Urteil des VG Stuttgart vom 09.07.2014

VG Stuttgart: aufschiebende wirkung, nebenanlage, offene bauweise, befreiung, bauverbotszone, baulinie, subjektives recht, terrasse, überbaubarkeit, überschreitung

VGH Baden-Württemberg Beschluß vom 9.7.2014, 8 S 39/14
Leitsätze
Zum Begriff der Nebenanlage in § 7 der Ortsbausatzung der Landeshauptstadt Stuttgart vom 25.
Juni 1935
Tenor
Die Beschwerden der Antragsteller gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom
5. Dezember 2013 - 13 K 3224/13 - werden zurückgewiesen.
Die Antragsteller zu 1 und 2 - als Gesamtschuldner - und die Antragstellerin zu 3 tragen jeweils
die Hälfte der Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten
der Beigeladenen.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 15.000,- EUR festgesetzt.
Gründe
I.
1 Die Beschwerden sind - entgegen der Auffassung der Beigeladenen -zulässig.
Insbesondere sind sie innerhalb der Frist des § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO begründet
worden. Die Beschwerdeschrift vom 13.01.2013 enthält auch einen den Erfordernissen
des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO genügenden Antrag. Zwar ist der ausdrücklich formulierte
Antrag erkennbar unvollständig, denn wörtlich heißt es in der
Beschwerdebegründungsschrift insoweit:
2
„unter Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 5. Dezember
2013 die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragsteller vom 7. August 2013
gegen“.
3 Jedoch kann ein ausdrücklicher Antrag sogar vollständig entbehrlich sein, wenn aufgrund
der Beschwerdebegründung das Rechtsschutzziel unzweifelhaft feststeht (VGH Baden-
Württemberg, Beschluss vom 01.07.2002 - 11 S 1293/02 - NVwZ 2002, 1388; Kaufmann,
in: Posser/Wolff, BeckOK VwGO, Stand: 01.01.2014, § 146 Rn. 13 m.w.N.). So liegt der
Fall hier. Das Antragsfragment lässt die angegriffene Entscheidung eindeutig erkennen.
Die Beschwerdebegründung lässt allein den Schluss zu, dass mit den Beschwerden die
vollständige Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Widersprüche der Antragsteller
verfolgt werden soll, was sich aus Seite 5 der Beschwerdebegründung ergibt. Dort wird als
Ziel der Beschwerde die Anordnung der aufschiebenden Wirkung bezeichnet.
II.
4 Die Beschwerden sind aber nicht begründet. Mit dem angefochtenen Beschluss hat das
Verwaltungsgericht es abgelehnt, die aufschiebende Wirkung der Widersprüche der
Antragsteller gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 04.07.2013
anzuordnen. Gegenstand der angegriffenen Baugenehmigung ist die Errichtung „eines
ökologischen Wohnhauses“ einschließlich einer Kleinwindkraftanlage (Windpillar). Die im
Beschwerdeverfahren dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat nach § 146 Abs.
4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, geben zu einer Änderung des Beschlusses des
Verwaltungsgerichts keinen Anlass.
5 1. a) Das Verwaltungsgericht hat entschieden, dass die in stets widerruflicher Weise
genehmigte Kleinwindkraftanlage nicht gegen die mit dem „Stadtbauplan 1914/018
betreffend den Bereich bei den Hasenberg - Anlagen zwischen Osiander-Straße und
Jägerhaus“ festgesetzte Art der baulichen Nutzung -Landhausgebiet (Baustaffel 9) der
Ortsbausatzung der Antragsgegnerin vom 25.06.1935 (OBS) verstoße. Es handele sich
bei ihr um eine zulässige Nebenanlage im Sinne von § 7 OBS. Zwar seien in der
Vorschrift nur Stallgebäude, Kraftwagenräume und Waschhäuser ausdrücklich bezeichnet.
Eine Auslegung der Regelung unter Berücksichtigung der nunmehr für Baugebiete nach
der Baunutzungsverordnung geltenden Vorschriften ergebe, dass die dem Wohnen
dienenden Anlagen zulässig sein sollen, soweit sie keinen eigenen, selbstständigen
Nutzungszweck erfüllten bzw. eine eigene Nutzungsart darstellten. Die
Kleinwindkraftanlage erfülle hier keinen selbstständigen Zweck, sondern eine
Hilfsfunktion für das Wohnen, weil der damit erzeugte Strom im Gebäude verbraucht
werden solle. Es liege daher keine gewerbliche Nutzung vor.
6 b) Die Antragsteller bringen hiergegen vor, dass es sich bei der Kleinwindkraftanlage um
keine Nebenanlage handele. Die Ortsbausatzung enthalte keine Legaldefinition des
Begriffs der Nebenanlage, es könne jedoch auf § 14 BauNVO zurückgegriffen werden.
Danach seien Nebenanlagen untergeordnete Anlagen, die dem Nutzungszweck des
Baugebiets dienten und seiner Eigenart nicht widersprächen. Die Nebenanlage müsse
räumlich und funktional untergeordnet sein. Die Unzulässigkeit der Kleinwindkraftanlage
ergäbe sich hier daraus, dass es die optisch dominierende Anlage auf dem Baugrundstück
sein werde, weil das Wohnhaus vollständig unterirdisch errichtet werden solle. Neben
einem Schornstein werde sie die einzige aufstehende Baulichkeit auf dem Grundstück
sein. Weiter widerspreche sie der Eigenart des Baugebiets. Denn das Baugebiet sei durch
eine nicht intensive Ausnutzung der Grundstücke durch bauliche Anlagen geprägt. Es
komme zu einer nachhaltigen, weithin sichtbaren optischen Beeinträchtigung. Weiter
seien im Landhausgebiet nur Gebäude zulässig, die ausschließlich oder zum
überwiegenden Teil zum Wohnen dienten. Ausnahmsweise seien Gebäude, die der
Bildung, der Erholung, der Krankenpflege oder öffentlichen Versorgungseinrichtungen
dienten, zulässig. Damit sei das Landhausgebiet mit dem reinen Wohngebiet aus § 3
BauNVO vergleichbar. Das Bundesverwaltungsgericht habe entschieden, dass Lage,
Größe und Zuschnitt des Baugrundstücks wie der Grundstücke des Baugebiets
entscheidend dafür seien, ob eine Windenergieanlage als Nebenanlage der Eigenart des
Baugebiets widerspreche oder nicht. Die Weiträumigkeit oder Dichte der Bebauung sei
eine Eigenart des Baugebiets, die gerade für die Zulässigkeit einer Windenergieanlage
als Nebenanlage von entscheidender Bedeutung sei. Zwar mögen hier die kleinflächige
Bebaubarkeit und geringe Ausnutzbarkeit der Grundstücke sowie die Weiträumigkeit des
Baugebiets zu Gunsten der Zulässigkeit von Windkraftanlagen sprechen. Jedoch belegten
diese Aspekte auch, dass das geplante Vorhaben der Zweckbestimmung des Baugebiets
widerspreche, weil es von nicht intensiver Ausnutzung der Grundstücke durch bauliche
Anlagen geprägt sei und dass angesichts der planerischen Vorgaben dem Gebiet ein
erhöhter Wohnwert zugedacht sei.
