Rechtsanwältin Gabriele Weintz

anwalt.de services AG
90408, Nürnberg
Rechtsgebiete
Arbeitsrecht Recht allgemein Familienrecht
24.09.2015

Im Bus gestürzt – Unfallversion muss auch vom Fahrer geschildert werden

Wenn man mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fährt, kommt es häufig vor, dass der Bus, die Straßenbahn oder die U-Bahn augenblicklich losfährt und man kaum Zeit hat, Platz zu nehmen oder sich ausreichend festzuhalten. Falls ein Fahrgast stürzt und sich verletzt, ist fraglich, wie es sich mit den Ansprüchen auf Schadensersatz und Schmerzensgeld verhält.

Frau stürzt beim Anfahren
Eine Frau im fortgeschrittenen Alter bestieg am 19.03.2012 einen Linienbus. Vor Beginn der Fahrt kaufte sie beim Fahrer eine Fahrkarte. Danach verließ sie den Fahrerbereich durch die vorhandene Sperre und betrat den Fahrgastbereich. Gerade, als sie sich auf den Sitzplatz direkt hinter dem Fahrer setzen wollte, fuhr der Bus so plötzlich an, dass die Frau rückwärts in die erste Sitzreihe stürzte. Sie zog sich durch den Sturz eine Fraktur des 4. Lendenwirbelkörpers und Läsionen des 8. und 9. Brustwirbelkörpers zu. Eine Operation war nicht notwendig, allerdings waren die Verletzungen sehr schmerzhaft und führten zu einer erheblichen Bewegungsbeeinträchtigung.

Landgericht wies die Klage ab
Von dem Busunternehmen verlangte die Frau schließlich die Zahlung von Schadensersatz und Schmerzensgeld. Sie argumentierte damit, dass der Busfahrer ihr fortgeschrittenes Alter und ihre offensichtlich eingeschränkte Bewegungsfähigkeit hätte erkennen müssen. Er hätte sich, bevor er losfuhr, davon überzeugen müssen, dass sie bereits saß. Die Klage hatte zunächst keinen Erfolg. In ihrem Urteil stellten die Richter am Landgericht (LG) Darmstadt fest, dass weder ein Fahrfehler des Busfahrers vorlag noch, dass die Frau offensichtlich schwer behindert war und besondere Aufmerksamkeit benötigte. Aus diesem Grund tritt die Betriebsgefahr des Busses hinter das Mitverschulden der Frau nach § 254 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) vollständig zurück und sie hat keinen Anspruch auf Zahlung von Schadensersatz und Schmerzensgeld.

Fahrer hat keine Kontrollpflicht
Nach dem verlorenen Prozess legte die Frau Berufung beim Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main – mit Erfolg. In ihrem Urteil sprachen die Richter der Frau einen Anspruch auf Schadensersatz und Schmerzensgeld nach §§ 280, 249, 253 BGB gegen das Busunternehmen zu. Richtigerweise waren die Richter des LG davon ausgegangen, dass sich ein Fahrgast nach Betreten eines öffentlichen Verkehrsmittels selbst überlassen ist und der Fahrer sich vor dem Anfahren nicht davon überzeugen muss, dass der Fahrgast tatsächlich sitzt oder fest steht und sich auch festhält.

Unfallhergang darf nicht nur bestritten werden
Die Frau führte sowohl in der Klageschrift als auch in der Verhandlung detailliert aus, wie es zu dem Sturz kam. Sie stieg in den Linienbus, kaufte beim Fahrer eine Fahrkarte und wollte den Sitzplatz direkt hinter dem Busfahrer besteigen. Als der Bus dann ruckartig losfuhr, konnte sie sich wegen an dieser Stelle nicht vorhandener Halteeinrichtungen nicht ausreichend festhalten und stürzte. Nach ihren Angaben hat der Fahrer nach dem Unfall selbst gesagt: „Ich habe geglaubt, sie sitzt.“ Das beklagte Busunternehmen hat diesen Vortrag der Klägerin nicht ausreichend bestritten. Im vorliegenden Fall war ein bloßes Bestreiten nach § 138 BGB gerade nicht ausreichend. Die Richter gaben dem Unternehmen im Rahmen der sekundären Darlegungslast die Möglichkeit, den genauen Unfallmechanismus durch eine Befragung des Fahrers aufzuklären. Eine solche Befragung fand nicht statt.

Bisherige Aufklärung der Frau ausreichend
Die Richter stellten in ihrem Urteil fest, dass die Frau durch die Vorlage der Fahrscheine genügend dazu beigetragen hat, den Bus und den Fahrer zu identifizieren und somit eine weitere Aussage zum Unfallmechanismus durch den Fahrer zu erhalten. Mittels dieser Fahrscheine konnte recherchiert werden, welcher Bus benutzt wurde, welcher Busfahrer den Bus fuhr und in welche Fahrtrichtung der Bus fuhr. Das Busunternehmen hat in den Unterlagen jedoch nicht ausreichend dokumentiert, was für ein Bus bei der fraglichen Fahrt zum Einsatz gekommen war, und welcher Busfahrer den Bus steuerte. Fest steht nur, dass der in den Unterlagen aufgeführte Fahrer den Unfallbus nachweislich nicht gefahren hat. Der offensichtliche Fahrertausch wurde auch nirgends dokumentiert. Das Unternehmen erhielt vom Senat des Gerichts die Möglichkeit einer Stellungnahme, nutzte diese aber nicht. Lediglich die Unfallversion der Frau wurde vom Unternehmen bestritten. Das ist allerdings nicht ausreichend. Der Unfall hätte aus Sicht des betroffenen Busfahrers geschildert werden müssen. Dies ist aber nicht möglich, da nicht bekannt ist, wer den Bus tatsächlich gefahren hat.

Frau hat Anspruch auf Schadensersatz und Schmerzensgeld
Im Urteil wurde zunächst festgestellt, dass das Unternehmen die Gefährdungslage nach § 7 Straßenverkehrsgesetz (StVG) überhaupt erst geschaffen hat und folglich grundsätzlich nach §§ 7 Abs. 2 StVG, 115 Versicherungsvertragsgesetz (VVG) für den Schaden der Klägerin haften muss. Nach Meinung der Richter war die Frau offensichtlich schon vor dem Unfall körperlich beeinträchtigt. Dies hätte der Fahrer des Busses erkennen können und darauf Rücksicht nehmen müssen. Im vorliegenden Fall trägt die Frau ein Mitverschulden in Höhe von 50 %. Sie hätte sich, wie jeder Fahrgast in gleicher Situation, jederzeit einen so festen Stand verschaffen müssen, dass sie auch beim Anfahren nicht stürzt. Selbst wenn in dem betreffenden Bus tatsächlich keine Haltevorrichtungen vorhanden waren, was durch die fehlende Dokumentation nicht überprüft werden kann, hätte sich die Frau stattdessen am Sitz festhalten können. Unter Berücksichtigung ihres Mitverschuldens erhält die Frau 5000 Euro, die Hälfte ihres verlangten Schadensersatzes und Schmerzensgeldes. Zudem wurden in dem Urteil ihre Ansprüche auf Feststellung von möglichen Zukunftsschäden festgestellt.

(OLG Frankfurt am Main, Urteil v. 19.02.2015, Az.: 22 U 113/13)

Gabriele Weintz
Wirtschaftsjuristin LL.B. und Redakteurin bei anwalt.de