Urteil des AG Erkelenz vom 08.05.2002

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Amtsgericht Erkelenz, 16 C 5/01
Datum:
08.05.2002
Gericht:
Amtsgericht Erkelenz
Spruchkörper:
Einzelrichter
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
16 C 5/01
Schlagworte:
HWS-Distorsion
Normen:
BGB § 823 Abs. 1, § 286
Sachgebiet:
Recht (allgemein - und (Rechts-) Wissenschaften
Leitsätze:
Ist ein Unfall geeignet eine HWS-Distorsion hervorzurufen und
diagnostiziert der behandelnde Arzt einenTag später eine solche, kann
davon ausgegangen werden, dass die HWS-Distorsion auf das
Unfallgeschen zurückzuführen ist.
Tenor:
Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin
260,00 EUR zu zahlen.
Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Klage ist im tenorierten Umfang begründet.
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Die Klägerin kann von den Beklagten Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von
260,00 EUR aus § 847 Abs. 1 BGB verlangen. Hiernach kann im Falle der Verletzung
des Körpers der Verletzte auch wegen des Schadens, der nicht Vermögensschaden ist,
eine billige Entschädigung in Geld verlangen. Durch den Schmerzensgeldanspruch soll
der Verletzte in die Lage versetzt werden, sich Erleichterungen und andere
Annehmlichkeiten anstelle derer zu verschaffen, deren Genuss ihm durch die
Verletzung un- möglich gemacht wurde. Darüber hinaus soll es auch zu einer
Genugtuung führen.
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Unstreitig ist es am 02.12.1999 in E. gegen 17.50 Uhr auf der K 32 zu einem
Verkehrsunfall gekommen. Die Beklagte zu 1. ist mit dem beim Beklagten
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zu 2. haftpflichtversicherten Fahrzeug ihres - zunächst mitverklagten Ehemannes auf
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das Heck des von der Klägerin geführten PKWs gefahren. Der Beklagte zu 2. hat die
materiellen Schäden der Mutter der Klägerin als Eigentümerin des von der Klägerin
geführten Fahrzeuges in voller Höhe reguliert. Das Fahrzeug erlitt einen wirtschaftlichen
Totalschaden.
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Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Gerichts fest,
dass sich die Klägerin bei dem Auffahrunfall nicht unerheblich verletzt hat. Sie hat eine
HWS-Distorsion ersten Grades erlitten. Dies steht aufgrund des ärztlichen Attestes vom
10.04.2000, Blatt 7 der Akte sowie des eingeholten Rekonstruktionsgutachtens des
Sachverständigen N. vom 01.03.2001, Blatt 84 ff. der Akte und des fachchirurgischen
Gutachtens der Ärztin für Chirurgie/Unfallchirurgie Dr. H. vom 23.11 .2001 , Blatt 132 ff.
der Akte fest.
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Der Sachverständige N. kam in seinem Gutachten zu dem Ergebnis, dass das
klägerische Fahrzeug eine kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung von 8 bis 12,5
km/h erfahren hat. In Anlehnung an die nach dem derzeitigen Erkenntnisstand der
Medizin und der Biomechanik in der Rechtsprechung vorherrschenden sogenannten
Harmlosigkeitsgrenze von 10 km/h stellte der Sachverständige fest, dass damit ein
Geschwindigkeitsänderungsniveau erreicht wurde, bei dem es durchaus möglich ist,
dass es zu den von der Klägerin beschriebenen Verletzungsmechanismen kam. Die
erfahrene Beschleunigung von 20,2 bis 31,5 m/sek.2 erachtete der Sachverständige für
eine normal konstituierte Person zwar als unkritisch. Da der obere Wert der erfahrenen
Geschwindigkeitsänderung des klägerischen Fahrzeuges bei 12,5 km/h lag und das
Fahr- zeug damit eine Geschwindigkeitsänderung erfuhr, welche es nach den bisher
gewonnenen Erkenntnissen nicht ausschließen lässt, dass es zu einer HWS-Verletzung
kommen kann, vermochte der Sachverständige N. hierzu keine abschließende
Stellungnahme zu geben. Er führte in seinem Gutachten insoweit aus, dass dies von
einem medizinischen Sachverständigen zu beurteilen sei.
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Die hiermit beauftragte medizinische Sachverständige, Frau Dr. H. gelangte in ihrem
fachchirurgischen Gutachten vom 23.11.2001 zu dem Ergebnis, dass der Unfall vom
02.12.1999 nach Hergang und Analyse geeignet war, bei der Klägerin eine HWS-
Distorsion bzw. Distorsion in Folge Beschleunigungsmechanismus an der Wirbelsäule
zu verursachen. Wegen der weiteren Einzelheiten hierzu wird auf das Gutachten, Blatt
132 ff. der Akte, verwiesen.
