Urteil des VG Neustadt vom 27.07.2010

VG Neustadt: vorzeitige entlassung, besondere härte, zdg, hauptsache, schulausbildung, dienstzeit, erlass, aufnehmen, schule, empfehlung

VG
Neustadt/Wstr.
27.07.2010
3 L 701/10.NW
Verwaltungsgericht Neustadt/Wstr.
Beschluss vom 27.07.2010 - 3 L 701/10.NW
Recht des Zivildienstes
Verwaltungsgericht
Neustadt an der Weinstrasse
Beschluss
In dem Verwaltungsrechtsstreit
des Herrn …
- Antragsteller -
Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwältin Eva Peter, Mundenheimer Straße 231, 67061
Ludwigshafen,
gegen
die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch den Präsidenten des Bundesamtes für den Zivildienst,
Sibille-Hartmann-Straße 2-8, 50964 Köln,
- Antragsgegnerin -
wegen Zivildienstes
hier: Antrag nach § 123 VwGO
hat die 3. Kammer des Verwaltungsgerichts Neustadt an der Weinstraße aufgrund der Beratung vom
27. Juli 2010, an der teilgenommen haben
Vorsitzende Richterin am Verwaltungsgericht Seiler-Dürr
Richterin am Verwaltungsgericht Meyer
Richter Niesler
beschlossen:
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragsteller ab
16. August 2010 bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache über seinen am 11. Mai
2010 gestellten Antrag auf Entlassung aus dem Zivildienst von der Verpflichtung zur Dienstleistung
freizustellen.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 5.000,- € festgesetzt.
Gründe
Der Antrag des Antragstellers auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wegen Ablehnung seines Antrags
auf vorzeitige Entlassung aus dem Zivildienst wegen besonderer Härte ist gemäß § 88
Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – dahin auszulegen, dass er die Verpflichtung der Antragsgegnerin
begehrt, ihn bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache über seinen am 11. Mai 2010
gestellten Entlassungsantrag von Zivildienstleistungen freizustellen. Das Rechtsschutzziel des
Antragstellers besteht darin, dass er wegen seiner zum 16. August 2010 beginnenden Schulausbildung
(Besuch der Berufsoberschule I des Georg-Kerschensteiner-Berufsbildungszentrums – Berufsbildende
Schule Technik 1 – in … zwecks Erwerbs der Fachhochschulreife) seinen noch bis zum 31. Oktober 2010
dauernden Zivildienst nicht mehr erbringen möchte, weil er ansonsten diese Schulausbildung erst zum
8. August 2011 aufnehmen könnte, was bei ihm zu einem zivildienstbedingten Zeitverlust von neun
Monaten und acht Tagen führen würde.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO hat Erfolg.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands
in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden
Rechtsverhältnissen, erforderlich ist, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu
verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Da die einstweilige Anordnung aber die
Hauptsache vorwegnimmt, kommt sie nur dann in Betracht, wenn es für den Antragsteller schlechthin
unzumutbar ist, den Ausgang des Hauptsacheverfahrens abzuwarten. Der Erlass der begehrten
einstweiligen Anordnung muss mithin für den Antragsteller besonders dringlich sein. Von einer
besonderen Dringlichkeit ist, wenn – wie hier – die Freistellung vom Zivildienst im Verfahren nach § 123
Abs. 1 VwGO begehrt wird, nur dann auszugehen, wenn für den Antragsteller eine hohe
Wahrscheinlichkeit des Obsiegens in der Hauptsache besteht und ihm ohne die begehrte Freistellung
schwerwiegende Nachteile drohen, die ihm nicht zuzumuten sind. Der Antragsteller hat die ihm
drohenden schwerwiegenden Nachteile nach § 123 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2
Zivilprozessordnung – ZPO – glaubhaft zu machen.
Unter Anwendung dieser Grundsätze ist vorliegend die Antragsgegnerin im einstweiligen
Rechtsschutzverfahren zu verpflichten, den Antragsteller ab dem 16. August 2010 bis zu einer
rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache über seinen Antrag auf Entlassung aus dem Zivildienst
freizustellen, da sowohl ein Anordnungsanspruch als auch ein Anordnungsgrund gegeben ist.
