem Kind vorhanden sind,
auch aus der Perspektive des Kindes, die möglicherweise noch vertieft werden
können.
Nach Auffassung des Senates bedeutet dies, dass die Umgangskontakte in der
Zukunft ausgeweitet werden müssen, auch eine Übernachtung bei der Mutter
sollte durchaus in Betracht gezogen werden. Die Pflegeeltern sollten hier
entgegenkommend Besuche unterstützen und auf X in positivem Sinne einwirken,
so dass er das Gefühl hat, dass die Besuche bei der Mutter von ihnen unterstützt
werden. Die bisherige Art und Weise, wie Umgangskontakte abgelaufen sind, war,
wie der Sachverständige SV1 ausgeführt hat, wenig kindgerecht. Auf Dauer wäre
dies auch nur dann zu vertreten, wenn ansonsten eine erhebliche
Kindeswohlgefährdung zu verzeichnen wäre. In diesem Zusammenhang ist darauf
hinzuweisen, dass die Mutter nach wie vor alleinige Sorgerechtsinhaberin ist und
die Pflegeeltern lediglich über die Befugnisse nach § 1688 Abs. 4 BGB verfügen, die
also die alltäglichen Entscheidungen in Erziehungsfragen betreffen. Zwar ist es
durchaus auffällig, wenn ein Kind in X Alter im Zusammenhang mit den
Besuchskontakten einkotet. Die Verfahrenspflegerin hat dies in der
Verabschiedungsphase beobachtet. Allerdings ist bislang offen geblieben, worauf
dies zurückzuführen ist, ob auf die Trennung von der leiblichen Mutter oder die
Rückkehr zu den Pflegeeltern. Fest steht jedenfalls, dass die bisherigen
Besuchssituationen für das Kind belastend waren. Dies bedeutet aber nicht, dass
Besuche einzustellen wären, dies ist nur in Ausnahmefällen möglich, sondern dass
alle Beteiligten sich bemühen müssen, auch die Mutter, die Spannungen, die
zwischen ihnen bestehen, vom Kind fernzuhalten. Das Kind hat ein Recht darauf,
aus Konflikten herausgehalten zu werden, weil es in seinem Alter damit noch nicht
fertig wird. Insofern hat auch die Mutter die Möglichkeit, ihre Erziehungsfähigkeit
praktisch unter Beweis zu stellen. Denn die vom Amtsgericht getroffene
Verbleibensanordnung, welche der Senat bestätigt, spiegelt lediglich den jetzigen
Zustand verbunden mit einer vorsichtigen Prognose wider, beansprucht aber nicht
Gültigkeit für die gesamte Kindheit und Jugend X.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 131 Abs. 3 KostO, 13 a Abs. 1 Satz 2 FGG.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.