Urteil des VG Minden vom 19.01.2011

VG Minden (anspruch auf einbürgerung, bundesrepublik deutschland, kläger, einbürgerung, öffentliches interesse, bezug, wissenschaft und forschung, antrag, leitende stellung, wirtschaftliche lage)

Verwaltungsgericht Minden, 11 K 58/10
Datum:
19.01.2011
Gericht:
Verwaltungsgericht Minden
Spruchkörper:
11. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
11 K 58/10
Tenor:
Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 24. November
2009 verpflichtet, den Kläger unter Befreiung von der Gebühr nach § 38
Abs. 2 StAG in den deutschen Staatsverband einzubürgern.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Dem
Beklagten wird nachgelassen, die Vollstreckung durch
Sicherheitsleistung in Höhe des beizutreibenden Betrages abzuwenden,
wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe
leistet.
Tatbestand:
1
Der am 10. März 1950 geborene Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger und reiste
zusammen mit seiner Familie am 29. Juli 1996 in die Bundesrepublik Deutschland ein.
Am 01. August 1996 stellte er beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge einen Asylantrag. Mit Bescheid vom 26. September 1996 lehnte das
Bundesamt eine Anerkennung des Klägers als Asylberechtigter ab und stellte fest, dass
die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Ausländergesetz (AuslG) und
Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen. Ferner wurde dem Kläger
die Abschiebung nach Afghanistan angedroht. In dem anschließend durchgeführten
Klageverfahren verpflichtete das Verwaltungsgericht Minden unter entsprechender
Aufhebung des Bescheides vom 26. September 1996 das Bundesamt festzustellen,
dass bei dem Kläger die Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG bezogen auf
Afghanistan vorliegen (Urteil vom 10. September 1998 - 9 K 4599/96.A -).
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Am 22. September 1999 wurde dem Kläger eine Aufenthaltsbefugnis erteilt.
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Unter dem 24. Juli 2000 teilte das Ministerium für Schule, Wissenschaft und Forschung
des Landes Nordrhein-Westfalen dem Kläger mit, dass er mit Blick auf sein absolviertes
Studium den Titel Diplom-Ingenieur (FH/SU) führen dürfe.
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Am 16. November 2005 erhielt der Kläger eine befristete Aufenthaltserlaubnis.
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Am 04. Januar 2006 stellte er beim Beklagten einen Antrag auf Einbürgerung in den
deutschen Staatsverband. In dem Antrag gab er u.a. an, er habe als Bote ein
Arbeitseinkommen in Höhe von 165,- EUR netto monatlich. Im Übrigen erhalte er
Arbeitslosengeld II. In dem dem Antrag beigefügten Lebenslauf führte er an, er habe von
1967 bis 1970 in Afghanistan eine Ausbildung zum Mathematiklehrer absolviert. Von
1973 bis 1978 habe er an der N. Hochschule für Kraftfahrzeug- und Straßenwesen
studiert. Von 1980 bis 1992 habe er eine leitende Stellung im Bauministerium für
Wissenschaft und technische Organisation innegehabt. Von 1992 bis 1996 habe er
aufgrund der Veränderung der Machtverhältnisse in Afghanistan keiner Erwerbstätigkeit
mehr nachgehen können. Von 1997 bis 1999 habe er eine gemeinnützige Tätigkeit im
Baubetriebshof (Kfz-Werkstatt) in C1. T. ausgeübt. Im Jahr 2000 habe er einen Monat
lang bei der Firma O. in C1. T. gearbeitet. Er habe am 09. Juni 2000 die Fahrerlaubnis
Klasse 3 erworben. Von Oktober 2000 bis Februar 2001 habe er einen
Weiterbildungslehrgang in C1. T. besucht. Vom 15. Dezember 2001 bis zum 14.
Dezember 2002 sei er als Haus- und Hofarbeiter bei der evangelisch-reformierten
Kirchengemeinde in C1. T. be-schäftigt gewesen. Seit dem 01. Juli 2003 sei er als Bote
für eine Apotheke in C1. T. tätig.