Der Anordnungsanspruch ergibt sich für den Antragsteller daraus, dass bei ihm die Voraussetzungen für
die Entlassung aus dem Zivildienst gemäß § 43 Abs. 2 Nr. 1 Zivildienstgesetz – ZDG – vorliegen. Nach
dieser Vorschrift kann ein Dienstleistender auf seinen Antrag aus dem Zivildienst entlassen werden, wenn
das Verbleiben im Zivildienst für ihn wegen persönlicher, insbesondere beruflicher oder wirtschaftlicher
Gründe, die nach dem für den Diensteintritt festgesetzten Zeitpunkt entstanden sind, eine besondere Härte
bedeuten würde. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. BVerwG, Urteile vom
13. November 1969 – VIII C 92.69 –, BVerwGE 34, 188 ff., 28. November 1973 – 8 C 166.71 –, 25. Oktober
1978 – VIII C 25.77 –, alle auch juris) kann ein zusätzlicher Zeitverlust von mehr als sechs Monaten
zwischen der vorgesehenen Dienstzeit und dem nächstmöglichen Ausbildungsbeginn eine besondere
Härte darstellen.
Unter Zugrundelegung der vorgenannten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts liegt
vorliegend ein nach dem Dienstantrittszeitpunkt des Antragstellers (1. Februar 2010) eingetretener Grund
vor, der eine besondere Härte im Sinne von § 43 Abs. 2 Nr. 1 ZDG begründet. So hat der Antragsteller
aufgrund seiner Bewerbung vom 9. März 2010 zum 16. August 2010 an der Berufsoberschule I in ... einen
Schulplatz für das Schuljahr 2010/11 erhalten, was er gegenüber der Antragsgegnerin auch durch
Vorlage des entsprechenden Bestätigungsschreibens der Schule vom 23. März 2010 glaubhaft gemacht
hat. Ohne die vom Antragsteller zum 16. August 2010 begehrte vorzeitige Entlassung aus dem noch bis
zum 31. Oktober 2010 dauernden Zivildienst könnte er die beabsichtigte Schulausbildung erst zum
8. August 2011 aufnehmen, wodurch ihm ein über die Zeit des Zivildienstes hinausgehender
zivildienstbedingter Zeitverlust von neun Monaten und acht Tagen (= Zeitraum zwischen dem Ende des
Zivildienstes am 31. Oktober 2010 und dem nächstmöglichen Ausbildungsbeginn am 8. August 2011)
entstehen würde, den er für die von ihm angestrebte schulische Ausbildung auch nicht nutzbar machen
könnte. Damit ist es gerade die begehrte vorzeitige Entlassung, die in der Lage ist, hier einer besonderen
Härte zu begegnen.
Soweit die Antragsgegnerin demgegenüber in ihrem den Antrag des Antragstellers auf vorzeitige
Entlassung ablehnenden Bescheid vom 11. Mai 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4.
Juni 2010 einen Zeitverlust von weniger als drei Monaten errechnete, stellt sich diese Berechnung des
Zeitverlustes durch die Antragsgegnerin als fehlerhaft dar. Nach der Auffassung der Antragsgegnerin sei
ausgehend von dem ohne den Zivildienst möglichen Ausbildungsbeginn (hier: 16. August 2010) darauf
abzustellen, wann der nächstmögliche Termin für den Ausbildungsbeginn nach Ableistung des
Zivildienstes sei (hier: 8. August 2011). Dieser sich dabei ergebende Zeitverlust (hier: 11 Monate und 23
Tage) sei dann um die volle Dauer des Zivildienstes von 9 Monaten (vgl. § 24 Abs. 2 Satz 1 i. V. m.
§ 5 Abs. 1a Wehrpflichtgesetz – WPflG –) zu kürzen, wodurch im Fall des Antragstellers sich ein Zeitverlust
von dann nur 2 Monaten und 23 Tagen errechnet, mithin von weniger als drei Monate. Zur Begründung
dieser Berechnungsmethode beruft sich die Antragsgegnerin auf den als ermessensbindende
Verwaltungsvorschrift zu qualifizierenden Erlass des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend vom 21. Dezember 2009 betreffend die Berechnung des Zeitverlustes als besondere Härte
nach § 43 Abs. 2 Nr. 1 ZDG.
