Urteil des AG Lübben vom 14.03.2017

AG Lübben: fahrzeug, messgerät, dokumentation, messung, fahrbahn, hut, verdacht, verwechslung, hersteller, foto

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Gericht:
AG Lübben
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
40 OWi 1321 Js
2018/10 (58/10), 40
OWi 58/10
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Norm:
§ 3 StVO
(Verkehrsordnungswidrigkeitenverfahren: Verwertbarkeit einer
Geschwindigkeitsmessung mit dem Messgerät ES 3.0 bei nicht
nachvollziehbarer Kennzeichnung der Fotolinie)
Tenor
1. Die Betroffene wird freigesprochen.
2. Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen der Betroffenen fallen der
Landeskasse zur Last.
Gründe
I.
Das Gericht kann durch Beschluss gemäß § 72 OwiG entscheiden, dass es eine
Durchführung der Hauptverhandlung für nicht erforderlich erachtet.
Die Staatsanwaltschaft hat in ihrer Abgabeverfügung einer Entscheidung im Beschluss
nicht widersprochen. Der Die Betroffene musste auf die Möglichkeit der Entscheidung
durch Beschluss gemäß § 72 OWiG nicht hingewiesen werden, da er sie freigesprochen
wird (§ 72 Abs. 1 Satz 3 OWiG).
II.
Mit Bußgeldbescheid vom 18.11.2009 wird der Betroffenen durch den Zentraldienst der
Polizei (Zentrale Bußgeldstelle) in G… vorgeworfen, am 08.09.2009 um 16.18 Uhr auf
der BAB … in Höhe des Kilometers 5,4 in Fahrtrichtung der Anschlussstelle V… die
zulässige Höchstgeschwindigkeit um 21 km/h überschritten zu haben.
Ausweislich des Messprotokolls vom Tattage wurde ein Geschwindigkeitsmessgerät des
Typs ES 3.0 verwandt.
Dieses Messgerät stellt die vom gemessenen Fahrzeug gefahrene Geschwindigkeit
dadurch fest, dass das betreffende Fahrzeug mehrere Lichtschranken in Höhe des
Sensorkopfes des Messgerätes durchfährt. Der Sensorkopf wird parallel zur Fahrbahn
aufgestellt und aus den im rechten Winkel über die Fahrbahn verlaufenden
Lichtschranken ergibt sich die Messlinie (in Höhe Sensorkopf-Mitte). Die sogenannte
„Fotolinie" befindet sich 3 m hinter der Messlinie aus Fahrtrichtung des zu messenden
Fahrzeuges gesehen.
Das Messgerät ES 3.0 löst nach einem festgestellten Geschwindigkeitsverstoß die
Fotodokumentation erst mit Verzögerung aus. Die Fotolinie, welche sich ca. 3 m hinter
der Messlinie befindet, und auf die die Kamera auszurichten ist, soll daher sicherstellen,
dass das gemessene Fahrzeug hinreichend deutlich fotografisch dokumentiert wird.
Dies ermöglicht eine klare Zuordnung der Messung zu einem Fahrzeug, wenn mehrere
Fahrzeuge in kurzem Abstand die Messlinie passieren. Das gemessene Fahrzeug
befindet sich dann in der sogenannten „logischen Fotoposition". Diese ergibt sich aus
der Fotolinie, der Position des abgebildeten Fahrzeuges und der gemessenen
Geschwindigkeit.
Bei der Überprüfung der logischen Fotoposition kann somit nicht nur festgestellt werden,
welchem Fahrzeug ggf. eine Geschwindigkeitsüberschreitung zuzuordnen ist, sondern
auch, anhand der Fahrzeugposition im Verhältnis zur Fotolinie, ob die durch das
Messgerät ermittelte Geschwindigkeit schlüssig ist.
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In der Bedienungsanleitung zu dem Messgerät ES 3.0 heißt es,
[...] 8.2.3 Fotolinie
für eine sichere Auswertung wird eine Dokumentation der Fotolinie an der Messstelle
benötigt.
Die Fotolinie ist eine gedachte Linie quer zur Fahrbahn und befindet sich ca. 3 m in
Fahrtrichtung hinter dem Sensorkopf (Sensorkopfmitte). Die Stelle an der sich diese
Linie befindet, ist nachvollziehbar gekennzeichnet (Leitkegel, Reflexfolie, Kreidestriche,
Spraydose o.ä.) und fotografisch als Fotolinie mindestens in einem Foto zu Beginn der
Messung dokumentiert worden […]
Nach Inaugenscheinnahme der im vorliegenden Verfahren durch die Bußgeldbehörde
beigefügten „Fotoliniendokumentation" (Bl. 22 d. A.) muß festgestellt werden, dass die
dort als Fotolinie bezeichnete Linie lediglich durch ein sogenanntes „Lübecker Hütchen"
am äußeren Fahrbahnrand gekennzeichnet ist. Da eine Linie notwendigerweise aus 2
Punkten besteht, im vorliegenden Fall jedoch nur ein Punkt der Linie, nämlich der am
äußeren Fahrbahnrand sich befindliche, erkennbar abgebildet ist, ist der Verlauf der
Fotolinie gänzlich unklar. Die Fotolinie ist jedoch ein unverzichtbares Element zur
Überprüfung der Ordnungsgemäßheit der Geschwindigkeitsmessung durch das
Messgerät vom Typ ES 3.0.
