Urteil des AG Düsseldorf vom 14.05.2010

AG Düsseldorf (stand der technik, höhe, bahn, gefahr, fahrer, schmerzensgeld, zug, sorgfaltspflicht, technik, fahrgast)

Amtsgericht Düsseldorf, 41 C 373/10
Datum:
14.05.2010
Gericht:
Amtsgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
41. Abteilung
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
41 C 373/10
Tenor:
hat das Amtsgericht Düsseldorf
auf die mündliche Verhandlung vom 16.04.2010
durch den Richter am Amtsgericht X
für Recht erkannt:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits hat die Klägerin zu tragen.
Dieses Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des
jeweils beizutreibenden/zu vollstreckenden Betrages vorläufig
vollstreckbar.
Der Klägerin hat das Gericht gestattet, die Zwangsvollstreckung gegen
Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des vollstreckbaren Betrages
abzuwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Zwangsvollstreckung
Sicherheit in Höhe von 120 % des zu vollstreckenden Betrages leistet.
Tatbestand
1
Die Klägerin ist hochgradig geh- und sehbehindert. Laut ihres
Schwerbehindertenausweises beträgt der Grad ihrer Behinderung 100 %. Sie kann sich
jedoch alleine mit einem Blindenstock fortbewegen.
2
Die Beklagte ist Betreiberin der U-Bahnlinien in X. Die U-Bahnen sind dabei jeweils mit
einer vollautomatischen Türschließautomatik mit einer Lichtschranke im unteren
Türbereich ausgestattet, lediglich die vorderste Tür beim Fahrer bedient dieser manuell.
3
Mit der Klage begehrt die Klägerin nunmehr von der Beklagten aufgrund eines von ihr
behaupteten Vorfalls die Zahlung der angefallenen Behandlungskosten (Praxisgebühr
IV 2009 in Höhe von 10,00 €, Krankengymnastikkosten in Höhe von 75,52 €, Kosten des
Aufenthalts im Universitätsklinikum X in Höhe von 47,15 €), die Kosten für eine
Begleitperson für Arztbesuche und als Haushaltshilfe in Höhe von 1089,00 € und für
4
eine Ersatzperson für die Treppenhausreinigung in Höhe von 110,00 €, ein
angemessenes Schmerzensgeld in Höhe von insgesamt 1.250,00 € sowie die
Übernahme der außergerichtlichen Kosten für die Inanspruchnahme ihres
Rechtsanwalts in Höhe von 316,18 €.
Die Beklagte hat bisher eine Schadensersatzzahlung in Höhe von 250,00 € an die
Klägerin ohne Anerkenntnis einer Rechtspflicht gezahlt und weitere darüber
hinausgehende Zahlungen mit Schreiben vom 02.11.2009 abgelehnt.
5
Die Klägerin behauptet, am 09.09.2009 gegen 16:35 Uhr habe sie von dem Bahnsteig
am Hauptbahnhof in einen mit der vollautomatischen Türschließautomatik
ausgerüsteten Zug der Linie U xx in Richtung X einsteigen wollen. Die Türe des Zuges
habe noch offen gestanden habe und sie habe sich mit einer Hand am senkrechten
Mittelsteg der Türe festgehalten, als die automatische Tür plötzlich zugegangen sei und
ihre Hand eingeklemmt habe.
6
Nachdem sie versucht habe, ihre Hand zu befreien, sei die Türe plötzlich nach kurzer
Zeit wieder aufgesprungen und sie sei rückwärts auf den Bahnsteig gestürzt, wobei sie
sich den rechten Mittelfinger gebrochen und ausgekugelt sowie sich Prellungen an vier
Fingern der rechten Hand zugezogen habe.
7
Die Klägerin meint, das Verschulden der Beklagten ergäbe sich aus einer
Falscheinstellung der automatischen Türen. Die Türen müssten so konzipiert sein, dass
die Lichtschranke auch auslöse, wenn eine einsteigende Person sich nur an der
Haltestange in der Mitte des Einstiegs festhalte, und so eine schnelle Schließung der
Tür verhindere.
8
Es komme deshalb auch nicht darauf an, ob die Tür ordnungsgemäß funktioniert habe.
Vielmehr sei die Beklagte verpflichtet, ihre Türen nach dem heutigen Stand der Technik
mit einer besseren Absicherung für die Fahrgäste auszustatten.
