Urteil des AG Duisburg vom 10.02.2010

AG Duisburg (gläubigerversammlung, zwingendes recht, versammlung, nichtigkeit, einberufung, freigabe, gläubiger, unwirksamkeit, wirkung, öffentlich)

Amtsgericht Duisburg, 60 IN 26/09
Datum:
10.02.2010
Gericht:
Amtsgericht Duisburg
Spruchkörper:
60. Abteilung des Amtsgerichts
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
60 IN 26/09
Normen:
InsO § 35 Abs. 2, § 74 Abs. 2, § 78; BGB § 134
Leitsätze:
1. Beschlüsse einer Gläubigerversammlung, die nicht unter Beachtung
des § 74 Abs. 2 InsO (hier: Nichtbekanntgabe der Uhrzeit des Termins)
einberufen ist, sind nichtig. Maßgeblich für den Einberufungsmangel ist
der Text der öffentlichen Bekanntmachung.
2. Ein Beschluss der Gläubigerversammlung, der nach seinem Inhalt die
gesetzliche Kompetenz der Versammlung überschreitet, ist wegen
Verstoßes gegen zwingendes Recht nichtig.
3. Die Geschäftsfreigabeerklärung des Insolvenzverwalters (§ 35 Abs. 2
InsO) verliert ihre Wirksamkeit erst durch die auf Antrag der
Gläubigerversammlung ergehende Ent-scheidung des
Insolvenzgerichts.
4. Für die Feststellung der Nichtigkeit eines Beschlusses der
Gläubigerversammlung gelten die formellen und sachlichen
Voraussetzungen des § 78 Abs. 1 InsO weder unmittelbar noch
entsprechend.
5. Die Feststellung der Nichtigkeit des Beschlusses wirkt gegenüber
sämtlichen Betei-ligten des Insolvenzverfahrens, wenn sie aufgrund
eines nach § 78 Abs. 1 InsO zulässigen Antrags vom Insolvenzgericht
ausgesprochen wird.
Tenor:
1. Der Richter zieht die Entscheidungen
- über die Aufhebung des Beschlusses der Gläubigerversammlung vom
03.02.2010 und
- über die Anordnung der Unwirksamkeit der Erklärung des
Insolvenzverwalters zur Freigabe der Arztpraxis des Schuldners, auch
auf Antrag einer künftig einberufenen Gläubigerversammlung,
an sich (§ 18 Abs. 2 Satz 3 RPflG).
2. Mit Wirkung gegenüber sämtlichen Beteiligten des
Insolvenzverfahrens wird festgestellt, dass der Beschluss der
Gläubigerversammlung vom 03.02.2010 über die Unwirksamkeit der
Erklärung des Insolvenzverwalters zur Freigabe der Arztpraxis des
Schuldners rechtlich unwirksam (nichtig) ist.
G r ü n d e
1
I.
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Über das Vermögen des Schuldners, eines selbständigen Zahnarztes, wurde am
26.2.2009 das Insolvenzverfahren eröffnet. Mit Schreiben vom 17.12. 2009 zeigte der
Insolvenzverwalter dem Gericht an, er habe durch eine – zeitlich nicht näher bestimmte,
insbesondere nicht in Ablichtung vorgelegte – Mitteilung an den Schuldner die Freigabe
der Arztpraxis nach § 35 Abs. 2 InsO erklärt. Die Anzeige wurde gemäß § 35 Abs. 3, § 9
Abs. 1 InsO im Internet öffentlich bekanntgemacht.
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Am 30.12.2009 ging bei Gericht der Antrag der Insolvenzgläubigerin A-Bank ein, eine
Gläubigerversammlung einzuberufen, auf der über die Unwirksamkeit der Erklärung des
Verwalters abzustimmen sei. Daraufhin berief die Rechtspflegerin zunächst am 5.1.2010
eine Gläubigerversammlung auf den 15.1.2010, 10.00 Uhr ein; einziger
Tagesordnungspunkt war die "Beschluss-fassung der Gläubiger über die Entscheidung
über die Wirksamkeit der Verwaltererklärung zu Vermögen aus selbstständiger Tätigkeit
(§ 35 Abs. 2 InsO)". Die Einberufung wurde am 5.1.2010 vollständig mit Ort, Datum und
Uhrzeit des Termins sowie mit der Tagesordnung im Internet öffentlich bekanntgemacht
(§ 9 Abs. 1 InsO).