Gemäß diesem Ministerialerlass ist für die Ermittlung des eine besondere Härte im Sinne von §§ 11 Abs. 4
Satz 1 bzw. 43 Abs. 2 Nr. 1 ZDG begründenden Zeitverlustes der Zeitraum zwischen dem ohne den
Zivildienst möglichen Studien- oder Ausbildungsbeginn und dem nächstmöglichen Termin nach
Ableistung des Zivildienstes maßgebend. Erst wenn dieser Zeitraum nach Abzug der abzuleistenden
Zivildienstdauer neun Monate oder zumindest sechs Monate übersteigt, ist grundsätzlich von einer
besonderen Härte auszugehen oder eine Entscheidung nach der Billigkeitsregelung zu treffen.
Dieser Ministerialerlass wird nach Ansicht der Kammer von der Antragsgegnerin jedoch fehlerhaft
angewendet. Dass mit dem darin enthaltenen Passus „Abzug der abzuleistenden Zivildienstdauer“ – wie
aber die Antragstellerin meint – stets die volle, also die gesetzliche Dauer des Zivildienstes von 9 Monaten
(§ 24 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. § 5 Abs. 1a Wehrpflichtgesetz – WPflG –) gemeint ist, kann im Hinblick auf die
mit diesem Ministerialerlass bezweckte einheitliche, auf eine gleichartige Behandlung dieser Fälle
abzielende sachgerechte Ermessensausübung der Behörde bei der Prüfung des Vorliegens einer
besonderen Härte wegen Zeitverlustes nicht angenommen werden. Denn würde man der
Berechnungsmethode der Antragsgegnerin folgen, so käme man in den Fällen, in denen der
Dienstpflichtige – wie auch im Fall des Antragstellers – seinen Dienst bereits angetreten hat und deshalb
wegen einer vor dem Ende der regulären Dienstzeit beginnenden Ausbildung nur eine vorzeitige
Entlassung nach § 43 Abs. 2 Nr. 1 ZDG in Betracht kommt, unter keiner vorstellbaren Konstellation zu
einem Zeitverlust, der 6 Monate übersteigt. Mithin käme man in diesen Fällen auch nie zum Vorliegen
einer nach diesem Ministerialerlass ab einem Zeitverlust von mehr als 6 Monaten anzunehmenden
besonderen Härte. Bei der Berechnungsmethode der Antragstellerin wird derjenige, der seinen Dienst
angetreten und damit im Zeitpunkt der nach § 43 Abs. 2 Nr. 1 ZDG erfolgten Antragstellung auf vorzeitige
Entlassung schon eine gewisse Dienstzeit abgeleistet hat, gegenüber demjenigen benachteiligt, der
seinen Dienst erst noch anzutreten hat, also noch die volle Zivildienstdauer abzuleisten hat. Denn dem
den Dienst bereits ableistenden Zivildienstleistenden wird bei der Berechnungsmethode der
Antragsgegnerin die Zivildienstzeit bei der Ermittlung des Zeitverlustes praktisch „doppelt“ in Abzug
gebracht, denn zum einen hat dieser bereits eine gewisse Dauer Zivildienst geleistet – womit bereits ein –
allerdings hinzunehmender – Zeitverlust bei seiner Ausbildung entsteht, und zum anderen muss er sich
nochmals die volle gesetzliche Zivildienstdauer bei der Berechnung des Zeitverlustes in Abzug bringen
lassen, wodurch sich dann rein rechnerisch sein Zeitverlust erheblich – nämlich stets um 9 Monate –
reduziert, obwohl er nach dem regulären Ende seines Zivildienstes tatsächlich aber einen über 6 Monate
betragenden Zeitverlust bis zum Beginn seiner Ausbildung hat. Der Passus „nach Abzug der
abzuleistenden Zivildienstdauer“ kann deshalb sachgerechterweise nur die
noch
Zivildienstdauer meinen, die bei einem den Dienst noch nicht angetretenen Zivildienstleistenden mit den
vollen 9 Monaten und bei einem den Dienst bereits ableistenden Zivildienstleistenden – wie auch dem
Antragsteller – mit der von diesem noch abzuleistenden Restdauer des Zivildienstes anzusetzen ist. Nur
bei einem solchen Verständnis macht der sich nicht nur auf die Zurückstellung vom, sondern auch auf die
vorzeitige Entlassung aus dem Zivildienst wegen besonderer Härte nach §§ 11 Abs. 4 Satz 1 bzw. 43 Abs.