7 c) Mit diesen Einwendungen vermögen die Beschwerden die Erwägungen des
Verwaltungsgerichts nicht mit Erfolg in Zweifel zu ziehen.
8 aa) Die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass die Kleinwindkraftanlage eine nach § 7
OBS zulässige Nebenanlage sei, trifft zu. Dies gilt auch für den Fall, dass der Begriff der
Nebenanlage im Sinne des § 7 Abs. 1 OBS im gleichen Sinne zu verstehen sein sollte wie
derjenige der untergeordneten Nebenanlage aus § 14 Abs. 1 BauNVO. Denn bei der hier
umstrittenen Kleinwindkraftanlage handelt es sich um eine nach diesem Maßstäben
untergeordnete Nebenanlage. Die von den Beschwerden aufgeworfene Rechtsfrage zum
Gleichlauf von § 7 OBS und § 14 Abs. 1 BauNVO kann daher offen bleiben,
9 (1) Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 OBS - die Ortsbausatzung gilt nach § 173 Abs. 3 Satz 1 BBauG
1960 als nicht-qualifizierter übergeleiteter Bebauungsplan fort (ständige Rechtsprechung
des Senats, vgl. u.a. Senatsurteile vom 25.02.1993 - 8 S 287/92 - VBlBW 1993, 420 und
vom 02.11.2006 - 8 S 1891/05 - BauR 2007, 1373) - dürfen im Landhausgebiet,
abgesehen von Nebenanlagen (Stallgebäuden, Kraftwagenräumen, Waschhäusern und
dgl.), nur Gebäude errichtet werden, die ausschließlich oder zum überwiegenden Teil zum
Wohnen dienen. Es kann offen bleiben, ob sich aus den in § 7 Abs. 1 OBS beispielhaft
aufgezählten Nebenanlagen ergibt, dass der Nebenanlagenbegriff der Ortsbausatzung der
Antragsgegnerin ebenso wie derjenige des § 14 BauNVO eine funktionale Zuordnung zur
Hauptnutzung voraussetzt. Die Nebenanlage muss der Hauptnutzung dienen und ihr
insofern untergeordnet sein. Die Frage der Unterordnung unter eine Hauptnutzung ist bei
einem Vorhaben im Sinne von § 14 Abs. 1 BauNVO nach qualitativen wie quantitativen
Kriterien zu beantworten, wobei sowohl Kriterien wie die Grundfläche und die Höhe der
Anlagen und ihr Verhältnis als auch der optische Gesamteindruck relevant sein können
(vgl. zu § 14 Abs. 1 BauNVO: BVerwG, Urteil vom 28.04.2004 - 4 C 10.03 - NVwZ 2004,
1244 (1246)).
10 (2) Gemessen an diesen Maßstäben handelt es sich bei der Kleinwindkraftanlage um eine
untergeordnete Nebenanlage. Sie ist der genehmigten Wohnnutzung auf dem Grundstück
der Beigeladenen funktional zugeordnet, da sie der Energiegewinnung für das
Hauptvorhaben dient. Das impliziert unmittelbar auch ihre funktionale Unterordnung. Die
räumlich gegenständliche Zuordnung ergibt sich hier aus ihrer Errichtung auf dem
gleichen Baugrundstück. Die Kleinwindkraftanlage ist weiter räumlich-gegenständlich der
Wohnnutzung untergeordnet, auch wenn sie optisch allein nach außen in Erscheinung
treten wird, weil die Wohnnutzung im Wesentlichen unterhalb der Geländeoberfläche
geplant und genehmigt ist. In einem solchen Fall kann der Gesamteindruck nicht
schematisch dahingehend gewürdigt werden, dass die Nebenanlage als einzig nach
außen sichtbar hervortretende Nutzung des Grundstücks die Hauptnutzung optisch
dominiere und deshalb nicht mehr untergeordnet sei. Vielmehr ist die Nebenanlage zum
Gesamtvorhaben ins Verhältnis zu setzen. Bei einer Höhe des Windpillars von 7,50 m tritt
dieser gegen ein Bauvorhaben mit einer maximalen Gesamthöhe bzw. -tiefe von 6,34 m
und einer minimalen Gesamthöhe von 3,75 bei wertender Betrachtung nur untergeordnet
hervor. Die von der Kleinwindkraftanlage in Anspruch genommene Fläche - die Anlage
weist einen Durchmesser von einem Meter auf - ist im Vergleich zu der restlichen
baulichen Anlage geradezu verschwindend gering und damit qualitativ wie quantitativ
untergeordnet. Insbesondere führt die Nutzung des Grundstücks zur Gewinnung von
Energie für die Wohnnutzung hier entgegen der Auffassung der Antragsteller zu keiner
intensiven Grundstücksausnutzung mit erheblichen optischen Beeinträchtigungen.
