Urteil des AG Frankfurt am Main vom 24.10.2008

AG Frankfurt: abreise, abschiebungshaft, jugendamt, unterbringung, rechtssicherheit, pfleger, einreise, bewegungsfreiheit, asylverfahren, behörde

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Gericht:
AG Frankfurt
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
934 XIV 1877/08
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 15 Abs 5 S 1 AufenthG 2004,
§ 15 Abs 5 S 3 AufenthG 2004,
§ 15 Abs 6 S 3 AufenthG 2004,
§ 15 Abs 6 S 5 AufenthG 2004,
§ 62 Abs 3 AufenthG 2004
(Ausländerrecht - Zurückweisungshaft gem § 15 Abs 6
AufenthG - Minderjährige unter 16 Jahren -
Verhältnismäßigkeit - Haftanordnung - Sicherung der
Abreise)
Leitsatz
Die Anordnung von Zurückweisungshaft oder des Aufenthaltes nach § 15 Abs. 6
AufenthG kommt bei Minderjährigen unter 16 Jahren regelmäßig schon deshalb nicht in
Betracht, weil sie zur Erreichung des Zwecks nicht erforderlich und deshalb
unverhältnismäßig ist.
Tenor
In dem Freiheitsentziehungsverfahren … wird der Antrag vom 24.10.2008 auf
Anordnung der Unterbringung zur Si-cherung der Abreise gemäß § 15 Abs. 6
AufenthG zurückgewiesen.
Die Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei, Auslagen werden nicht erstattet.
Gründe
Die 12 Jahre alte Betroffene ist (…) Staatsangehörige. Sie traf am 28.09.2008 (…)
aus (…) kommend am Flughafen … zusammen mit zwei weiteren (…) Kindern
sowie einer (…) Frau, welche sich fälschlich als deren Mutter ausgab und
verfälschte bzw. missbräuchlich genutzte (…) Reisedokumente vorlegte, ein. Die
Betroffene, die zu ihrer legal in (…) lebenden Mutter weiterreisen wollte, stellte am
30.09.2008 einen Asylantrag. Da für die Durchführung des Asylverfahrens gemäß
dem Dubliner Übereinkommen (…) zuständig ist, wurde der Betroffenen die
Einreise verweigert. Sie hält sich in Absprache mit dem Jugendamt (…) unter
Fiktion der Nichteinreise im (…) Kinderheim in (…) auf. Mit Beschluss des
Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 29.09.2008 wurde das Jugendamt (…) zum
vorläufigen Pfleger und Rechtsanwalt (…) zum Pfleger für den Wirkungskreis der
ausländer- und asylrechtlichen Betreuung bestellt.
Die (…) hat beantragt, gegen die Betroffene die Unterbringung zur Sicherung der
Abreise gemäß § 15 Abs. 6 AufenthG für die Dauer von drei Monaten anzuordnen
und zur Begründung unter anderem ausgeführt, die Anordnung solle die
Verfügbarkeit der Betroffenen zur Sicherung der Abreise herstellen und den
handelnden Behörden Rechtssicherheit im Umgang mit der Bewegungsfreiheit der
Betroffenen geben; andernfalls werde das vom Gesetz vorgesehene Verfahren zur
Prüfung der Zuständigkeit für das Asylverfahren de facto unterlaufen. Auch sei die
Qualität des Rechtseingriffs mit der Anordnung von Abschiebungshaft nicht
vergleichbar.
Der Antrag ist zulässig, aber unbegründet.
Zwar liegen die Gründe für eine Anordnung nach § 15 Abs. 6 Satz 2 bis 5 iVm. § 15
Abs. 5 Satz 1 AufenthG vor. Der Betroffenen ist gemäß § 18 Abs. 2 Nr. 2 AsylVfG
die Einreise verweigert worden. Die Zurückweisungsentscheidung kann nicht
unmittelbar vollzogen werden, weil das förmliche Übernahmeverfahren noch nicht
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unmittelbar vollzogen werden, weil das förmliche Übernahmeverfahren noch nicht
abgeschlossen ist und eine Zusage der (…) Behörden zur Übernahme der
Betroffenen noch nicht vorliegt. Die Abreise der Betroffenen ist jedoch in
absehbarer Zeit zu erwarten. Auch das Asylbegehren steht der Anordnung des
Aufenthalts nicht entgegen, da für die Durchführung des Asylverfahrens nach Art.
6 Abs. 1 EG-AsylZustVO (…) zuständig ist (vgl. § 27a AsylVfG).
Gleichwohl kommt die beantragte Anordnung des Aufenthalts gegen die erst zwölf
Jahre alte Betroffene im vorliegenden Fall nicht in Betracht, weil sie
unverhältnismäßig wäre. Daran ändert auch nichts, dass der Aufenthalt nicht in
einer Haftanstalt und auch nicht in der Asylbewerberunterkunft am Flughafen (…),
sondern in einem (…) Kinderheim angeordnet werden soll.