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Am 14.1.2010 verfügte die Rechtspflegerin, dass der Termin vom 15.1.2010 auf den
3.2.2010, 10.00 Uhr verlegt werde. In der daraufhin von der Geschäftsstelle veranlassten
öffentlichen Bekanntmachung vom 15.1.2010 war die Uhrzeit des Termins nicht
enthalten. Außerdem wurde die Verfügung der Rechtspflegerin, die Umladung allen
Gläubigern zuzusenden, von der Geschäftsstelle nicht ausgeführt.
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Die Gläubigerversammlung fand am 3.2.2010 statt und begann um 10.00 Uhr.
Erschienen waren Vertreter von sechs Gläubigern. Insgesamt haben 33 Gläubiger
Forderungen zur Tabelle angemeldet. Die Versammlung fasste mit Mehrheit folgenden
Beschluss: "Die Verwaltererklärung auf Freigabe des Vermögens des Schuldners aus
selbstständiger Tätigkeit (§ 35 Abs.2 InsO) ist unwirksam." Anschließend hat die
Insolvenzgläubigerin V noch in der Versammlung beantragt, den gefassten Beschluss
aufzuheben.
6
II.
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Der in zulässiger Weise nach § 78 Abs. 1 InsO gestellte Aufhebungsantrag hat Erfolg.
Der angefochtene Beschluss der Gläubigerversammlung ist sogar nichtig. Es liegt ein
wesentlicher Einberufungsmangel vor, und außerdem überschreitet der Beschluss
seinem Inhalt nach die Kompetenz der Gläubiger-versammlung. Die Nichtigkeit ist im
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Interesse der Rechtssicherheit mit Wirkung gegenüber allen Verfahrensbeteiligten
förmlich festzustellen und analog § 78 Abs. 2 Satz 1 öffentlich bekanntzumachen.
1. Ein Beschluss der Gläubigerversammlung ist nichtig und damit rechtlich unwirksam,
wenn er in einer Versammlung gefasst worden ist, die nicht unter Beachtung der in § 74
Abs. 2 InsO zwingend vorgeschriebenen grundlegenden Erfordernisse einberufen war.
Ein solcher Fall ist hier gegeben, weil in der öffentlichen Bekanntmachung zur
Einberufung die Uhrzeit des Versammlungs-beginns fehlte.
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a) Der Nichtigkeitsgrund des wesentlichen Einberufungsmangels, der im
Gesellschaftsrecht etwa in § 241 Nr. 1, § 121 Abs. 3 Satz 1 AktG zum Ausdruck kommt,
gilt auch im Recht des Insolvenzverfahrens. Er ist bisher vor allem in Fällen anerkannt,
in denen bei der Einberufung der Versammlung der Gegenstand der Beschlussfassung
(d.h. die Tagesordnung) nicht oder so ungenau bestimmt war, dass den
Teilnahmeberechtigten eine sachgerechte Vorbereitung und eine Entscheidung, ob sie
an der Versammlung teilnehmen wollen, nicht möglich war (BGH NJW 1987, 1811 f.;
BGH NJW 2008, 69, 72 f. Tz. 38; BGH NZI 2008, 430; LG Saarbrücken ZIP 2008, 1031
ff.; Kübler, in: Kübler/Prütting/Bork, InsO, § 74 RdNr. 15; Uhlenbruck, InsO, 12. Aufl.
2003, § 74 RdNr. 13, § 76 RdNr. 26; MünchKomm-Ehricke, InsO, 2. Aufl. 2007, § 74
RdNr. 33, 45, § 76 RdNr. 34).
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Gleiches gilt jedoch auch, wenn in der Einberufung der Gläubigerversammlung
entgegen § 74 Abs. 2 InsO der Ort oder die Zeit (d.h. das Datum und die Uhrzeit des
Versammlungsbeginns) nicht hinreichend bestimmt bekannt-gegeben worden ist. Diese
Mindestanforderungen an eine ordnungsgemäße Einberufung sind so grundlegend,
dass ohne sie die Teilnahme an der Versammlung schlechthin nicht vernünftig geplant
werden kann.
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b) Maßgeblich für den Einberufungsmangel ist der Text der an alle Betroffenen
gerichteten öffentlichen Bekanntmachung (§ 74 Abs. 2, § 9 Abs. 3 InsO). Wer den
Mangel zu verantworten hat, ist ohne Bedeutung. Ausschlaggebend ist allein, ob den
Adressaten der Einberufung objektiv alle nach § 74 Abs. 2 Satz 1 InsO wesentlichen
Informationen in der gesetzlich vorgeschriebenen Weise bekanntgemacht worden sind.