11 bb) Unabhängig von der Frage, ob für Nebenanlagen im Sinne des § 7 Abs. 1 OBS
entsprechend den Vorgaben des § 14 Abs. 1 BauNVO gleichsam als ungeschriebenes
Tatbestandsmerkmal zu prüfen ist, ob die Nebenanlage der Eigenart des Baugebiets nicht
widerspricht, vermag der entsprechende Vortrag der Antragsteller ihren Beschwerden
deshalb nicht zum Erfolg zu verhelfen, weil der Windpillar der Eigenart des
Landhausgebiets nicht widerspricht.
12 (1) Maßgebend für die Beurteilung der Eigenart des konkreten Baugebiets ist die
Bewertung des Einzelfalls, bei der Lage, Größe und Zuschnitt des Baugrundstücks sowie
der Grundstücke des Baugebiets überhaupt in den Blick zu nehmen sind. Je
„weiträumiger“, „aufgelockerter“ die Grundstücke bebaut sind, desto eher sind sie
aufnahmefähig für Windkraftanlagen, ohne dass die Eigenartigkeit des Baugebiets
entgegenstünde. Dagegen hat ein Gebiet mit kleinen Grundstücken, einer hohen
Grundflächenzahl und großen überbaubaren Grundstücksflächen, wie z.B. eine
Reihenhaussiedlung, jedenfalls tendenziell eine die Zulässigkeit von
Windenergieanlagen ausschließende Eigenart (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.02.1983 - 4 C
18.81 - BVerwGE 67, 23 (27 f.); Senatsurteil vom 26.06.1998 - 8 S 882/98 - NVwZ 1999,
548 (549)). Der Eigenart des konkreten Baugebiets kann demnach eine Nebenanlage
auch dann widersprechen, wenn sie zu bestimmten optischen Beeinträchtigungen führt.
Diese müssen allerdings städtebaulich erheblich sein und daher an städtebaulich
erheblichen Kategorien (insbesondere also Art und Maß der baulichen Nutzung sowie die
überbaubare Grundstücksfläche) festzumachen sein (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil
vom 19.11.2003 - 5 S 2726/02 -BauR 2004, 1909 (1911)).
13 (2) Wie die Antragsteller selbst einräumen, ist bereits die kleinflächige Bebaubarkeit und
die geringe Ausnutzbarkeit der Grundstücke sowie die Weiträumigkeit des Baugebiets ein
erhebliches Indiz dafür, dass die Kleinwindkraftanlage der Eigenart des Baugebiets nicht
widerspricht. Der von ihnen herangezogene „erhöhte Wohnwert“, der großzügige
Gebietscharakter und die Schutzwürdigkeit der Halbhöhenlage vermögen Gegenteiliges
nicht zu begründen. Die behauptete nachhaltige, weithin sichtbare optische
Beeinträchtigung, an deren tatsächlichem Vorliegen der Senat durchaus erhebliche
Zweifel hat, kann jedenfalls nicht dazu führen, dass ein Widerspruch gegen die Eigenart
des Baugebiets angenommen werden kann. Denn vor bloßen optischen Beeinträchtigung
gewährt § 7 OBS ebenso wenig Schutz wie § 14 Abs. 1 BauNVO (vgl. Bayerischer VGH;
Urteil vom 19.05.2011 - 2 B 11.397 -NVwZ-RR 2011, 851 (853)), weil allein gestalterische
Erwägungen bei der Bestimmung der konkreten Eigenart eines Baugebiets keine
Bedeutung haben. Ebenso wenig vermag der „Rahmenplan Halbhöhenlagen“ der
Antragsgegnerin, der keine rechtliche Außenwirkung entfalten kann, die Eigenart des
Baugebiets zu determinieren. Weshalb die Kleinwindkraftanlage schließlich mit einem
„erhöhten Wohnwert“, nach welchen Maßstäben dieser auch immer bestimmt werden
könnte, unvereinbar sein soll, wird mit der Beschwerde nicht erläutert und erschließt sich
dem Senat auch nicht.
14 Die von den Antragstellern mit der Beschwerde unter dem Gesichtspunkt der „optischen
Beeinträchtigungen“ geltend gemachten Einwände ziehen die Auffassung des
Verwaltungsgerichts, dass es sich bei dem Windpillar um eine zulässige Nebenanlage
handele, ebenfalls nicht mit Erfolg in Zweifel. Denn die auf die Störung des bisher freien
und unverbauten Blicks im Außenwohnbereich abstellende Argumentation orientiert sich
bereits nicht an städtebaulich relevanten Beurteilungskriterien.
15 2. a) Das Verwaltungsgericht hat weiter entschieden, dass der Windpillar bei einer
Windgeschwindigkeit von 10 m/s in zwei Meter Entfernung eine Lautstärke von 36 dB(A)
entwickele, auch nach Auffassung der Antragsteller diese Windgeschwindigkeit nicht
erreicht werde und deshalb eine Überschreitung des für reine Wohngebiete bei Nacht
maßgeblichen Immissionsrichtwerts von 35 dB(A) auf den etwa vier Meter entfernten
Grundstücken der Antragsteller nicht zu befürchten sei. Weiter sei nicht ersichtlich, dass
der sich vertikal drehende Rotor unzumutbare Reflexionen verursache.