Es erscheint bereits zweifelhaft, ob gegen Personen unter 16 Jahren überhaupt
eine Anordnung nach § 15 Abs. 6 AufenthG zulässig ist. Nach den vorläufigen
Anwendungshinweisen zu § 62 AufenthG, die gemäß §§ 15 Abs. 6 Satz 5, Abs. 5
Satz 3, 62 Abs. 3 AufenthG auch auf Anordnungen nach § 15 Abs. 6 AufenthG
Anwendung finden, sollen Minderjährige, die das 16. Lebensjahr noch nicht
vollendet haben, grundsätzlich nicht (außer bei Straffälligkeit) in Abschiebungshaft
genommen werden; halten sich die Eltern des unter 16 Jahre alten Ausländers –
wie hier – nicht im Bundesgebiet auf, hat die Ausländerbehörde (…) mit dem
zuständigen Jugendamt wegen der Unterbringung des Ausländers Kontakt
aufzunehmen. Gegen eine Anordnung des Aufenthalts gegen Jugendliche unter 16
Jahren spricht im übrigen auch, dass diese gemäß § 80 Abs. 1 AufenthG nicht
verfahrensfähig sind und die mangelnde Handlungsfähigkeit eines Minderjährigen
nach § 80 Abs. 2 Satz 1 AufenthG zwar seiner Zurückweisung und
Zurückschiebung nicht entgegensteht, das Gesetz dies aber nicht in gleicher
Weise für die Anordnung von Zurückweisungshaft oder des Aufenthalts vorsieht.
Letztlich kann diese Frage jedoch offen bleiben, da die Anordnung von Haft oder
des Aufenthaltes bei Minderjährigen unter 16 Jahren regelmäßig schon deshalb
nicht in Betracht kommt, weil sie zur Erreichung des Zwecks nicht erforderlich und
deshalb unverhältnismäßig ist.
Grundsätzlich kommt bei minderjährigen Ausländern der Anordnung von
freiheitsentziehenden Maßnahmen zur Sicherung der Zurückweisung wegen deren
besonderer Schutzbedürftigkeit und der Schwere des Eingriffs ganz besondere
Bedeutung zu. In einem solchen Fall sind daher sowohl an das
Beschleunigungsgebot als auch an die Verhältnismäßigkeit besondere
Anforderungen zu stellen. Die Voraussetzungen für eine Haftanordnung sind daher
nicht gegeben, wenn die Ausländerbehörde in ihrem Haftantrag nicht darlegt,
warum ein milderes Mittel als Haft zur Sicherung der zwangsweisen Ausreise oder
Zurückweisung nicht in Frage kommt (vgl. OLG Frankfurt, Beschluss vom
15.05.2006 – Az. 20 W 124/06 – m. w. N., zit. nach juris). Entsprechendes gilt für
eine Anordnung des Aufenthalts nach § 15 Abs. 6 AufenthG.
Eine Anordnung nach § 15 Abs. 6 darf, wie sich aus § 15 Abs. 6 Satz 3 AufenthG
ergibt, nur ergehen, wenn dies zur Sicherung der Abreise erforderlich ist (vgl. zur
Anordnung von Abschiebungshaft allgemein: OLG Schleswig, FGPrax 2008, 92;
OLG Rostock, OLGR 2007, 367; jew. zit. nach juris; Renner, a. a. O.). Sie dient damit
weder dem Zweck, die Fiktion der Nichteinreise aufrechtzuerhalten, noch dazu,
den handelnden Behörden Rechtssicherheit im Umgang mit der Bewegungsfreiheit
des Betroffenen zu geben oder das Verfahren zur Prüfung der Zuständigkeit für
das Asylverfahren sicherzustellen.
Anhaltspunkte dafür, dass die Anordnung im vorliegenden Fall erforderlich ist, um
die Abreise der Betroffenen sicherzustellen, sind nicht ersichtlich. Die zwölfjährige
Betroffene hält sich bereits im (…) Kinderheim auf, ohne dass es bislang zu
„Fluchtversuchen“ gekommen wäre. Sie ist dort jederzeit für die antragstellende
Behörde erreichbar, um eine Abreise nach (…) durchzuführen. Es ist auch nicht
ersichtlich, dass sie sich in einem für sie völlig fremden Land aus der Obhut des
Kinderheimes begeben wird, zumal ihr Interesse erkennbar darauf gerichtet ist,
schnellstmöglich zu ihrer Mutter nach (…) zu gelangen. Auch die antragstellende
Behörde selbst geht in ihrem Antrag erkennbar davon aus, dass es sich bei der
Möglichkeit, dass sich die Betroffene frei im Bundesgebiet bewegen könnte, um
eine lediglich theoretische handelt.
Unter diesen Umständen kam eine Anordnung des Aufenthalts daher nicht in
Betracht. Die Kosten- und Auslagenentscheidung folgt aus den §§ 14 ff. FEVG.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.