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Unter dem 27. Februar 2008 teilte die M2. pro B. GmbH dem Beklagten auf dessen
Anfrage mit, dass der Kläger und seine Familie insgesamt öffentliche Mittel in Form von
Arbeitslosengeld II in Höhe von 1.304,20 EUR erhielten, der Kläger sich aber
hinreichend intensiv um eine Beschäftigung bemühe. Die Schwierigkeiten bei der
Vermittlung ergäben sich insbesondere aufgrund des Alters, gesundheitlicher
Einschränkungen sowie daraus, dass er noch immer über keine guten deutschen
Sprachkenntnisse verfüge. Ferner seien seine Qualifikationen aus Afghanistan in
Deutschland nicht anerkannt. Es liege auch kein Arbeitsplatzverlust beim Kläger wegen
Nichterfüllung arbeitsvertraglicher Pflichten vor, keine Auflösung eines
Beschäftigungsverhältnisses wegen arbeitsvertragswidrigen Verhaltens, keine
wiederholte Erfüllung der Voraussetzungen für eine Sperrzeit nach § 144 SGB III, keine
Arbeitsunwilligkeit sowie kein Verlust des Arbeitsplatzes durch gesundheitliche,
betriebsbedingte oder konjunkturelle Ursachen.
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Im Laufe des Antragsverfahrens legte der Kläger außerdem eine Vielzahl von
Bescheinigungen über seine Bemühungen im Rahmen der Arbeitssuche sowie
Bewerbungsunterlagen vor.
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Am 05. Januar 2009 erhielt der Kläger eine Niederlassungserlaubnis.
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Mit Schreiben vom 08. Juli 2009 teilte der Beklagte dem Kläger mit, einer Einbürgerung
stehe derzeit die Bestimmung des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 des Staatsange-
hörigkeitsgesetzes (StAG) entgegen. Danach müsse der Einbürgerungsbewerber in der
Lage sein, den Lebensunterhalt für sich und seine unterhaltsberechtigten Angehörigen
aus eigenen Kräften und Mitteln sicherzustellen. Diese Voraussetzungen erfülle der
Kläger nicht, da er nach Mitteilung der M2. pro B. GmbH Leistungen nach dem SGB II
erhalte. Der Kläger habe den Bezug dieser Leistungen auch zu vertreten. Er sei seit
dem 15. Dezember 2002 bis heute arbeitslos gemeldet. Lediglich in der Zeit vom 01. Juli
2003 bis zum 28. Februar 2006 sei er als Bote für eine Apotheke bei einer monatlichen
Entlohnung von 165,- EUR tätig gewesen. Nicht zu vertreten habe eine Person den
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Bezug von öffentlichen Mitteln in der Regel dann, wenn sie dem Arbeitsmarkt z.B.
aufgrund des Alters nicht mehr zur Verfügung stehe oder nachweislich erheblich
erwerbsgemindert sei. Des Weiteren habe ein Einbürgerungsbewerber einen
Leistungsbezug nicht zu vertreten, wenn der Bezug der öffentlichen Mittel wegen des
Verlustes seines Arbeitsplatzes durch gesundheitliche, betriebsbedingte oder
konjunkturelle Ursachen begründet sei und er sich hinreichend intensiv um eine
Beschäftigung bemüht habe. Auch wenn der Kläger mehrfach durch Eigeninitiative sich
um einen Arbeitsplatz in der Vergangenheit bemüht habe, reiche dies allein nicht aus,
seinem Einbürgerungsantrag aufgrund der gesetzlich vorgesehenen
Ausnahmemöglichkeit stattzugeben. Auch wenn er zwischenzeitlich das 59. Lebensjahr
vollendet habe, stehe er durchaus noch dem Arbeitsmarkt zur Verfügung. Aus diesen
Gründen habe der Antrag des Kläger auf Einbürgerung keinen Erfolg. Es werde daher
empfohlen, den Antrag zurück zu nehmen. Sollte ein rechtsmittelfähiger Bescheid
gewünscht werden, werde dem Kläger hiermit die Gelegenheit eingeräumt, sich bis zum
31. August 2009 zu der Angelegenheit zu äußern.
Mit Schreiben vom 09. November 2009 erklärte der Kläger, er habe in der Zeit vom 19.