9
Zumindest aber hätte der Fahrer aufgrund ihres Blindenstockes erkennen müssen, dass
sie längere Zeit zum Einstieg benötigen würde und daher die Automatik der
Türschließung ausschalten müssen. Jedenfalls hätte er aber die Tür sofort öffnen
müssen, als er erkannt habe, dass die Klägerin mit ihrer Hand zwischen der Tür
eingeklemmt gewesen sei.
10
Die Klägerin beantragt,
11
1. die Beklagte zu verurteilen, an sie einen Schadenersatz in Höhe von 1.106,67 €
zu zahlen nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit 16.11.2009.
2. die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin ein angemessenes Schmerzensgeld
(1.250,00 €) zu zahlen.
3. die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin Kosten vorgerichtlicher
Rechtsverfolgung als Verzugsschaden in Höhe von 316,18 € nebst 5 % Zinsen
über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
12
13
Die Beklagte beantragt,
14
die Klage abzuweisen.
15
Die Beklagte behauptet, dass der zuständige Fahrer der Rheinbahn die Klägerin beim
Einsteigen weder wahrgenommen habe noch ihm ein etwaiger Vorfall gemeldet worden
sei. Ferner habe die Betriebsfachwerkstatt der Beklagten alle Türen des betreffenden
Straßenbahnzuges auf die Türschließautomatik hin überprüft mit dem Ergebnis, dass
keine Fehlfunktion festgestellt wurde. Vielmehr entsprächen die eingebauten
Automatiktüren sowohl dem Stand der Technik als auch den rechtlichen Vorgaben.
16
Entscheidungsgründe
17
Die zulässige Klage ist unbegründet.
18
Die zulässige Klage ist unbegründet.
19
I.
20
Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Schadensersatz und Schmerzensgeld wegen des
Unfalls aus §§ 280, 631 oder 823 Abs. 1 , 249 Abs. 2 S. 1, 253 Abs. 2 BGB.
21
Denn die Voraussetzung sowohl des vertraglichen als auch des deliktischen Anspruchs,
die Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht durch die Beklagte, liegt nicht vor.
22
Da eine jeglichen Schadensfall ausschließende Verkehrssicherung nicht erreichbar ist
und auch die berechtigten Verkehrserwartungen nicht auf einen Schutz vor allen nur
denkbaren Gefahren ausgerichtet sind, beschränkt sich die Verkehrssicherungspflicht
auf das Ergreifen solcher Maßnahmen, die nach den Gesamtumständen zumutbar sind
und die ein verständiger und umsichtiger und in vernünftigen Grenzen vorsichtiger
Mensch für notwendig und ausreichend hält, um andere vor Schaden zu bewahren.
Sicherungsmaßnahmen des Verkehrs sind nur dann zu ergreifen, wenn sich
vorausschauend die nahe liegende Möglichkeit einer Rechtsgutverletzung anderer
Personen ergibt (vgl. BGH NJW 1990, 1236). Danach ist im Einzelfall eine
Gesamtabwägung nach Ausmaß und Größe der Gefahr, Art und Umfang des Verkehrs
und seiner berechtigten Sicherheitserwartungen und der Zumutbarkeit der
Aufwendungen für den Sicherungspflichtigen vorzunehmen (vgl. BGH NJW 1975, 812;
1985, 1076).
23
Die Benutzung von automatisch schließenden Türen bei U-Bahn-Zügen ist
grundsätzlich nicht pflichtwidrig. Denn der technische Fortschritt erlaubt die Einführung
neuer Techniken, sofern sie den gesetzlichen Sicherheitsstandards entspricht. Die
Türschließautomatik wurde von der zuständigen Aufsichtsbehörde genehmigt und
freigegeben.
24
Der Gesetzgeber hat die Benutzung derartiger technischer Einrichtungen sogar
ausweislich § 28 Abs. 4 EBO ausdrücklich für zulässig erachtet, sofern bei ihrer
Betätigung Personen nicht gefährdet werden.
25
Die Gefahr besteht darin, dass Fahrgäste durch sich schließende Türen eingeklemmt
und dadurch verletzt werden können. Daher müssen sich die Türen bei Kontakt
unverzüglich wieder öffnen.
26
Genau diese Sicherheitsvorkehrung griff aber, als die Klägerin ihre Hand einklemmte
und kurze Zeit darauf die Türe wieder aufsprang.