16 b) Die Antragsteller machen insoweit geltend, das Vorhaben sei wegen der
Kleinwindkraftanlage rücksichtslos. Das Verwaltungsgericht verkenne, dass in der
Baugenehmigung ein Wert von nachts 29 dB(A) festgeschrieben sei. Es sei keinesfalls
ausgeschlossen, dass der festgesetzte Grenzwert überschritten werde. Dies gelte
insbesondere für das Wohngebäude der Antragsteller zu 1 und 2. Die Antragsteller hätten
auch nicht vorgetragen, dass die dem maximalen Immissionswert von 36 dB(A) zugrunde
gelegte Windgeschwindigkeit von 10 m/s niemals erreicht werde. Vielmehr hätten sie
belegt, dass eine solche Windgeschwindigkeit nicht dauerhaft erreicht und die Anlage
daher bei weitem nicht die vom Hersteller angegebenen Werte erzielen könne. Bisher
hätten weder die Beigeladene noch die Antragsgegnerin Belege dafür vorgelegt, die eine
Einhaltung der in der Baugenehmigung festgesetzten Grenzwerte als realistisch
erscheinen ließen. Wären die Werte nicht einzuhalten, so wäre die Baugenehmigung
deshalb rechtswidrig. Für abschließende Feststellungen bedürfte es eines
Sachverständigengutachtens. Dies sei aber nicht im Verfahren des vorläufigen
Rechtsschutzes einzuholen. Es sei auch mit störenden Licht- und Schattenwirkungen zu
rechnen. Das Verwaltungsgericht unterstelle das Gegenteil, ohne dies zu begründen. Die
Annahme des Verwaltungsgerichts, unzumutbaren optischen Beeinträchtigungen könne
durch eine reflexionsarme Ausführung der Lamellen entgegengewirkt werden, verfange
nicht, denn bei langsamen Drehbewegungen könne ein „Diskoeffekt“ entstehen, der
unabhängig von der Materialbeschaffenheit des Rotors sei. Es handele sich um keine
Reflexion. Im Übrigen sei eine solche Ausführung der Lamellen auch nicht in der
Baugenehmigung vorgesehen. Schließlich werde die Kleinwindkraftanlage wegen ihrer
beträchtlichen Höhe bei tiefstehender Sonne Schatten werfen. Sie werde gemessen von
ihrem Mast aus einen Abstand von nur drei Metern zur Grundstücksgrenze der
Antragsteller zu 1 und 2 haben.
17 c) Auch dieses Vorbringen vermag den angegriffenen Beschluss nicht erfolgreich in
Zweifel zu ziehen.
18 aa) Zutreffend gehen die Antragsteller davon aus, dass allein dann, wenn die in der
Baugenehmigung festgesetzten Grenzwerte nicht eingehalten werden könnten, die
Baugenehmigung aus immissionsschutzrechtlichen Gründen rechtswidrig sein kann.
Denn für den Fall, dass die Grenzwerte eingehalten werden können, sie aber im konkreten
Einzelfall überschritten würden, handelte die Beigeladene insoweit außerhalb des
Genehmigungsumfangs. Dass insoweit der Vollzug der Baugenehmigung behördliche
Aufsichtsmaßnahmen erfordern könnte, steht der Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung
nicht entgegen (Senatsurteil vom 01.07.2011 - 8 S 2581/10 - BauR 2011, 1800 (1802)).
Die Antragsteller haben mit der Beschwerde nicht dargelegt, dass das Einhalten der in der
Baugenehmigung festgesetzten Grenzwerte unmöglich oder unwahrscheinlich ist.
Wahrscheinlich bedarf es insoweit auch keines Sachverständigengutachtens, wie die
Antragsteller meinen. Denn wenn bei extremen Windgeschwindigkeiten tatsächlich die
Grenzwerte erreicht oder überschritten würden, könnten die Betreiber des Windpillars
diesen nötigenfalls außer Betrieb nehmen, um ihren Pflichten aus der Baugenehmigung
nachzukommen. Weshalb dies nicht möglich sein sollte, legen die Antragsteller mit der
Beschwerde nicht dar. Nur ergänzend sei darauf verwiesen, dass der Hersteller des
Windpillars selbst angibt, dass die Anlage im Verhältnis zum Windgeräusch immer lautlos
laufe und die Angabe von 36 dB(A) bei 10 m/s sich auf eine theoretisch mögliche
Schallemission, die im Abstand bis zu zwei Metern wahrzunehmen sei, nicht aber um eine
Schallimmission handele (Schreiben vom 27.11.2012, Baugenehmigungsakte Blatt 43).
19 bb) Zutreffend weist die Beschwerde auch darauf hin, dass es auf eine mögliche, von dem
Verwaltungsgericht zur Argumentation herangezogene reflexionsarme Ausführung der
Lamellen nicht ankommen kann, weil eine solche Materialbeschaffenheit in der von den
Antragsteller angegriffenen Baugenehmigung nicht gefordert wird. Jedoch geht es den
Antragstellern mit ihrem Beschwerdevorbringen auch nicht um das klassischerweise als
Disco-Effekt beschriebene Phänomen der Lichtreflexe (Licht fällt auf die Lamellen und
wird von ihnen reflektiert), sondern um den von ihnen behaupteten Schattenwurfeffekt
durch die Drehbewegungen der Lamellen. Dass es zu einem solchen Effekt in einem nicht
nur unerheblichen - und damit rücksichtslosen - Ausmaß kommen könnte, haben die
Antragsteller aber weder erstinstanzlich noch mit der Beschwerde substantiiert
vorgetragen. Vielmehr bleibt es insoweit bei schlichten Behauptungen. Im Unterschied zu
einem „klassischen“ Windrad drängt sich ein solcher Effekt angesichts des - recht geringen
- Durchmessers des Windpillars hier auch nicht auf. Allerdings dürfte es angezeigt sein,
dass die Widerspruchsbehörde die Frage der Rücksichtslosigkeit insoweit näher aufklärt
und die Baugenehmigung gegebenenfalls nachbessert. Nach dem derzeitigen
Kenntnisstand ist es allerdings nicht gerechtfertigt, aufgrund der verbleibenden
Restunsicherheiten die aufschiebende Wirkung der Widersprüche der Antragsteller
anzuordnen.
20 3. Soweit die Antragsteller kritisieren, das Verwaltungsgericht habe sich mit dem Vortrag
nicht auseinandergesetzt, dass die Kleinwindkraftanlage optisch unzumutbar sei und dass
es unter Berücksichtigung der Lärmimmissionen, des Schattenwurfs und der optischen
Beeinträchtigungen sich insgesamt als rücksichtslos erweise, führt dies ebenfalls nicht
zum Erfolg der Beschwerde. Der Beschwerdevortrag zum Schattenwurf erschöpft sich in
einer unsubstantiierten Behauptung (II. 2. c) bb)) und die Angriffe gegen die
Bestimmungen zum Immissionsschutz verfangen nicht (II. 2. c) aa)). Daher kann insoweit
auch keine Gesamtschau der Elemente zu einer Rücksichtslosigkeit des Vorhabens
führen, wobei das Gebot der Rücksichtnahme insoweit über den
Rechtsanwendungsbefehl aus § 173 Abs. 3 BBauG, § 233 Abs. 3 BauGB in Verbindung
mit § 7 OBS verankert sein dürfte (vgl. zur Bedeutung von § 173 Abs. 3 BBauG für den
Drittschutz: BVerwG, Urteil vom 23.08.1996 - 4 C 13.94 - BVerwGE 101, 364 (366)).