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c) Im vorliegenden Fall folgt die Nichtigkeit des angefochtenen Beschlusses daraus,
dass in der öffentlich bekanntgemachten Einberufung der Gläubiger-versammlung
entgegen § 74 Abs. 2 Satz 1 InsO die Uhrzeit des Versammlungsbeginns nicht
angegeben war. Unerheblich ist, dass die Versammlung um die gleiche Uhrzeit
beginnen sollte wie die verlegte ursprüngliche Versammlung vom 15.1.2010. Dies war
Zufall und für die Teilnahmeberechtigten nicht vorhersehbar.
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Ebenfalls ohne Bedeutung ist, ob der nichtige Beschluss vom 3.2.2010 seinem Inhalt
nach dem gemeinsamen Interesse der Insolvenzgläubiger widerspricht. Für die
Feststellung der Nichtigkeit eines Beschlusses der Gläubiger-versammlung gelten die
formellen und sachlichen Voraussetzungen des § 78 Abs. 1 InsO weder unmittelbar
noch entsprechend (BGH NZI 2008, 430). Auf die vom Antragsteller vorgebrachten
Bedenken gegen den Inhalt des Beschlusses kommt es deshalb zurzeit nicht an.
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2. Ein Beschluss der Gläubigerversammlung ist ferner nichtig, wenn er inhaltlich gegen
zwingendes Recht verstößt (§ 134 BGB; vgl. Uhlenbruck, InsO, 12. Aufl. 2003, § 76
RdNr. 26; MünchKomm-Ehricke, InsO, 2. Aufl. 2007, § 76 RdNr. 34). Dies ist hier der
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Fall.
Der am 3.2.2010 von der Versammlung – übereinstimmend mit dem ursprünglichen
Einberufungsantrag der A-Bank – gefasste Beschluss, die Verwaltererklärung zur
Freigabe des Vermögens des Schuldners aus selbständiger Tätigkeit sei unwirksam,
überschreitet die gesetzliche Kompetenz der Gläubigerversammlung. Nach dem
eindeutigen Wortlaut des § 35 Abs. 2 Satz 3 InsO und den gesetzgeberischen Motiven
(Begr. RegE des Gesetzes zur Vereinfachung des Insolvenzverfahrens, 2006,
Drucks. 16/3227, S. 17) ist allein das Insolvenzgericht berufen, die Unwirksamkeit der
Geschäfts-freigabeerklärung des Insolvenzverwalters anzuordnen. Die
Gläubigerversammlung kann durch Beschluss eine solche Anordnung nur beantragen,
nicht aber selbst die Unwirksamkeit unmittelbar herbeiführen oder feststellen. Die
Freigabeerklärung des Verwalters verliert ihre Wirksamkeit erst konstitutiv durch die
antragsgemäße Entscheidung des Insolvenzgerichts. Solange diese Entscheidung nicht
ergangen ist, bleibt die Freigabe in Kraft.
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3. Die Feststellung der Nichtigkeit des angefochtenen Beschlusses der
Gläubigerversammlung wirkt im vorliegenden Fall gegenüber sämtlichen Beteiligten des
Insolvenzverfahrens. Zwar kann die Nichtigkeit grundsätzlich in jedem gerichtlichen
Verfahren, in dem es auf sie ankommt, geltend gemacht und mit Wirkung für die Parteien
festgestellt werden. Der Sinn und Zweck des § 78 InsO, durch die Entscheidung des
Insolvenzgerichts Klarheit und Sicherheit für alle Beteiligten zu schaffen (vgl. Begr.
RegE InsO, BT-Drucks. 12/2443, S. 134 f.), gebietet es jedoch, die positive Feststellung
der Nichtigkeit durch das Insolvenzgericht dann mit der gleichen Wirkung gegenüber
sämtlichen Beteiligten zu versehen, wenn sie aufgrund eines nach § 78 Abs. 1 InsO
zulässigen Antrags vom Insolvenzgericht ausgesprochen wird.
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4. Die Rechtspflegerin wird eine neue Gläubigerversammlung einzuberufen haben, in
der die Insolvenzgläubiger Gelegenheit erhalten, gegenüber dem Gericht durch einen
Beschluss unter Beachtung des § 35 Abs. 2 InsO ihre Haltung zur Praxisfreigabe durch
den Insolvenzverwalter zu artikulieren.
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