Urteil des AG Mannheim vom 15.05.2009

AG Mannheim (fahrzeug, höhe, distorsion, schaden, wiederbeschaffungswert, aug, schmerzensgeld, vernehmung, führer, sicherheitsleistung)

AG Mannheim Urteil vom 15.5.2009, 3 C 7/08
Haftungsverteilung bei Kettenauffahrunfall: Beschränkte Geltung des Anscheinsbeweises zu Lasten des
Auffahrenden; Abwägung der Betriebsgefahren; Schadensschätzung; Schmerzensgeldbemessung für
HWS-Distorsion und Schädelprellung
Leitsätze
1. Bei einem Kettenauffahrunfall ist hinsichtlich des Frontschadens der Beweis des ersten Anscheins, der
Auffahrende habe sich unachtsam und verkehrswidrig verhalten, nur bedingt anwendbar. Der Führer des mittleren
Fahrzeugs muss beweisen, dass ihn der Hintermann auf den Vordermann aufgeschoben hat.
2. Für den Heckschaden ist i.d. R. von einer erhöhten Betriebsgefahr des mittleren Fahrzeugs auszugehen,
allerdings nur, wenn ein erheblicher Aufprall auf den Vordermann bewiesen ist. Ist der Frontschaden des mittleren
Fahrzeugs nur gericht, kommt es nicht zu einer Betriebsgefahrerhöhung.
3. Eine Schadensschätzung ist insgesamt dann vorzunehmen, wenn die ursächliche Beteiligung des zuletzt
Auffahrenden seinem Umfang nach nicht beweisen ist. Auszugehen ist vom Wiederbeschaffungswert des PKW
ohne Frontschaden. Bei der Schadensschätzung ist der quotale ANteil des Heckschadens am Gesamtschaden zu
ersetzen.
Tenor
1. Die Beklagten werden verurteilt, als Gesamtschuldner an die Klägerin 2.314,50 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5
Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus seit dem 08.12. 2007 zu zahlen.
2. Die Beklagten werden verurteilt, als Gesamtschuldner an die Klägerin vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in
Höhe von 272,87 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus seit dem
08.12.2007 zu zahlen.
3. Im übrigen wird die Klage abgewiesen.
4. Von den Kosten des Rechtsstreits tragen die Beklagten als Gesamtschuldner 69%, die Klägerin trägt 31%.
5. Das Urteil ist für die Klägerin gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 115% des zu vollstreckenden Betrages, für
die Beklagten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
Die Klägerin kann die Vollstreckung durch die Beklagte durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von
115% des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Vollstreckung Sicherheit in
gleicher Höhe leisten.
Tatbestand
1
Die Klägerin macht mit ihrer Klage Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall geltend.
2
Am 08.11. 2007 ereignete sich gegen 08.50 Uhr auf der ... Straße in X-Stadt ein Kettenauffahrunfall, an dem
drei Fahrzeuge beteiligt waren. Die Klägerin war Halterin und Fahrerin des mittleren Pkw, eines ... mit dem
amtlichen Kennzeichen …. Der Beklagte zu 1) war Führer des hinteren Pkw, eines ... mit dem amtlichen
Kennzeichen ..., welcher zum Unfallzeitpunkt bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversichert war.
3
An dem klägerischen Fahrzeug entstand aufgrund des Unfalls ein (Reparatur-)Schaden in Höhe von 6.504,62
EUR, der Wiederbeschaffungswert liegt bei 2.675 EUR, der Restwert beläuft sich auf 300.- EUR. Für den
Frontschaden sind dabei 1.644,77 EUR (netto), für den Heckschaden 3.678,08 EUR (netto) anzusetzen -
Abweichungen von der Endkalkulation des Gutachtens (5.466,07 EUR netto) werden dabei von beiden Seiten
nicht thematisiert und so akzeptiert. Gutachterkosten belaufen sich auf 546,45 EUR.
4
Zahlungen der Beklagten erfolgten nicht.
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Die Klägerin trägt zum Unfallhergang vor, sie habe aufgrund der Bremsung des vor ihr fahrenden Fahrzeugs
verkehrsbedingt gehalten und sei auch vor diesem Fahrzeug zum Stehen gekommen. Daraufhin sei der
Beklagte zu 1) auf das Fahrzeug der Klägerin aufgefahren und habe dieses auf den davor stehenden Pkw
aufgeschoben.
