Urteil des AG Essen vom 03.04.2010

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Amtsgericht Essen, 18 C 462/07
Datum:
03.04.2010
Gericht:
Amtsgericht Essen
Spruchkörper:
Abt. 18 C
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
18 C 462/07
Tenor:
Der Beklagte wird verurteilt, der Klägerin die folgend näher bezeichnete
Pflegedokumentation betreffend den Aufenthalt von Frau F, geboren am
..., im Pflegeheim L-Seniorenzen¬trum in X für die Zeit vom 01.08.2006
bis einschließlich 30.11.2006 zur Einsichtnahme in Kopie zu
übermitteln:
Stammblatt Erfassung der persönlichen Stammdaten,
Diagnoseblatt Erfassung ärztlicher und pflegerischer Di-
agnosen,
Biographie/Anamnese Erfassung der Pflegeanamnese und biogra-
fischer Daten, orientiert an den AEDL`s,
Pflegeprofil Erfassung des Pflegezeitbedarfs,
Demenzerfassung Einschätzung der Alltagskompetenz,
MMST-Ermittlung,
Pflegeplanung Problemerfassung , Zielformulierung, Maß-
nahmenplanung, Auswertung,
Berichtsblätter Erfassung aktueller Vorkommnisse,
Mobilisation Mobilisierungsmaßnahmen,
Wundmanagement schriftliche Erfassung und Fotodokumenta-
tion, Verlaufsbericht,
Dekubitusrisikoeinschätzung anhand der
Bradenskala,
Ärztliche Verordnung Medikation, ärztliche Anordnungen etc.,
Kontingenzplanung Kontinenztraining, Bedarf an Inkomaterial
etc.
Nachweislisten/Protokolle HZ Listen, Ernährungsprotokoll, Sturzproto-
koll, Trinkprotokoll etc. .
Der Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
Das Urteil ist für die Klägerin gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110
% des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar
Tatbestand:
1
Die Klägerin macht im vorliegenden Rechtsstreit gegen den Beklagten als Träger des L-
Seniorenzentrums in X einen Anspruch auf Übermittlung der Pflegedokumentation in
Kopie betreffend die bei ihr krankenversicherte F geltend.
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Nach Angabe der Klägerin dient dieser als Auskunfts- und Herausgabeanspruch zu
qualifizierende Anspruch in erster Linie der Durchsetzung eines
Schadenersatzanspruchs gegen den Beklagten, da die Pflege der versicherten Frau F
nach Auffassung der Klägerin nicht dem pflegerischen Standard entsprach.
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Die bei der Klägerin versicherte F erhält seit einigen Jahren vollstationäre
Pflegeleistungen im L-Seniorenzentrum in X. Seit Jahren hat dabei die Versicherte die
Pflegestufe 3, da sie schwerstpflegebedürftig war und ist.
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Seit den 90-er Jahren bestehen schwere Einschränkungen insbesondere im Stütz- und
Bewegungsapparat unter anderem eine Hämiplegie links, ferner eine unzureichende
Rumpf- und Kopfkontrolle. Lageveränderungen im Bett vermochte die Versicherte nur
noch mit personeller Hilfe vorzunehmen. Darüber hinaus gibt es schwere
Einschränkungen der inneren Organe wie zum Beispiel Harn- und Stuhlinkontinenz,
PEG-Anlage wegen Schluckstörungen, Dauerkatheter. Weiterhin war und ist die
Versicherte zum Ort, zur Zeit und zur Person desorientiert. Vor diesem Hintergrund war
und ist die Versicherte auf eine vollständige Übernahme sämtlicher pflegerischer
Verrichtungen angewiesen. Diese Pflegeleistungen wurden und werden der
Versicherten in dem von dem Beklagten betriebenen L-Seniorenzentrum in X erbracht.
5
Die Versicherte wurde am 21.11.2006 wegen eines Sakraldekubitus stationär im
Bergmannsheil in C aufgenommen. Die infolge des Durchliegegeschwürs entstandenen
Aufwendungen hatte die Klägerin zu tragen. Die Klägerin beziffert die ihr hierbei
entstandenen Aufwendungen mit 9.452,69 €.