März 2008 bis zum 01. Januar 2009 mit Erfolg an der Maßnahme der Deutschen
Angestellten-Akademie P. -M2. "L. Vielfalt in P1. - neue Jobchancen für Fachkräfte mit
Migrationshintergrund" teilgenommen. Ferner wies er darauf hin, dass trotz eines
Telefongesprächs zwischen den Sachbearbeitern beim Beklagten sowie seines
Prozessbevollmächtigten zu der Frage, was er über die von ihm bisher getätigten
Bemühungen hinaus hätte machen können, um B. zu finden, diese Frage seitens des
Beklagten unbeantwortet geblieben sei. Er gehe daher nach wie vor davon aus, dass er
einen Anspruch auf Einbürgerung habe. Im Anschluss an eine Einbürgerung habe er
zumindest eine Chance, im Ausland einen Arbeitsplatz als Dolmetscher zu erhalten.
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Mit Bescheid vom 24. November 2009 - zugestellt am 10. Dezember 2009 - lehnte der
Beklagte den Antrag des Klägers auf Einbürgerung in den deutschen Staatsverband ab.
Zur Begründung vertieft er im Wesentlichen die Ausführungen im Anhörungsschreiben
vom 08. Juli 2009 und führte ergänzend an, der Kläger stehe trotz des nunmehr
fortgeschrittenen Alters - wie jeder andere deutsche Arbeitnehmer auch - durchaus noch
dem Arbeitsmarkt zur Verfügung. Es sei daher davon auszugehen, dass der Kläger den
Bezug öffentlicher Mittel weiterhin zu vertreten habe, so dass eine Einbürgerung an § 10
Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StAG scheitere. Auch eine Umstellung des Antrags des Klägers von
einer Anspruchseinbürgerung nach § 10 StAG auf eine Ermessenseinbürgerung nach §
8 Abs. 2 StAG führe nicht zum Erfolg. Bei einem Fehlen der wirtschaftlichen
Voraussetzungen lasse § 8 Abs. 2 StAG eine Einbürgerung nur dann zu, wenn ein
öffentliches Interesse an einer Einbürgerung bestehe oder eine Ablehnung der
Einbürgerung eine besondere Härte für den Antragsteller darstelle. Im Fall des Klägers
liege weder ein öffentliches Interesse an einer Einbürgerung vor noch stelle die
Versagung der Einbürgerung eine unbillige Härte dar. Auch der Einwand, der Kläger
könne als deutscher Staatsangehöriger sich um eine Arbeitsstelle im Ausland bemühen,
verhelfe seinem Begehren nicht zum Erfolg. In der Regel erfolge eine Einbürgerung aus
Gründen des öffentlichen Interesses, sie begründe Rechte und Pflichten und sei
Voraussetzung für die Ausübung des Wahlrechts und der Wählbarkeit, zudem solle sie
dem Eingebürgerten in der Bundesrepublik Deutschland ein Heimatrecht gewähren. Die
wirtschaftlichen und persönlichen Interessen eines Einbürgerungsbewerbers könnten
nicht ausschlaggebend sein und rechtfertigten in keiner Weise Ausnahmeregelungen
vom geltenden Einbürgerungsrecht. Es stehe dem Kläger vielmehr frei, zumal er im
Besitz eines internationalen Reiseausweises für Flüchtlinge sei, in den Staaten der
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Europäischen Gemeinschaft eine Tätigkeit aufzunehmen. Folgte man dem Vorschlag
des Klägers, ständen ihm als hilfebedürftigen deutschen Staatsangehörigen auch im
Ausland deutsche Sozialhilfeleistungen zu. Ein solcher Umstand würde erheblich dem
Sinn und Zweck einer Einbürgerung widersprechen. Eine zwischenzeitliche Änderung
der wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers sowie seiner Familie sei bislang nicht
nachgewiesen worden. Solang vom Kläger weiterhin öffentliche Mittel bezogen würden,
stehe ihm ein Anspruch auf Einbürgerung in den deutschen Staatsverband nicht zu.
Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 10. Januar 2010 Klage erhoben. Zur
Begründung macht er geltend, er habe die Inanspruchnahme von öffentlichen Mitteln
nicht zu vertreten. Bereits unmittelbar nach seiner Ankunft in der Bundesrepublik
Deutschland habe er sich um eine Beschäftigung bemüht. Er habe bei der
Arbeitsplatzsuche intensiv mit dem Arbeitsamt zusammengearbeitet. Das Arbeitsamt
habe seine Vermittlungschancen jedoch als sehr gering eingeschätzt. Unabhängig von
der Vermittlungstätigkeit des Arbeitsamts habe er sich auch persönlich umfangreich um
B. bemüht und bei zahlreichen Firmen beworben. Zur Verbesserung seiner Chancen auf
dem Arbeitsmarkt habe er vom Herbst 1996 bis zum Frühjahr 2001 an der
Volkshochschule C1. T. Kurse zum Erlernen der deutschen Sprache besucht. Ferner
habe er von Oktober 2000 bis Februar 2001 an einem Integrations- und
Weiterbildungslehrgang bei der B. -X1. -C2. teilgenommen. Des Weiteren habe er im
Sommer 2007 einen Kursus zum Erlernen von PC-Kenntnissen besucht. Am 03.
November 2008 habe er an einem Kurs "Berufspraktische Integration für Migranten"
teilgenommen. Ferner habe er auch die Flüchtlingsberatung der evangelischen
Kirchengemeinde in C1. T. um Unterstützung bei der Arbeitssuche gebeten. Angesichts
seiner umfangreichen Bemühungen um B. sei es verwunderlich, dass der angegriffene
Versagungsbescheid keinerlei Begründung dazu enthält, aus welchen Gründen er denn
nun den Bezug von Sozialleistungen zu vertreten habe. Der Beklagte hätte zumindest
angeben müssen, was er denn zusätzlich noch hätte tun können bzw. pflichtwidrig
unterlassen habe, um von einem Nichtvertreten des Leistungsbezuges ausgehen zu
können. Die Begründung des Bescheides in den Blick genommen, dränge sich die
Annahme auf, dass der Beklagte allem Anschein nach der Rechtsauffassung sei, dass
es sich bei der Einbürgerung trotz Inanspruchnahme öffentlicher Mittel um eine
Ausnahmeregelung handele, die so restriktiv ausgelegt werden müsse, dass eine
Einbürgerung bei Bezug von öffentlichen Mitteln generell nicht in Betracht komme. Da er
in der Vergangenheit alles Mögliche getan habe, um eine Arbeitsstelle zu finden und
ihm dies auch zeitweise gelungen sei, bestehe kein Zweifel daran, dass er die
Inanspruchnahme der Leistungen nach dem SGB II nicht zu vertreten habe. Ihm stehe
deshalb ein Anspruch auf Einbürgerung in den deutschen Staatsverband zu.