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Die Klägerin trägt weiter vor, sie habe aufgrund des Unfalls eine HWS-Distorsion sowie eine Schädelprellung
erlitten und sei in Folge dessen vom 9.11.2007 bis zum 14.11.2007 arbeitsunfähig gewesen.
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Sie ist der Auffassung, die Beklagten seien unter Einrechnung der Gutachterkosten und einer
Auslagenpauschale i.H.v. 20.- EUR zur Erstattung des gesamten entstandenen Schadens zzgl. eines
Schmerzensgelds i.H.v. mindestens 400.- EUR verpflichtet.
8
Die Klägerin beantragt daher,
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1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, 2.941,45 EUR zzgl. Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten
über dem Basiszinssatz seit dem 08.12.2007 zu zahlen,
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2. die Beklagten weiter gesamtschuldnerisch zu verurteilen, ein angemessenes Schmerzensgeld zzgl.
Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus seit dem 08.12.2007 zu zahlen,
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3. die Beklagten weiter gesamtschuldnerisch zu verurteilen, vorgerichtliche Anwaltskosten i.H.v. 359,50
EUR zzgl. Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus seit dem 08.12.2007 zu
zahlen.
12 Die Beklagten beantragen,
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die Klage abzuweisen.
14 Die Beklagten behaupten, die Klägerin sei bereits auf das vor ihr stehende Fahrzeug aufgefahren, bevor der
Beklagte zu 1) auf das klägerische Fahrzeug aufgefahren ist. Der Beklagte zu 1) habe das Auffahren aufgrund
der durch die abrupte Bremsung der Klägerin verursachten Bremswegverkürzung trotz einer sofort eingeleiteten
Bremsung nicht mehr verhindern können.
15 Aufgrund des geschilderten Unfalls träfe den Beklagten zu 1) an dem Frontschaden des klägerischen
Fahrzeugs keine Schuld, auch der Heckschaden sei nicht zu ersetzen, da der Bremsweg durch das
Fahrverhalten der Klägerin für den Beklagten Ziffer 1 verkürzt worden sei.
16 Zudem seien die Verletzungen der Klägerin nach dem Unfall entweder nicht vorhanden oder nicht unfallbedingt
gewesen.
17 Das Gericht hat bezüglich des Unfallhergangs Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen ... im Termin
vom 23.04.2009 sowie durch Einholung eines Gutachtens des Sachverständigen ..., gemäß Beweisbeschluss
vom 06.06.2008. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf den Inhalt des Sitzungsprotokolls vom
23.04.2009 (Blatt 178 ff.) und des schriftlichen Gutachtens (Blatt 104 ff., Blatt 137 ff.) verwiesen.
18 Bezüglich der Verletzungen der Klägerin hat das Gericht Beweis erhoben durch Vernehmung des Zeugen ….
Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf den Inhalt des Sitzungsprotokolls vom 12.03.2009 (Blatt
165 ff.) Bezug genommen.
19 Zum weiteren Parteivortrag wird auf die gewechselten Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen verwiesen.
Entscheidungsgründe
20 Die zulässige Klage ist lediglich teilweise begründet.
21 Die Klägerin hat gegen die Beklagten einen Anspruch auf Schadensersatz aus §§ 7, 11, 18 I StVG, 823 BGB,
115 I S. 1 Nr. 1 VVG, 1 PflVG.
22 Eine vollständige Einstandspflicht der Beklagten für das Unfallgeschehen besteht nicht, wobei bei dem hier
vorliegenden Kettenauffahrtunfall zwischen dem eingetretenen Frontschaden und dem Heckschaden zu
unterscheiden ist.
23 Frontschaden
24 Während grundsätzlich bei einem Auffahrunfall der Beweis des ersten Anscheins dafür spricht, dass der
Auffahrende sich unachtsam oder verkehrswidrig verhalten hat und dieser daher gegebenenfalls einen anderen
Unfallhergang beweisen muss, ist diese Regel bei einem Kettenauffahrunfall nur bedingt anwendbar.