Ebenso wenig vermögen Beeinträchtigungen der bisherigen unverbauten Aussicht, das
Entstehen eines optischen „Ensembles von Turmbauten“ im Zusammenspiel mit einem
Schornstein und die Nähe eines Freisitzes zu der geplanten Kleinwindkraftanlage einzeln
oder im Gesamtzusammenhang einen Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme zu
begründen. Weder der Umstand, dass keine vergleichbaren Anlagen in dem Baugebiet
anzutreffen sind, noch der behauptete Wertverlust der Grundstücke der Antragsteller noch
das behauptete geringe Gewicht der Interessen der Beigeladenen wegen einer angeblich
geringen Energieausbeute der Anlage sind dazu geeignet, die Rechte der Beigeladenen
zur Ausnutzung der ihr durch den Stadtbauplan ermöglichten Bebauung ihres Grundstücks
auch mit einer Nebenanlage einzuschränken. Letztlich benennen die Antragsteller mit den
optischen Beeinträchtigungen und dem möglichen Wertverlust ihrer Grundstücke keine für
sich genommen rechtlich geschützten Interessen, auf die ein Nachbar Rücksicht nehmen
müsste, ohne dass Besonderheiten wie etwa ausdrückliche Regelungen in einem
Bebauungsplan, vorliegen. Solche rechtlich relevanten Besonderheiten werden mit den
Beschwerden aber nicht geltend gemacht.
21 4. a) Die Antragsteller rügen weiter, dass das Verwaltungsgericht den Vortrag zur
Unzulässigkeit des Schornsteins übergangen habe. Hinsichtlich des Schornsteins seien
die Bauantragsanlagen in vielerlei Hinsicht unvollständig. Weder sei ersichtlich, wo er
errichtet werden solle, noch welche Ausgestaltung oder Höhe er haben werde. Die
Feuerungsanlage unterfalle dem Anwendungsbereich der 1. BImSchV. Das bedeute, dass
zur Abführung der Immissionen ein Schornstein notwendig sei, der bei der Verwendung
fossiler Brennstoffe abhängig von der Gesamtwärmeleistung entweder in einem Umkreis
von 15 Metern die Oberkante von benachbarten Lüftungsöffnungen, Fenstern und Türen
um mindestens einen Meter oder die höchste Kante des Dachfirstes um mindestens drei
Meter überragen müsse oder alternativ mindestens zehn Meter über dem Gelände liegen
müsse. Angesichts der unvollständigen Bauunterlagen sei es nicht möglich, die
Einhaltung dieser drittschützenden Maßgaben zu prüfen. Unabhängig davon sei der
Schornstein, der etwa acht bis zwölf Meter hoch werden müsse, mit seinen Dimensionen
gegenüber den Antragstellern rücksichtslos. Mit Schriftsatz vom 23.04.2014, beim
Gerichtshof eingegangen am 25.04.2014 haben die Antragsteller weitergehend gerügt,
dass aufgrund der besonderen Verhältnisse des Vorhabens der Schornsteinseine
eigenständige aufstehende Baulichkeit sei, die Abstandsflächen einzuhalten habe. Es
spreche viel dafür, dass die Vorgaben des § 5 LBO insoweit nicht eingehalten werden
könnten.
22 b) Es kann dahinstehen, ob aus dem Umstand, dass das Verwaltungsgericht auf die
Ausführungen der Antragsteller zur Rechtswidrigkeit des Schornsteins und der fehlenden
Überprüfbarkeit der Bauvorlagen in seinem Beschluss nicht eingegangen ist, auf einen
Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG zu schließen ist. Denn die Gerichte sind nicht
verpflichtet, sich mit jedem Vorbringen in den Entscheidungsgründen
auseinanderzusetzen. Um einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG festzustellen, müssen
im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass das Vorbringen eines
Beteiligten überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung nicht
erwogen wurde (st. Rspr. BVerfG, Urteil vom 22.11.1983 - 2 BvR 399/81 - BVerfGE 65, 293
(295) und zuletzt Beschluss (K) vom 30.09.2013 - 1 BvR 3196/11 - ZfWG 2014, 24).
Jedenfalls vermag das Vorbringen der Beschwerde nicht zum Erfolg zu verhelfen, weil die
behaupteten Rechtsverletzungen der Antragsteller nicht vorliegen.
23 aa) Dem mit einem Genehmigungsvermerk versehenen, maßstabsgetreuen „Deckblatt“
Schnitt AA aus den Bauvorlagen vom 19.06.2013, geändert am 20.06.2013, ist die genaue
Lage des Schornsteins ebenso zu entnehmen wie den Grundrissen EG und OG, dem
Freiflächenplan sowie den Ansichten „01 und 02“. Da die genannten Dokumente
maßstabsgetreue Zeichnungen enthalten, ist ihnen auch die Höhe des geplanten
Schornsteins eindeutig zu entnehmen.
24 bb) § 19 Abs. 1 Nr. 2 1. BImSchV vermag demjenigen Dritten ein subjektives Recht zu
vermitteln, der innerhalb eines Umkreises von 15 Metern um die Austrittsöffnung eines
Schornsteins im Sinne des Absatzes 1 (1. Halbsatz) oder innerhalb des erweiterten
Umkreises (2. Halbsatz) über Lüftungsöffnungen, Fenster oder Türen an seinem Gebäude
verfügt. Ein Verstoß gegen diese Vorschrift zu Lasten der Antragsteller ist hier aber
deswegen nicht festzustellen, weil ausweislich der Bauvorlagen der Schornstein für die
Feuerungsanlage, die eine Nennwärmeleistung von weniger als 50 kW aufweisen soll,
weiter als 15 Meter von den Wohngebäuden der Antragsteller entfernt errichtet werden
soll.