2 Nr. 1 ZDG beziehende Ministerialerlass als ermessensbindende Verwaltungsvorschrift Sinn.
Im Fall des Antragstellers ergibt sich bei dieser – eine Gleichbehandlung aller Dienstleistenden
gewährenden – Anwendung des Ministerialerlasses ein Zeitverlust von ebenfalls 9 Monaten und 8 Tagen.
Zu diesem Zeitverlust gelangt man, wenn man vom Zeitraum zwischen dem ohne den Zivildienst
möglichen Ausbildungsbeginn (hier: 16. August 2010) und dem nächstmöglichen Termin nach Ableistung
des Zivildienstes (hier: 8. August 2011) von 11 Monaten und 24 Tagen die vom Antragsteller ab 16.
August 2008 noch abzuleistende Zivildienstdauer (bis 31. Oktober 2010) von 2 Monaten und 16 Tagen
abzieht. Damit liegt eine besondere Härte i. S v. § 43 Abs. 2 Nr. 1 ZDG vor. Dieses Ergebnis
korrespondiert auch mit dem Inhalt des von der Antragsgegnerin im Internet eingestellten „Leitfaden für
die Durchführung des Zivildienstes“, dort Abschnitt E 6. Darin ist in Ziffer 3.3 ausgeführt, dass Anträgen auf
Sonderurlaub bis zum Ende der festgesetzten Dienstzeit von mehr als 31 Kalendertagen – so war es auch
im Fall des Antragstellers (s. Bl. 25 der Verwaltungsakte) – grundsätzlich nicht stattgegeben werden
könne, da in diesen Fällen nicht mehr von einer kurzfristigen Härte ausgegangen werden könne. In diesen
Fällen soll der Zivildienstleistende vielmehr veranlasst werden, einen Antrag auf vorzeitige Entlassung zu
stellen, für den im Übrigen dann die gleichen Voraussetzungen wie für den Sonderurlaub gelten. Bei den
unter Ziffer 2 in diesem Leitfaden abgedruckten Voraussetzungen für die Gewährung von Sonderurlaub ist
in Ziffer 2.2.2 ausgeführt, dass in der Regel eine besondere persönliche Härte vorliegt, wenn der nicht
nutzbare Zeitverlust neun Monate übersteigt. So liegt der Fall hier.
Der Antragsteller hat auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Da die von ihm angestrebte
Schulausbildung bereits vor dem regulären Ende des Zivildienstes, nämlich schon am 16. August 2010
beginnt und ein nächstmöglicher Ausbildungsbeginn für ihn erst wieder am 8. August 2011 möglich wäre,
war hier die vorläufige Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile zu treffen.
Im Übrigen hat seine Dienststelle, die Johanniter-Unfall-Hilfe Rv Pfalz, ..., mit Schreiben vom 17. Mai 2010
gegenüber der Antragsgegnerin vorgeschlagen, dem Antrag des Antragstellers auf vorzeitige Entlassung
stattzugeben. Somit sieht diese durch eine vorzeitige Entlassung des Antragstellers offenbar auch keine
Nachteile für ihren Betriebsablauf.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf §§ 53 Abs. 3 Nr. 1,
52 Abs. 2 GKG. Eine Reduzierung des Regelstreitwertes entsprechend der Empfehlung Nr. 1.5 des
Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit i.d.F. vom 7./8. Juli 2004 (NVwZ 2004, 1327) war hier
nicht vorzunehmen, da die beantragte einstweilige Anordnung die Hauptsache vorwegnimmt.
Dieser Beschluss ist
unanfechtbar
gez. Seiler-Dürr
gez. Meyer
gez. Niesler