25 Hier muss der Führer des mittleren Fahrzeugs, die Klägerin, bezüglich des Frontschadens an ihrem Pkw
beweisen, dass ihr Fahrzeug aufgrund des Auffahrens des Hintermannes auf das vordere Fahrzeug
aufgeschoben wurde, ein vorheriges Auffahren ausscheidet, der geltend gemachte Schaden somit auf das
Aufschieben durch das Beklagtenfahrzeug zurückzuführen ist.
26 Dieser Nachweis ist der Klägerin nicht gelungen.
27 Nach den Ausführungen in dem Gutachten des Herrn Dipl.-Ing. ... spricht zwar eine gewisse Wahrscheinlichkeit
dafür, dass der Unfall sich dem klägerischen Vortrag entsprechend zugetragen hat. Es kann jedoch auch nicht
ausgeschlossen werden, dass die Klägerin vor dem Auffahren des Beklagten zu 1) bereits leicht auf das
vordere Fahrzeug aufgefahren war (und hierdurch bereits ein Schaden entstand).
28 Dieser - auch mögliche - Geschehensablauf wird durch die Aussagen der Zeugen ... untermauert. Diese waren
Insassen des vorderen Fahrzeugs und gaben sowohl bei ihrer polizeilichen Vernehmung als auch bei ihrer
Zeugenaussage am 23.04.2009 - übereinstimmend und durchaus überzeugend - an, zwei verschiedene
Anstößen an ihrem Pkw gespürt zu haben.
29 Es ist dem Gericht aufgrund dieser Konstellation nicht möglich, die klägerische Unfallversion dem Urteil
zugrunde zu legen, vielmehr musste es zumindest offen bleiben, ob nicht doch die Klägerin vor dem
Aufschieben durch den Beklagten Ziffer 1 das Erstfahrzeug der Zeugen ... berührt hatte.
30 Da weder die Klägerseite dargestellt hat noch sich sonst aus den vorliegenden Unterlagen ergab, welcher Teil
des Frontschadens auf das mögliche erste Auffahren und welcher Teil auf das Aufschieben zurückzuführen
war, konnten auch Teile des vorhandenen Frontschadens nicht zugesprochen werden - ein Herausrechnen
und/oder eine Schätzung war (auch aufgrund des letztlich zumindest unklaren Sachverhalts im Frontbereich)
nicht möglich. Auch die "Entwicklung" des Wiederbeschaffungswertes nach dem ersten Frontschaden mußte
damit ungeklärt und offenbleiben.
31 Heckschaden
32 Das Gericht geht von einer vollständigen Einstandspflicht der Beklagten für den entstandenen Heckschaden
aus.
33 Zwar ist bei einem Kettenauffahrunfall für die Haftung des mittleren Fahrzeugs eine erhöhte Betriebsgefahr,
ggfs. auch ein Verschulden möglich, wenn das mittlere Fahrzeug den Bremsweg für das dritte Fahrzeug
erheblich verkürzt hat, jedoch ist vorliegend eine derartige Bremswegverkürzung nicht anzunehmen.
34 Aufgrund der Ausführungen im Gutachten des Dipl.-Ing. ... geht das Gericht davon aus, dass lediglich eine
leichte Berührung zwischen dem Fahrzeug der Zeugen ... und dem der Klägerin stattgefunden hat, wodurch die
Front des klägerischen Fahrzeugs allenfalls leicht beschädigt wurde.
35 Dieser (geringfügige) Anstoß war nicht geeignet, den Bremsweg für das nachfolgende Fahrzeug entscheidend
zu verkürzen - weitere (bremswegverkürzende) Umstände werden von Beklagtenseite nicht vorgetragen.
36 Dies wird auch durch die Aussagen der Zeugen ... nicht widerlegt, denn diese konnten bei ihrer Aussage zur
Intensität der Anstöße letztlich keine verlässlichen Angaben machen.
37 Ohne eine derartige Bremswegverkürzung bleibt es jedoch bei der vollen Einstandspflicht des Auffahrenden.
38 Schadenshöhe
39 Die Zahlen zum entstandenen Schaden sind zwischen den Parteien unstreitig. Danach ist von einem
Wiederbeschaffungswert i.H.v. 2.675.- EUR, einem Restwert i.H.v. 300.- EUR, einem Heckschaden i.H.v.