25 cc) Die Rüge des angeblichen Verstoßes gegen die Vorgaben des § 5 LBO durch den
Schornstein ist nach Ablauf der einmonatigen Begründungsfrist des § 146 Abs. 4 Satz 1
VwGO erhoben worden und damit für das Gericht nicht mehr berücksichtigungsfähig (§
146 Abs. 4 Satz 6 VwGO). Insbesondere waren die Antragsteller nicht gehindert, diese
Erwägungen fristgerecht vorzubringen. Der Umstand, dass den Antragstellern die
entsprechenden Planunterlagen nicht bekannt gewesen sind, hinderte eine
entsprechende, fristgerechte Beschwerdebegründung nicht. Bereits aus der angegriffenen
Baugenehmigung vom 04.07.2013 selbst ist ersichtlich, dass ihr die Bauzeichnungen vom
19.06.2013 zugrunde liegen. Aus diesen ergibt sich die genehmigte Lage und die
genehmigte Höhe des Schornsteins. Von diesen Bauvorlagen hätten sich die Antragsteller
und ihr Prozessbevollmächtigter durch Akteneinsicht Kenntnis verschaffen können.
26 Im Übrigen lässt sich auf der Grundlage dieser mit Genehmigungsvermerk versehenen
Bauvorlagen ein Verstoß gegen § 5 LBO durch den Schornstein auch ausschließen.
27 dd) Ausgehend von den Erwägungen unter aa) bis cc) ist eine Rücksichtslosigkeit des
Vorhabens aufgrund des Schornsteins zu Lasten der Grundstücke der Antragsteller
ausgeschlossen.
28 5. a) Weiter machen die Beschwerden geltend, dass die geplante Terrasse im Süden die
im Stadtbauplan von 1914 festgesetzte Baulinie überschreite. Die Terrasse sei ein
Gebäudeteil, der die Baulinie einhalten müsse. Dies ergebe sich aus § 28 Abs. 2 OBS.
Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts sei eine insoweit erforderliche
Befreiung nicht erteilt worden. Straßenseitigen Baulinien könne im Einzelfall
drittschützende Wirkung zukommen, wenn sich aus dem Bebauungsplan ergebe, dass ein
nachbarschaftliches Austauschverhältnis begründet und ein gegenseitiges Verhältnis der
Rücksichtnahme geschaffen werden solle. Dies sei durch das Verwaltungsgericht nicht
gewürdigt worden. Die Baulinie markiere den Beginn der davor liegenden
Bauverbotszone. Im Hinblick auf diese Einschränkung der Überbaubarkeit der
Grundstücksfläche habe der Plangeber ein Austauschverhältnis dergestalt geschaffen,
dass alle vom Bauverbot betroffenen Nachbarn den gleichen Restriktionen unterworfen
seien. Soweit für die Inanspruchnahme der Terrasse, des Weges vom Blauen Weg zur
Terrasse und für die Errichtung von Müllboxen eine Befreiung vom festgesetzten
Bauverbot erteilt worden sei, erweise sich diese als rechtswidrig. Die Antragsteller seien
auch in ihren Rechten verletzt, da bei ihr nicht die gebotene Rücksicht auf die
Nachbarinteressen genommen worden sei. Es spreche bereits viel dafür, dass die
Bauverbotszone auch zur Wahrung nachbarlicher Belange geschaffen worden sei.
Jedenfalls sei das Vorgehen der Beigeladenen rücksichtslos. Denn aus Sicht der
Nachbarn sei es nicht hinzunehmen, dass bei einer so umfassenden und prägnanten
Bebauung der Bauverbotszone eine Ausnahmesituation für die Beigeladene geschaffen
werde. Ähnlich massive Eingriffe in die Bauverbotszone seien in der Umgebung nicht
vorhanden. Es sei vor dem Hintergrund des Gleichbehandlungsgrundsatzes nicht statthaft,
der Beigeladenen eine so umfassende Sonderbehandlung zukommen zu lassen.
29 b) Dieses Vorbringen vermag den Beschwerden nicht zum Erfolg zu verhelfen. Denn
weder der Baulinie, deren Überschreitung geltend gemacht wird, noch der
„Bauverbotszone“ kommt eine nachbarschützende Wirkung zu. Von den genannten
Festsetzungen hat die Baurechtsbehörde auch jeweils eine Befreiung erteilt. Die
Antragstellerin zu 3 ist darüber hinaus von den Festsetzungen und Befreiungen unter
keinen Umständen betroffen.
30 aa) Das Grundstück der Antragstellerin zu 3 ist weder von der Baulinie betroffen noch liegt
es - teilweise - in der Bauverbotszone, in der die Terrasse, der Weg oder die Müllboxen
errichtet werden sollen. Daher kommt eine drittschützende Wirkung der Festsetzungen zu
ihren Gunsten von vorne herein nicht in Betracht, so dass ihre Beschwerde insoweit schon
aus diesem Grund keinen Erfolg haben kann.
31 bb) Aber auch die Beschwerden der weiteren Antragsteller können insoweit keinen Erfolg
haben. Der gerügte Verstoß gegen die festgesetzte Baulinie liegt schon nicht vor, weil
auch von dieser Festsetzung befreit worden ist. Selbst wenn ein Verstoß vorläge, führte
dies nicht zum Erfolg der Beschwerde, da die Festsetzungen nicht zugunsten der
Antragsteller zu 1 und zu 2 drittschützend wirkt.