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Zwar ist allein durch die Tatsache, dass der Unfall geeignet war, eine HWS-Distorsion
bei der Klägerin hervorzurufen, noch nicht bewiesen, dass die Klägerin auch tatsächlich
in dieser Weise verletzt worden ist. Dies steht allerdings aufgrund des ärztlichen
Attestes des Internisten H. vom 10.04.2000, Blatt 7 der Akte, fest. Der Internist
diagnostizierte eine HWS-Distorsion und beschrieb eine Myogelose im Nacken-
Schulterbereich mit schmerzhafter Bewegungseinschränkung des Kopfes in alle
Richtungen. Für die Zeit vom 02.12. bis 09.12.1999 attestierte der behandelnde Arzt
eine unfallbedingt konkrete Behinderung von 100 %.
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Das Gericht verkennt nicht, dass ein ärztliches Attest zunächst allenfalls ein Indiz für
eine stattgehabte Verletzung sein kann, insbesondere dann, wenn - wie hier - eine reine
Weichteilschädigung ohne fassbares, objektivierbares, morphologisches Substrat an
der Halswirbelsäule feststellbar ist. Das Gericht folgt auch dem Einwand der Beklagten,
dass der Arzt lediglich eine Verdachtsdiagnose erstattet, mangels greifbarer objektiver
Anhaltspunkte, ausschließlich gestützt auf die Äußerungen des Patienten. Der Arzt sieht
sich hierbei in der Regel lediglich als Therapeut und verordnet sicherheitshalber
ärztliche Maßnahmen und Medikamente. Dies ist im Übrigen aus
krankenversicherungsrechtlicher Sicht grundsätzlich auch nicht beanstanden.
Demgegenüber vermag der behandelnde Arzt sein Tätigwerden aus haftungsrechtlicher
Sicht, nämlich als Gut- achter im Zivilprozess, nicht zu überblicken.
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Dennoch kommt dem ärztlichen Attest im Streitfall eine letztlich
entscheidungserhebliche Indizwirkung zu. Der Geschädigte hat grundsätzlich die
Beweislast dafür, dass die Körperverletzung auf das Unfallgeschehen zurückzuführen
ist. Die sogenannte Primärverletzung muss im Wege des Strengbeweises nach § 286
ZPO geführt werden. Der Beweis dieser Behauptung ist geführt, wenn das Gericht von
ihrer Wahrheit überzeugt ist. Hierfür genügt, da eine absolute Gewissheit nicht zu
erreichen und jede Möglichkeit des Gegenteils nicht auszuschließen ist, ein für das
praktische Leben brauchbarer Grad von Gewissheit, ein für einen vernünftigen, die
Lebensverhältnisse klar über- schauenden Menschen so hoher Grad von
Wahrscheinlichkeit, dass er den Zweifeln Schweigen gebietet ohne sie völlig
auszuschließen (vergl. Thomas/Putzo, ZPO, 21. Auflage, § 286 Randnummer 2).
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Unterhalb der sogenannten Harmlosigkeitsgrenze von 10 km/h genügt die bloße
Indizwirkung eines ärztlichen Attestes bei HWS-Distorsionen ersten Grades ohne
morphologischen Befund und ohne weitere Besonderheiten im Unfallhergang oder der
Person des Verletzten nicht, um einen solchen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit zur
Überzeugung des Gerichts herbeizuführen. Anders ist dies jedoch, wenn - wie im
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Streitfall - die sogenannte Harmlosigkeitsgrenze überschritten wird und daher nach den
derzeitigen Erkenntnissen der Medizin und Biomechanik eine HWS-Distorsion eben
nicht ohne weiteres ausgeschlossen werden kann. In einem solchen Fall gewinnt ein
ärztliches Attest eben doch streitentscheidende Bedeutung. Denn wenn sowohl der
technische als auch der medizinische Sachverständige zu dem Ergebnis gelangen,
dass der streitbefangene Unfall geeignet war, eine HWS-Distorsion hervorzurufen und
der behandelnde Arzt einen Tag später eine solche diagnostiziert und attestiert, kann -
auch unter Berücksichtigung oben ausgeführter Vorbehalte gegen ärztliche Atteste - mit
so hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass die HWS-Distorsion auf
das Unfallgeschehen zurückzuführen ist, dass es den Zweifeln Schweigen gebietet,
ohne sie völlig auszuschließen. Letzte Zweifel sind auch bei einer solchen Sachlage
nicht auszuschließen, weil es unbestritten schwarze Schafe in der