27
Daher geht auch der Vorwurf der Klägerin ins Leere, der Zugführer hätte die Tür sofort
wieder öffnen müssen, nachdem er erkannt habe, dass die Klägerin eingeklemmt
gewesen sei. Denn schneller als die automatische Vorrichtung hätte der Zugführer die
Tür manuell auch nicht öffnen können.
28
Diese Gefahr des Einklemmens kann dadurch eintreten, dass die Lichtschranke, welche
bei Betreten der Tür ausgelöst wird und eine Schließung der Türe vorerst verhindert,
defekt oder falsch geschaltet ist.
29
Für diesen Defekt der Lichtschranke ist die Klägerin darlegungs- und beweispflichtig,
hat aber keinen Beweis angetreten, um den Vortrag der Beklagten zu widerlegen, dass
die Fachwerkstatt der Beklagten alle Türen des Zuges überprüft und keine
Fehleinstellungen feststellen konnte.
30
Ein Defekt der im unteren Bereich der Tür befindlichen Lichtschranke ist auch schon
deshalb unwahrscheinlich, weil die Klägerin auch gar nicht behauptet, diese
durchschritten zu haben. Vielmehr hat sie sich zunächst nur am Mittelsteg der Türe
festgehalten und konnte dadurch die Lichtschranke nicht auslösen.
31
Es besteht auch keine Veranlassung für die Beklagte, weitere höher gelegene
Lichtschranken einzubauen, um eine vorzeitige Schließung der Tür zu verhindern.
32
Es ist zu berücksichtigen, dass nach der allgemeinen Verkehrsanschauung die
Sicherheitserwartungen eines durchschnittlichen Fahrgastes davon geprägt sind, dass
sich die Automatiktüren des Zuges nach kurzer Zeit wieder schließen. Dies ist bei einem
Massenverkehrsmittel wie der U-Bahn für den Fahrgast auch schon deshalb
erforderlich, weil ansonsten die Fahrpläne nicht eingehalten werden könnten. Ebenso
ist bekannt, dass sich eben nur eine Lichtschranke im Einstieg befindet. Ein solcher
Zustand entspricht den allgemeinen Erfahrungen der Öffentlichkeit und es ist
grundsätzlich die Obliegenheit des Fahrgastes, sich über den Mechanismus der
Türschließung zu erkundigen, wenn er freiwillig die Beförderung durch öffentliche
Verkehrsmittel in Anspruch nimmt.
33
Als Bahnfahrerin musste der Klägerin die Gefahr, dass sich die Tür nach kurzer zeit
wieder schließt, bewusst gewesen sein und sie hätte in der konkreten Situation durch
gesteigerte Aufmerksamkeit und zügiges Einsteigen eben diese Gefahr kompensieren
müssen.
34
Die Beklagte als sicherungspflichtige Betreiberin der U-Bahn darf grundsätzlich davon
ausgehen und auch darauf vertrauen, dass der jeweilige Fahrgast den
durchschnittlichen Anforderungen an das Ein- und Aussteigen gewachsen ist. Sie
braucht auch nicht gegen jeden nur denkbaren Fall Vorsorge zu betreiben, sondern es
reicht aus, wenn ihre Fahrzeuge den gesetzlichen Bestimmungen entsprechen, was die
Klägerin nicht substantiiert bestritten hat.
35
Ist die Klägerin aber aufgrund ihrer starken Seh- und Gehbehinderung nicht in der Lage,
in angemessener Zeit den Zug zu besteigen, bevor die Türe nach Auslösung der
Lichtschranke wieder automatisch schließt oder diese durch ein zu zögerliches
Einsteigen gar nicht erst ausgelöst wird, muss sie sich entweder der Hilfe Dritter
bedienen, die zum Beispiel durch Blockieren der Lichtschranke den
Schließmechanismus verzögern, oder den Zug durch die vordere Türe unter der
Aufsicht des Zugfahrers betreten, der die erste Tür manuell bedient.
36
II.
37
Die Klägerin hat auch keinen Anspruch gegen die Beklagte aus §§ 831, 249 Abs. 2 S. 1,
253 Abs. 2 BGB
38
Der Fahrer der U-Bahn hat als Verrichtungsgehilfe der Beklagten keine ihm obliegende
Verkehrssicherungs- oder Sorgfaltspflicht verletzt.