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Die Klägerin hat gegenüber dem L-Seniorenzentrum mit Schreiben vom 24.01.2007
Ansprüche angekündigt und dies auch dem Haftpflichtversicherer des Pflegeheims
unter dem 12.04.2007 mitgeteilt. Nachdem die Haftpflichtversicherung des Beklagten mit
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Schreiben vom 20.04.2007 eine Haftung zurückwies, hat die Klägerin mit Schreiben
vom 02.05.2007 gegenüber dem Pflegeheim die streitgegenständlichen Unterlagen
erbeten. Sowohl das Pflegeheim wie auch die Haftpflichtversicherung des Beklagten
haben einen Anspruch der Klägerin auf Aushändigung der die Versicherte betreffende
Pflegedokumentation auch in Kopie verneint.
Im vorliegenden Verfahren verlangt die Klägerin von dem Beklagten die Aushändigung
der Pflegedokumentation der Versicherten im Pflegeheim L-Seniorenzentrum in X für
die Zeit vom 01.08.2006 bis einschließlich 30.11.2006 in Kopie zur Einsichtnahme.
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Die Klägerin behauptet:
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Im Hinblick auf die gravierenden Mobilitätsbeeinträchtigungen sei das Risiko für die
Entstehung von Dekubitus deutlich erhöht gewesen. Darauf hätten die Pflegekräfte im
L-Seniorenzentrum nicht adäquat reagiert und insbesondere keine ausreichende
Profilaxe betrieben. Aus diesem Grund habe sich der klägerische Zustand
verschlimmert und insbesondere der Dekubitus im Laufe des Heimaufenthalts.
Schließlich habe der Dekubitus im Pflegeheim nicht mehr beherrscht werden können
und habe im Bergmannsheil behandelt werden müssen. Bereits bei der dortigen
klinischen Aufnahmeuntersuchung hätte sich eine etwa 4 cm lange Hautläsion gezeigt,
die deutlich in die Tiefe ausgedehnt gewesen sei. Mit einem Wattetupfer hätten sogar
die Knochen ertastet werden können. Infolgedessen hätte die Versicherte
operiert werden müssen.
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Die Klägerin beantragt,
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die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin die folgende Pflegedokumentation
betreffend den Aufenthalt von Frau F, geboren am ...., im Pflegeheim L-
Seniorenzentrum in X, für die Zeit vom 01.08.2006 bis einschließlich 30.11.2006
zur Einsichtnahme in Kopie zu übermitteln:
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Stammblatt Erfassung der persönlichen Stammdaten,
13
Diagnoseblatt Erfassung ärztlicher und
pflegerischer Diagnosen,
14
Biographie/Anamnese Erfassung der
Pflegeanamnese und biografischer Daten, orientiert an
den AEDL`s,
15
Pflegeprofil Erfassung des Pflegezeitbedarfs,
16
Demenzerfassung Einschätzung der
Alltagskompetenz, MMST-Ermittlung,
17
Pflegeplanung Problemerfassung ,
Zielformulierung, Maßnahmenplanung, Auswertung,
18
Berichtsblätter Erfassung aktueller Vorkommnisse,
19
Mobilisation Mobilisierungsmaßnahmen,
20
Wundmanagement schriftliche Erfassung und
Fotodokumentation, Verlaufsbericht,
Dekubitusrisikoeinschätzung anhand der Bradenskala,
21
Ärztliche Verordnung Medikation, ärztliche Anordnungen etc.,
22
Kontingenzplanung Kontinenztraining, Bedarf an
Inkomaterial etc.
23
Nachweislisten/Protokolle HZ Listen,
Ernährungsprotokoll, Sturzprotokoll, Trinkprotokoll etc. .
24
Der Beklagte beantragt,
25
die Klage abzuweisen.
26
Der Beklagte räumt ein, dass die am ... geborene und bei der Klägerin versicherte Frau
F sich in der stationären Pflegeeinrichtung des Beklagten befand und dass hierbei im
November 2006 ein behandlungsbedürftiger Dekubitus auftrat.
27
Der Beklagte bestreitet aber ausdrücklich, dass in diesem Zusammenhang ein
Pflegefehler des behandelnden Personals vorgelegen habe, die Pflegekräfte nicht
"adäquat" reagiert hätten und insbesondere keine ausreichende Profylaxe betrieben
worden wäre.