Versichertengemeinschaft gibt und die Möglichkeit besteht, dass ein Arzt - freilich ohne
es zu wissen - ein Attest ausstellt und damit dem angeblich Verletzten den Klageweg
eröffnet. Allerdings ist dies im Streitfall das einzige Argument, das letztlich gegen die
behauptete HWS-Distorsion der Klägerin und die Unfallursächlichkeit ins Feld geführt
werden kann. Wenn man dieser Argumentation Folge leisten würde, gäbe es aus
haftungsrechtlicher Sicht de facto keinen zivil prozessual durchsetzbaren
Schmerzensgeldanspruch bei einer erlittenen HWS-Distorsion ersten Grades ohne
morphologischen Befund. Dies käme, da sich in der Versichertengemeinschaft nicht nur
Simulanten tummeln, einer Rechtsverweigerung gleich. Sofern also die sogenannte
Harmlosigkeitsgrenze über- schritten ist, bedarf es, sofern anderweitige Umstände nicht
vorliegen, zur Entkräftung eines ärztlichen Attestes zumindest greifbarer Anhaltspunkte
dafür, dass es sich bei dem Attest um ein reines Gefälligkeitsattest handelt, also der Arzt
in positiver Kenntnis des Nichtvorliegens einer Verletzung eine solche diagnostiziert
hat. Hiervon kann im vorliegenden Fall allerdings nicht ausgegangen werden. Anders
verhält es sich dann, wenn die Harmlosigkeitsgrenze nicht überschritten ist. In einem
solchen Fall genügt das bloße ärztliche Attest nicht, wie auch der erkennende Richter
bereits mehrfach ent- schieden hat. Das im Termin am 10.04.2002 vom
Beklagtenvertreter überreichte Urteil des Oberlandesgerichts München vom 25.01.2002
ist auch nach Auffassung des er- kennenden Gerichts zutreffend, allerdings vom
Sachverhalt her nicht übertragbar, da sich die Geschwindigkeitsänderung dort im
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Bereich zwischen 3,9 bis
6,5 km/h, also weit unterhalb der sogenannten Harmlosigkeitsgrenze von 10 km/h belief.
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Der Höhe nach ist ein Schmerzensgeld von 260,00 EUR zur Kompensation der
erlittenen immateriellen Schäden angemessen aber auch ausreichend. Die Klägerin war
lediglich eine Woche unfallbedingt zu 100 % behindert. Die Behandlung war
ausweislich des ärztlichen Attestes vom bereits am 09.12.1999 abgeschlossen und die
Klägerin konnte ab dem 10.12.1999 wieder zur Schule gehen. Bis auf die attestierten
Beeinträchtigungen hat die Klägerin zudem keinerlei körperliche Schäden
davongetragen. Die medizinische Sachverständige hat am gutachterlichen
Untersuchungstag, dem 07.11.2001, keinerlei Verspannungen oder Verhärtungen der
Muskulatur feststellen können. Auch sonst war die Untersuchung ohne Befund.
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Dass die Beklagte zu 2. sich beharrlich geweigert hat, den Schaden zu regulieren, kann
nach Auffassung des Gerichts nicht in die Bemessungsgrundlage bei der Beurteilung
der Höhe der billigen Geldentschädigung gemäß § 287 ZPO eingestellt werden. Denn
verzögerliches Regulierungsverhalten des Schädigers und seiner Versicherung ist nur
dann missbilligenswert und führt zu einer Erhöhung des Schmerzensgeldes, wenn der
Geschädigte einen erkennbar begründeten Anspruch erhebt (vergl. Palandt, BGB, 61.
Auflage, § 847 BGB). Dies ist hier nicht der Fall. Aus Sicht der Beklagten war nicht ohne
weiteres erkennbar, dass die HWS-Distorsion der Klägerin auf das Unfallgeschehen
zurückzuführen ist. Dies hat erst die Beweisaufnahme ergeben. Überdies haben
Versicherer und letztlich die gesamte Versichertengemeinschaft ein schützenswertes
Interesse dahingehend, gerade im Bereich von HWS-Distorsionen Simulanten von dem
Genuss eines Schmerzensgeldes auszuschließen.
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Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 92 Abs. 1 Satz 1, 269 Abs. 3 Satz 2 ZPO.
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Die sonstigen Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 708 Nr. 11, 711, 713 ZPO.
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Streitwert: 357,90 EUR.
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