39
Entgegen der Ansicht der Klägerin war er nicht dazu verpflichtet, sämtliche Türen des
Zuges auf eventuell hilfsbedürftige Fahrgäste zu kontrollieren und zu überwachen und
erst recht nicht die Schließautomatik ganz auszustellen. Dies würde eine Überspannung
seiner Sorgfaltspflicht bedeuten und zudem gerade dem Sinn und Zweck der Einführung
der Türschließautomatik widersprechen, eine zügige Abfertigung der Züge in den
Bahnhöfen zu gewährleisten.
40
Ihm soll durch diese Einrichtung gerade die Verpflichtung abgenommen werden, die
Türen je nach Bedarf zu öffnen oder zu schließen und den Fahrgastwechsel im
Einzelnen zu beobachten. Aufgrund des teilweise starken Fahrgastaufkommens zu
bestimmten Verkehrszeiten gerade in hoch frequentierten Bahnhöfen wie dem
Hauptbahnhof ist ihm dies auch gar nicht möglich.
41
Das Fahrpersonal ist erst dann gehalten, sich um die Sicherheit eines einzelnen
Fahrgastes zu kümmern, wenn für die Hilfsbedürftigkeit des Fahrgastes deutlich
erkennbare Anhaltspunkte bestehen. Die Beklagte trägt jedoch unwiderlegt vor, dass
der Fahrer die Klägerin gar nicht wahrgenommen habe und daher auch den
Blindenstock als Anhaltspunkt ihrer Hilfsbedürftigkeit nicht habe erkennen können. Es
stellt eine Überspannung seiner Sorgfaltspflicht dar, von ihm zu verlangen, bei der
Einfahrt in den Bahnhof die anwesenden Fahrgäste auch etwaige körperliche Defizite
hin zu überprüfen. Ein Blindenstock kann darüber hinaus auch aus der Distanz als
einfacher Spazierstock wahrgenommen werden.
42
III.
43
Ein Anspruch aus §§ 1, 6 HaftPflG auf Ersatz des materiellen Schadens sowie auf ein
angemessenes Schmerzensgeld scheidet ebenfalls aus.
44
Die objektiven Haftungsvoraussetzungen nach § 1 Absatz HaftPflG liegen zwar vor, da
die Klägerin beim Einsteigen und damit auch beim Betrieb der Bahn verletzt wurde und
der Unfall nicht auf höherer Gewalt gemäß § 1 Absatz 2 HaftPflG beruhte.
45
Die Beklagte ist jedoch deshalb nicht zum Schadensersatz verpflichtet, weil die Klägerin
den Unfall selbst verschuldet hat, dass nach Maßgabe des § 4 HaftPflG die
46
Gefährdungshaftung der Bahn demgegenüber vollumfänglich zurücktritt.
Gemäß § 4 HaftPflG i.V.m. § 254 Absatz 1 BGB ist ein Mitverschulden der Klägerin zu
berücksichtigen und der Schaden nach dem Grad der Verursachung aufzuteilen.
47
Hierbei ist wieder zu berücksichtigen, dass nach der allgemeinen Verkehrsanschauung
die Sicherheitserwartungen eines durchschnittlichen Fahrgastes davon geprägt ist, dass
sich die Automatiktüren des Zuges nach kurzer Zeit wieder schließen und der
Bahnbenutzer diese Gefahr durch gesteigerte Aufmerksamkeit während des
Einsteigevorganges kompensieren muss. Auch im Rahmen des HaftPflG gilt, dass wenn
die Klägerin aufgrund ihrer körperlichen Verfassung nicht in der Lage ist, in diesem
Zeitraum die Lichtschranke auszulösen und den Zug zu besteigen, für sie die
Obliegenheit besteht, Hilfe Dritter in Anspruch zu nehmen.
48
Auf Seiten der Beklagten ist lediglich die Betriebsgefahr der Bahn in die Abwägung
einzubeziehen. Dabei fällt diese aufgrund der rechtlich zulässigen und den
Sicherheitsstandards entsprechenden Türschließungsautomatik so wenig ins Gewicht,
dass sie Betriebsgefahr auch hinter dem leichten Mitverschulden der Klägerin zurücktritt.
49
Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO.
50
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 11, 711,
ZPO.
51
Streitwert: 2.356,67 €
52