28
Der Beklagte weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass aus Gründen der
Profilaxe bei der Versicherten spätestens alle zwei Stunden eine Lageänderung
vorgenommen worden sei.
29
Der Beklagte vertritt in diesem Zusammenhang die Ansicht, die Annahme, dass ein
Dekubitus einen Pflegefehler indiziere, entspreche weder generell noch im konkreten
Fall dem medizinischen Kenntnisstand.
30
Der Beklagte beanstandet, dass die Klägerin lediglich wegen der Vermutung, ein
Behandlungsfehler habe vorgelegen, ohne hierfür konkrete Anhaltspunkte zu haben, in
hoch sensible und geschützte Sozialdaten einsehen wolle und diese erfassen wolle.
31
Die Beklagte vertritt in diesem Zusammenhang die Auffassung, dass das von der
Klägerin verlangte "Einsichtsrecht" der Klägerin unter keinem denkbaren Gesichtspunkt
zustehe.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf den Inhalt der
zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.
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Entscheidungsgründe:
34
Die Klage ist zulässig und begründet.
35
Die Klägerin kann von dem Beklagten aus übergegangenem Recht gemäß §§ 116 I
SGB X, 401, 412 BGB Einsicht in die Pflegedokumentation betreffend die bei ihr
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versicherte Frau F verlangen.
Das aus abgetretenem Recht geltend gemachte Einsichtsnahmerecht steht der Klägerin
zu.
37
Die bei der Klägerin Versicherte kann ein eigenes Einsichtrecht in die Pflegeunterlagen
des Beklagten als Nebenanspruch aus dem Behandlungsvertrag beziehungsweise dem
Pflegevertrag geltend machen.
38
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (BGH NJW 1883, Seite 2628 ff)
hat ein Patient ein eigenes Einsichtsrecht in die Krankenunterlagen. Auch nach der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gebieten das Recht auf
informationelle Selbstbestimmung und die personale Würde des Patienten es, jedem
Patienten gegenüber seinem Arzt und Krankenhaus grundsätzlich einen Anspruch auf
Einsicht in die betreffenden Krankenunterlagen zuzuerkennen.
39
Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts ist
auf Personen, welche in einem Altenheim pflegerisch behandelt werden, zumindest
analog anwendbar.
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Dieses der Versicherten zustehende Einsichtsrecht ist gemäß den §§ 116 Absatz 1 SGB
X, 401, 412 BGB als sogenanntes Hilfsrecht auf die Klägerin übergegangen.
41
Das von der Klägerin geltend gemachte Einsichtnahmerecht in die Pflegedokumentation
der bei ihr Versicherten erfolgt vorliegend auch nicht missbräuchlich.
42
Die Klägerin hat in nachvollziehbarer Weise dargelegt, dass bei einem Auftreten eines
Dekubitus im Pflegeheim, welcher dort anschließend nicht mehr behandelbar ist,
generell Verdachtsmomente dafür bestehen, dass die Pflegekräfte nicht adäquat
reagiert und insbesondere keine ausreichende Profylaxe betrieben haben.
43
Das von der Klägerin geltend gemachte Einsichtnahmerecht in die Pflegedokumentation
der bei ihr Versicherten erfolgt vorliegend auch nicht missbräuchlich.
44
Die Klägerin hat in nachvollziehbarer Weise dargelegt, dass bei einem Auftreten eines
Dekubitus im Pflegeheim, welcher dort anschließend nicht mehr behandelbar ist,
generell Verdachtsmomente dafür bestehen, dass die Pflegekräfte nicht adäquat
reagiert und insbesondere keine ausreichende Profilaxe betrieben haben. Ein solcher
in nachvollziehbarer Weise dargelegtes Verdachtsmoment reicht aber dafür aus, dass
zum einen der Patient beziehungsweise die von der klägerischen Leistung getroffene
Person Einsichtnahme in die Krankenunterlagen bzw. Pflegeunterlagen verlangen
können und dass zum anderen die Klägerin bei Übergang des Anspruchs auf sie aus
übergegangenem Recht in gleicher Weise Einsichtnahme verlangen kann.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige
Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 709 ZPO.
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