32 (1) Mit der Befreiung von den „Festsetzungen des Bebauungsplans -Bauverbot“ (Seite 7
der Baugenehmigung vom 04.07.2013) hat die Antragsgegnerin der Sache nach von der
Baulinienfestsetzung befreit. Dies folgt daraus, dass sich Bauverbotsflächen allein aus der
Festsetzung von Baugrenzen oder -linien ergeben. Denn Art. 11 Abs. 4 der
Württembergischen Bauordnung (WürttBauO) vom 28.07.1910 (RegBl. S. 333) ermächtigt
allein zur Festsetzung von Grenzen, innerhalb oder außerhalb derer die Errichtung von
Bauten ausgeschlossen ist. Die sich daraus ergebenden „Bauverbotsflächen“ - genauer
Flächen, die von der Bebauung ganz oder teilweise ausgeschlossen sind - sind das
Ergebnis der Anwendung und Festsetzung dieser Grenzen. Gesetzestechnisch kommen
sie allein in § 5 Abs. 1 und Abs. 2 der Verfügung des Ministeriums des Innern zum Vollzug
der Bauordnung vom 10.05.1911 (RegBl. S. 77) vor. Damit ist eine Befreiung von einem
Bauverbot nach der Württembergischen Bauordnung immer eine Befreiung von der
Baugrenze oder -linie, deren Festsetzung zur Bauverbotszone führt.
33 (2) Regelungen in Ortsbauplänen, die nach den Bestimmungen der §§ 173 Abs. 3 Satz 1
BBauG, 233 Abs. 3 BauGB als Bebauungsplan weitergelten, können dann drittschützende
Wirkung haben, wenn sie eine Funktion erfüllen, der nach geltendem Recht
nachbarschützenden Normen zukommt, denn nur so kann der in § 173 Abs. 3 Satz 1
BBauG angelegte Kontinuitätsgedanke mit dem Ziel einer Integration früherer Pläne in das
System des bundesrechtlichen Bauplanungsrechts erreicht werden (vgl. BVerwG, Urteil
vom 23.08.1996 - 4 C 13.94 - BVerwGE 101, 364). Vorderen, straßenseitigen Baulinien-
oder Baugrenzenfestsetzungen kommen dabei regelmäßig keine drittschützende Wirkung
zugunsten des seitlich angrenzenden Nachbargrundstücks zu (Senatsbeschluss vom
20.01.2005 - 8 S 3003/04 - NVwZ-RR 2005, 397 (398)). Die Beschwerden legen nicht dar,
weshalb hier ausnahmsweise anderes gelten könnte. Denn die Kombination der Baulinie
mit einer „Bauverbotszone“, auf die sie Bezug nehmen, lässt gerade nicht erkennen, dass
der Plangeber hier (auch) ein nachbarschaftliches Austauschverhältnis und nicht allein die
städteplanerische Gestaltung des Baugebiets im Blick gehabt haben könnte. Vielmehr
folgt aus der Festsetzung vorderer Baulinien oder -grenzen zwingend die Bestimmung
nicht überbaubarer Grundstücksflächen (siehe zur heutigen Rechtslage § 23 Abs. 1 Satz 1
BauNVO ; zur Rechtslage 1914: Art. 11 Abs. 4 WürttBauO).
34 cc) Die Befreiung vom Verbot der Errichtung von Bauten in der Bauverbotszone, die sich
nach Art. 11 Abs. 4 WürttBauO durch die Festsetzung von Baugrenzen (hier der Baulinie)
ergibt, verletzt die Antragsteller zu 1 und zu 2 nicht in ihren Rechten.
35 (1) Die Bauverbotszone dient ebenso wenig dem Nachbarschutz wie die Baulinie, deren
Überschreitung seitens der Antragsteller gerügt wird. Auch insoweit gilt zunächst, dass die
Beschwerden nicht darlegen, weshalb hier der Festsetzung einer vorderen nicht
überbaubaren Grundstücksfläche in einer von der Regel abweichenden Weise
nachbarschützende Wirkung zukommen könnte (5. b) bb)).
36 (2) Eine fehlerhafte Befreiung von einer nicht nachbarschützenden Festsetzung kann dem
Nachbarn jedoch auch einen Abwehranspruch vermitteln. Dies gilt dann, wenn nämlich
die Behörde bei ihrer Ermessensentscheidung über die vom Bauherrn beantragte
Befreiung nicht die gebotene Rücksicht auf die Interessen des Nachbarn genommen hat.
Der Drittschutz des Nachbarn bei einer rechtswidrigen Befreiung von einer nicht
nachbarschützenden Festsetzung besteht also nur dann und insoweit, wenn seine
nachbarlichen Interessen nicht hinreichend berücksichtigt worden sind; alle übrigen
denkbaren Fehler einer Befreiung können zwar zur objektiven Rechtswidrigkeit führen,
vermitteln dem Nachbarn aber keinen Abwehranspruch, weil seine eigenen Rechte nicht
berührt werden. Die Frage, ob eine hinreichende Würdigung der nachbarlichen Interessen
erfolgt ist, muss nach den Maßstäben beantwortet werden, die zum nachbarschützenden
Gebot der Rücksichtnahme entwickelt worden sind (BVerwG, Beschluss vom 08.07.1998 -
4 B 64.98 - NVwZ-RR 1999, 8; Senatsbeschluss vom 23.05.2011 - 8 S 978/11 - juris Rn. 6;
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 11.12.2013 - 5 S 922/13 - juris Rn. 10).
37 Ausgehend hiervon vermögen die Antragsteller mit ihren Beschwerden eine
Rücksichtslosigkeit des Vorhabens der Beigeladenen und also eine fehlerhafte
Würdigung ihrer nachbarlichen Interessen nicht darzutun. Weder eine „Ausnahmesituation
für die Beigeladene“ mit einem „massiven Eingriff in die Bauverbotszone“ noch eine
negative Vorbildwirkung weisen darauf hin, dass hier schutzwürdige Interessen gerade
der Antragsteller in qualifizierter und individualisierter Weise missachtet worden sein
könnte, was für einen Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme Voraussetzung wäre
(vgl. BVerwG, Urteil vom 05.12.2013 - 4 C 5.12 - BVerwGE 148, 290 Rn. 21).
38 6. a) Darüber hinaus rügen die Beschwerden, dass für das Vorhaben der Beigeladenen
Seitenabstände nach § 34 OBS einzuhalten seien, diese aber nicht gewahrt würden. Es
handele sich entgegen der Annahme der Baugenehmigung um ein oberirdisches
Gebäude, das die in § 34 Abs. 2 OBS in Verbindung mit dem Planeintrag vorgegebenen
Seitenabstände einhalten müsse. Dieser sei hier 14 m. Das Vorhaben halte aber nur 2,5 m
zum Grundstück der Antragsteller und 2,5 m nach Osten als Abstand ein.