3.678,08 EUR und einem Frontschaden i.H.v. 1.644,77 EUR auszugehen. 69,10 % entfallen damit auf den
Heckschaden, 30,90 % auf den Frontschaden.
40 Unter Hinweis auf das Urteil des LG Berlin vom 07.11.2007 (AZ 24 O 744 / 05), dieses wiederum unter Hinweis
auf BGH NJW 1973, 1283 ist es in Fällen wie dem vorliegenden, in dem eine ursächliche Beteiligung des
Beklagten Ziffer 1 auch am Frontschaden unzweifelhaft angenommen werden kann, dessen genauer Umfang
jedoch nicht ermittelbar ist, möglich, den Schaden insgesamt zu schätzen.
41 Weder kann aufgrund des engen zeitlichen Zusammenhangs zugunsten der Klägerin eine genaue Aufgliederung
und Trennung der Schäden erfolgen, noch kann etwa die Beklagtenseite beweisen, dass bereits der erste
Frontanstoß zu einem Totalschaden des Klägerfahrzeugs geführt hat (so die Konstellation der Entscheidung
des LG Berlin; was angesichts der mitgeteilten Werte eher unwahrscheinlich sein dürfte), noch wie sich der
Wiederbeschaffungswert bzw. Restwert nach dem ersten Frontanstoß entwickelt hat.
42 Für die Schätzungsgrundlagen darf dabei auf den Wiederbeschaffungswert vor Eintritt auch des Frontschadens
ausgegangen werden; dieser beläuft sich auf 2.675.- EUR. Die Klägerin kann 69,10 % dieses Schadens ersetzt
verlangen, somit 1.848,43 EUR (bei der angenommenen vollen Einstandspflicht der Beklagten für den
Heckschaden) abzgl. Restwert i.H.v. 300.- EUR, somit im Ergebnis 1.548,43 EUR.
43 Nachdem die Klägerin somit 65,20 % ihres Schadens erhält, waren mit dieser Quote auch die
Sachverständigenkosten (546,45 EUR) und die Auslagenpauschale (15.- EUR) zuzusprechen, somit weitere
366,07 EUR.
44 Schmerzensgeld
45 Die Klägerin hat gegen die Beklagten einen Anspruch auf Schmerzensgeld in Höhe von 400.- EUR.
46 Das Gericht sieht es als erwiesen an, dass die Klägerin aufgrund des Unfalls eine HWS-Distorsion sowie eine
Schädelprellung davongetragen hat und in Folge dessen vom 09.11.2007 bis zum 13.11.2007 arbeitsunfähig
war. Dies wird zum einen durch die Bescheinigungen der Ärzte ..., bei welchem die Klägerin noch am Unfalltag
vorstellig wurde, attestiert, zum anderen hat der Zeuge ... die nach dem Unfall verletzungsbedingt schlechte
körperliche Verfassung der Klägerin überzeugend bestätigt. Die Angaben des Zeugen deckten sich dabei in den
wesentlichen Punkten mit den informatorischen Angaben der Klägerin, ohne dabei abgesprochen oder gar
erfunden zu wirken.
47 Entgegen der Auffassung der Beklagten ist eine HWS-Distorsion mit Schädelprellung und einer daraus
resultierenden Arbeitsunfähigkeit nicht mehr als Bagatellverletzung anzusehen. Ein Schmerzensgeld in Höhe
von 400.- EUR ist angemessen.
48 Dabei ist von einer vollständigen Einstandspflicht der Beklagten auszugehen. Der erste Frontaufprall war
geringfügig und hat damit nach Überzeugung des Gerichts noch nicht zu einer HWS-Distorsion geführt. Diese
kann allein und ausschließlich dem Heckaufprall zugeordnet werden, für den eine vollständige Einstandspflicht
der Beklagten zu bejahen war.
49 Ergebnis
50 Insgesamt ergibt sich somit ein Anspruch der Klägerin gegen die Beklagten auf Zahlung von 2.314,50 EUR.
51 Aus diesem Streitwert errechnete sich auch die von Beklagtenseite zu ersetzende 1,3-Anwaltsgebühr i.H.v.
272,87 EUR.
52 Die Nebenentscheidungen ergeben sich aus §§ 280, 286, 288 I BGB, 92 I, 709 ZPO.