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Der Kläger beantragt,
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den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 24. November 2009 zu
verpflichten, 1. den Kläger in den deutschen Staatsverband einzubürgern; 2. über den
Antrag auf Befreiung von der Gebühr für die Einbürgerung erneut zu entscheiden.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Er tritt dem Begehren unter Wiederholung seiner Ausführungen im Ausgangsbescheid
entgegen und macht ergänzend geltend, es dürfe nicht Aufgabe der
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Einbürgerungsbehörde sein, einem Einbürgerungsbewerber arbeitsmarktpolitisch zu
beraten oder Vorschläge zu unterbreiten, was er noch hätte machen können, um seine
Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern. Ferner sei zu beachten, dass die M2. pro
B. GmbH mit einer positiven Aussage bezüglich der Bewerbungsbemühungen des
Klägers möglicherweise bestimmte Ziele verfolge.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte
sowie auf die Verwaltungsvorgänge des Beklagten (1 Heft) sowie die übersandten
Unterlagen des Klägers (2 Anlagen) Bezug genommen.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e:
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1. Die statthafte Verpflichtungsklage ist zulässig und begründet. Der ablehnende
Bescheid des Beklagten vom 24. November 2009 ist rechtswidrig und verletzt den
Kläger in seinen Rechten, weil er einen Anspruch auf Einbürgerung in den deutschen
Staatsverband hat (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Das Begehren des Klägers auf
Einbürgerung beurteilt sich nach § 10 Abs. 1 StAG. Nach § 10 Abs. 1 Satz 1 StAG ist ein
Ausländer, der seit acht Jahren rechtmäßig seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland
hat, auf Antrag einzubürgern, wenn er sich zur freiheitlichen demokratischen
Grundordnung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland bekennt und
erklärt, dass er keine Bestrebungen verfolgt oder unterstützt oder verfolgt oder
unterstützt hat, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand
oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder eine
ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung der Verfassungsorgane des Bundes
oder eines Landes oder ihrer Mitglieder zum Ziele haben oder durch Anwendung von
Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der
Bundesrepublik Deutschland gefährden, oder glaubhaft macht, dass er sich von der
früheren Verfolgung oder Unterstützung derartiger Bestrebungen abgewandt hat (§ 10
Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StAG), er ein unbefristetes Aufenthaltsrecht oder als
Staatsangehöriger der Schweiz oder dessen Familienangehöriger eine
Aufenthaltserlaubnis auf Grund des Abkommens vom 21. Juni 1999 zwischen der
Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der
Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit oder eine
Aufenthaltserlaubnis für andere als die in den §§ 16, 17, 20, 22, 23 Abs. 1, §§ 23 a, 24
und 25 Abs. 3 bis 5 des Aufenthaltsgesetzes aufgeführten Aufenthaltszwecke besitzt (§
10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StAG),den Lebensunterhalt für sich und seine
unterhaltsberechtigten Familienangehörigen ohne Inanspruchnahme von Leistungen
nach dem Zweiten oder Zwölften Buch Sozialgesetzbuch bestreiten kann oder deren
Inanspruchnahme nicht zu vertreten hat (§ 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StAG), seine bisherige
Staatsangehörigkeit aufgibt oder verliert (§ 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StAG), weder wegen
einer rechtswidrigen Tat zu einer Strafe verurteilt noch gegen ihn auf Grund seiner
Schuldunfähigkeit eine Maßregel der Besserung und Sicherung angeordnet worden ist
(§ 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 StAG), über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache
verfügt (§ 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 StAG) und über Kenntnisse der Rechts- und
Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse in Deutschland verfügt (§ 10 Abs. 1
Satz 1 Nr. 7 StAG).
21
Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass bis auf die selbständige Unterhaltsfähigkeit
(§ 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StAG) in der Person des Klägers alle Voraussetzungen eines
Einbürgerungsanspruchs erfüllt sind. Entgegen der Auffassung des Beklagten steht dem
Einbürgerungsanspruch des Klägers aber auch § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StAG nicht
22
entgegen. Danach setzt der Einbürgerungsanspruch voraus, dass der Ausländer den
Lebensunterhalt für sich und seine unterhaltsberechtigten Familienangehörigen ohne
die Inanspruchnahme von Leistungen nach dem Zweiten oder Zwölften Buch
Sozialgesetzbuch bestreiten kann oder deren Inanspruchnahme nicht zu vertreten hat.
Ein Einbürgerungsbewerber hat den Bezug von Leistungen nach dem Zweiten oder
Zwölften Buch Sozialgesetzbuch zu vertreten, wenn er durch ihm zurechenbares
Handeln oder Unterlassen adäquat-kausal die Ursache für den fortdauernden
Leistungsbezug gesetzt hat. Das Vertretenmüssen beschränkt sich nicht auf
vorsätzliches oder fahrlässiges Handeln (§ 276 Abs. 1 Satz 1 BGB). Es setzt kein
pflichtwidriges, schuldhaftes Verhalten voraus. Das Ergebnis muss lediglich auf
Umständen beruhen, die dem Verantwortungsbereich der handelnden Person
zurechenbar sind.