39 b) Auch dieses Vorbringen führt nicht zum Erfolg der Beschwerden. Denn das
Verwaltungsgericht hat zu Recht entschieden, dass § 34 Abs. 1 und Abs. 2 OBS keinen
Drittschutz vermittelt.
40 Bebauungsvorschriften alter Bebauungs- und Ortsbaupläne, die festlegen, dass von den
seitlichen Eigentumsgrenzen zusammen ein bestimmter Abstand einzuhalten ist
(Summenabstand), sind regelmäßig nicht nachbarschützend (Senatsbeschluss vom
24.08.1995 - 8 S 2282/95; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 25.02.1992 - 3 S
309/92 - VBlBW 1992, 344 (346). Dies gilt auch für die in § 34 OBS der Ortsbausatzung
der Antragsgegnerin vom 25.6.1935 (OBS) geregelten Seitenabstände. Dies ergibt sich
zwingend bereits daraus, dass nach § 34 Abs. 3 OBS die Verteilung des
vorgeschriebenen Seitenabstandes auf die beiderseitigen Grenzabstände dem Bauenden
freigestellt ist. Im Übrigen geht die Annahme der Antragsteller fehl, der Seitenabstand solle
(auch) eine offene Bauweise gewährleisten und Vorschriften über die offene Bauweise
seien in der Regel nachbarschützend. Denn die nachbarschützende Wirkung einer
Festsetzung nach § 34 OBS erschöpft sich ausweislich § 34 Abs. 3 OBS darin, die
Einhaltung eines seitlichen Mindestgrenzabstandes von 2,50 m festzuschreiben. Dieser
wird hier jedoch nach dem Beschwerdevorbringen selbst (Beschwerdebegründung S. 25)
eingehalten.
41 7. a) Schließlich machen die Beschwerden geltend, dass sowohl die Befreiung
hinsichtlich der zulässigen überbaubaren Grundstücksfläche als auch hinsichtlich der
zulässigen Gebäudetiefe rechtswidrig erteilt und jeweils die nachbarlichen Interessen
nicht hinreichend gewichtet worden seien.
42 aa) Es sei eine Überbauung von 10% der Grundstücksfläche, hier von 54 m
2
, zulässig. Es
würden aber 111,11 m
2
der Grundstücksfläche und nicht, wie in der Baugenehmigung
unterstellt, 74 m
2
Grundstücksfläche überbaut. Zwar sei die Bestimmung aus § 3 Abs. 1
OBS nicht drittschützend. Die Befreiung sei hier aber schon deswegen objektiv
rechtswidrig erteilt worden, weil die Befreiung nur für eine Überschreitung von 17 m
2
Grundstücksfläche erteilt worden sei. Die Voraussetzungen für eine Befreiung lägen auch
nicht vor. Hingegen käme den nachbarlichen Interessen hier ein starkes Gewicht zu. Die
geringe Überbaubarkeit der Grundstücke ermögliche ein gehobenes Wohnen. Das
Vorhaben laufe dieser Intention zuwider. Auch seien die Antragsteller als unmittelbare
Nachbarn beeinträchtigt. Denn die Nachbarn hätten ein schutzwürdiges Interesse daran,
dass andere Grundstückseigentümer die Restriktionen im Hinblick auf die Überbaubarkeit
der Grundstücksflächen einhielten.
43 bb) Auch die zulässige Gebäudetiefe werde um 50 % überschritten. Diesbezüglich gelte
das Gleiche wie bezüglich der bebaubaren Grundstücksfläche.
44 b) Dieses Vorbringen führt ebenfalls nicht zum Erfolg der Beschwerden.
45 Weder die Vorschriften zur überbaubaren Grundstücksfläche in § 3 Abs. 1 OBS noch
diejenigen in § 43 OBS zur Gebäudetiefe sind nachbarschützend (zu § 3 Abs. 1 OBS:
Senatsbeschluss vom 09.08.1996 - 8 S 2012/96 - NVwZ 1997, 598; zu § 43 Abs. 3 OBS:
Senatsbeschluss vom 16.12.2002 - 8 S 2660/02 - BRS 65 Nr. 119). Daher kommt auch
insoweit eine die Rechte er Antragsteller verletzende Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB
von diesen Vorschriften allein unter dem Gesichtspunkt der nicht hinreichenden
Berücksichtigung nachbarlicher Interessen in Betracht. Dass die Bebauung im Verhältnis
zu den Grundstücken der Antragsteller rücksichtslos wäre, wird mit der Beschwerde aber
nicht dargetan. Die Antragsteller behaupten letztlich keine individuelle Betroffenheit,
sondern machen einen das gesamte Baugebiet umfassenden Anspruch auf Einhaltung
„der Restriktionen im Hinblick auf die Überbaubarkeit der Grundstücksflächen“ geltend.
Eine gerade ihre Interessen als Angrenzer beeinträchtigende tatsächliche Situation wird
von ihnen hingegen gerade nicht vorgebracht. Eine „optische Beeinträchtigung“ alleine
kann nicht zur Rücksichtslosigkeit des Vorhabens der Beigeladenen führen.
III.
46 Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 2, 159, 162 Abs. 3 VwGO. Die
außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind für erstattungsfähig zu erklären, da
diese im Beschwerdeverfahren einen Antrag gestellt und damit ein eigenes Kostenrisiko
übernommen hat (§ 154 Abs. 3 VwGO).
47 Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG
und lehnt sich an Nr. 9.7 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013
(NVwZ 2013, Beilage S. 57) an. Eine Reduzierung des Streitwerts in Anlehnung an Nr. 1.5
des Streitwertkatalogs 2013 kommt nach ständiger Senatsrechtsprechung nicht in
Betracht, da sich die Antragsteller nicht allein gegen die Auswirkungen der zukünftigen
Nutzung des Nachbargrundstücks zur Wehr setzten.
48 Der Beschluss ist unanfechtbar, § 152 Abs. 1 VwGO.