Da im vorliegenden Fall die vom Hersteller in seiner Bedienungsanleitung geforderte
„nachvollziehbare" gekennzeichnete Fotolinie fehlt, ist anhand der durch die
Verwaltungsbehörde vorgelegten Beweismittel nicht klar erkennbar, ob es sich bei dem
gemessenen Fahrzeug tatsächlich um das Betroffenenfahrzeug handelt und ob die
gemessene Geschwindigkeit im Einklang mit der Fotodokumentation vom
Betroffenenfahrzeug steht.
Eine Schlüssigkeitsprüfung der Messung ist dem Gericht daher verwehrt.
Erschwerend kommt insofern hinzu, dass aus der hier vorliegenden unzulänglichen
Fotoliniendokumentation nicht einmal erkennbar wird, ob bei dieser Dokumentation
überhaupt der Bereich abgebildet worden ist, durch den an irgendeiner Stelle die
Fotolinie verläuft, oder ob es sich stattdessen nicht tatsächlich um eine
„Messliniendokumentation" handelt.
Die zusätzliche Dokumentation der Messlinie, welche beim Vorgängermodel des hier
verwandten Messgerätes, dem Messgerät Typ ES 1.0, regelmäßig durchgeführt wurde,
ist für das Nachfolgemodell ES 3.0 vom Gerätehersteller nicht mehr vorgeschrieben.
Gleichwohl wäre die ordnungsgemäße Dokumentation beider Linien, also der Mess- und
der Fotolinie, bei der Auswertung der Messung sehr hilfreich, da auf diese Weise
Fehldokumentationen unter Verwechslung von Foto- und Messlinie verhindert werden
könnten.
Der Verdacht von solchen Fehldokumentationen, unter Verwechslung von Fotolinie und
Messlinie, liegt nahe, da in zahlreichen Fällen gleichartiger mangelhafter Dokumentation
zu beobachten ist, dass die „Fotoliniendokumentation", welche nur durch
Vorhandenseins eines Endpunkts gekennzeichnet ist (der ausschließlich durch einen
einzigen „Lübecker Hut" markiert wird ) vielfach nicht identisch sind, mit auf der
Fahrbahn angebrachten, quer zum Fahrbahnverlauf sich befindlichen Farbmarkierungen.
Vielmehr befinden sich diese Lübecker Hütchen regelmäßig in Fahrtrichtung vor den
vorerwähnten Fahrbahnmarkierungen, so dass sich der Verdacht aufdrängt, dass hier
nicht, wie vorgeschrieben, die Fotolinie, sondern die Messlinie dokumentiert ist.
So gelangt in dem Verfahren des Amtsgerichts Lübben 40 OWi 321/09 der
Sachverständige der DEKRA R…, bei dem Versuch der Rekonstruktion der Fotolinie, in
seiner sachverständigen Stellungnahme vom 2.11.2009 zu dem Ergebnis:
[…] wird hier nur die Fahrzeugfront des betroffenen Fahrzeugs zur Hilfe genommen
und diese dann mit dem entsprechenden Lübecker Hütchen verbunden, muss aus
hiesiger Sicht bezweifelt werden, ob der Lübecker Hut tatsächlich die Fotolinie darstellt.
Hierbei ist zu vermuten, dass der Lübecker Hut die Messlinie, welche sich 3 m vor der
Fotolinie befindet, darstellt[…]
Dem vorerwähnten Verfahren liegt ein Frontfoto zugrunde, auf welchem nur ein einziges
Fahrzeug abgebildet ist und die „Fotoliniendokumentation" wiederum nur mittels eines
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Fahrzeug abgebildet ist und die „Fotoliniendokumentation" wiederum nur mittels eines
Lübecker Hütchens vorgenommen wurde, ohne dass ein weiterer Punkt der Linie
erkennbar wäre.
Unter solchen Umständen ist eine sichere Zuordnung der Messung zu einem ganz
speziellen Fahrzeug nicht mehr möglich. Es wird hierdurch vielmehr die Möglichkeit
eröffnet, dass ein gänzlich anderes Fahrzeug, welches gerade die Messlinie passiert,
abgebildet worden ist, während das tatsächlich gemessene Fahrzeug sich bereits
außerhalb des Bereiches der Fotodokumentation befindet.
Da bereits bei der Umsetzung der vom Hersteller vorgeschriebenen
verfahrensgegenständlichen Fotoliniendokumentation gravierende Mängel aufgetreten
sind, gleichwohl jedoch der Messbeamte im Messprotokoll bestätigt, dass die
Geschwindigkeitsmessanlage entsprechend der Zulassung und Gebrauchsanweisung
des Herstellers zur Anwendung gebracht wurde, begründet dies auch Zweifel an der
sonstigen Ordnungsgemäßheit der Aufstellung und Anwendung des Messgerätes durch
den Messbeamten.
Diese Zweifel, neben der unzulänglichen Dokumentation und der dadurch vereitelten
Plausibilitätsbetrachtung, lassen eine für die Verurteilung der Betroffenen hinreichende
Überzeugung des Gerichtes von der Richtigkeit des Tatvorwurfes nicht mehr zu.
Insofern ist es auch ohne Belang, ob die Betroffene den Verkehrsverstoß eingeräumt
hat, da nicht geklärt ist, ob es sich dabei um den verfahrensgegenständlichen Verstoß
handelt.
Die Betroffene war daher freizusprechen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 446 OWiG i. V. m. 467 Abs. 1.
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