23
Vgl. OVG NRW, Urteil vom 01. Juli 1997 - 25 A 3613/95 -, InfAuslR 1998, 34, 35.
24
Ob der Ausländer den Leistungsbezug zu vertreten hat, ist eine verwaltungsgerichtlich
uneingeschränkt nachprüfbare Rechtsfrage, für die der Einbürgerungsbehörde kein
Ermessens- oder Beurteilungsspielraum zukommt. Ein Arbeitsloser hat den
Leistungsbezug zu vertreten, wenn er nicht in dem sozialrechtlich gebotenen Umfang
bereit ist, seine Arbeitskraft zur Beschaffung des Lebensunterhaltes für sich und seine
unterhaltsberechtigten Angehörigen einzusetzen, ferner wenn er sich nicht um B.
bemüht oder bei der Arbeitssuche nachhaltig durch Gleichgültigkeit oder mögliche
Arbeitgeber abschreckende Angaben zu erkennen gibt, dass er tatsächlich kein
Interesse an der Erwerbstätigkeit hat.
25
Vgl. VGH Mannheim, Urteil vom 12. März 2008 - 13 S 1487/06 -, NVwZ-RR 2008, 839.
26
Ebenso wird angenommen, dass der Einbürgerungsbewerber den Leistungsbezug zu
vertreten hat, wenn sein Arbeitsverhältnis wegen Nichterfüllung arbeitsvertraglicher
Pflichten gekündigt oder aufgelöst und die Arbeitslosigkeit dadurch von ihm vorsätzlich
oder grob fahrlässig herbeigeführt wird.
27
Vgl. Hailbronner/Renner, StAG, 5. Auflage 2005, § 10 Rdnr. 24; Berlit in GK-StAR, 2005,
§ 10, Rdnr. 247.
28
Als Indiz wird die Verhängung einer Sperrzeit angesehen (vgl. § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGB
III). Jedoch genügen auch andere Hinweise auf Arbeitsunwilligkeit. Eine
personenbedingte Kündigung, die in einem arbeitsgerichtlichen Verfahren Bestand hat,
steht der Einbürgerung entgegen, ohne dass es einer eigenständigen Prüfung der
Kündigungsumstände durch die Einbürgerungsbehörde bedarf. Umgekehrt wird das
Vertretenmüssen des Leistungsbezuges allgemein verneint, wenn die Arbeitslosigkeit
auf einer krankheits- oder betriebsbedingten Kündigung oder Konjunkturgründen beruht.
Stets ist bei der Beurteilung des Vertretenmüssens auch der Grundsatz der
selbstgesicherten wirtschaftlichen Existenz im Blick zu halten: Der
Einbürgerungsbewerber hat den Lebensunterhalt grundsätzlich ohne Inanspruchnahme
von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach SGB II oder XII zu bestreiten.
Da der nicht zu vertretende Leistungsbezug eine Ausnahme von diesem Grundsatz
darstellt, ist für die Frage, ob der Einbürgerungsbewerber den Leistungsbezug zu
vertreten hat, ein strenger Maßstab anzulegen.
29
Vgl. VGH Mannheim, Urteil vom 12. März 2008 - 13 S 1487/06 -, NVwZ-RR 2008, 839.
30
Der vom Begriff des Vertretenmüssens vorausgesetzte objektive
Zurechnungszusammenhang zwischen zu verantwortendem Verhalten und
Leistungsbezug erfordert aber, dass das Verhalten des Verantwortlichen für die
Verursachung oder Herbeiführung des in Bezug genommenen Umstandes zumindest
nicht nachrangig, sondern hierfür wenn schon nicht allein ausschlaggebend, so doch
maßgeblich bzw. prägend ist. Dies entspricht auch der Zielsetzung des Gesetzes, einer
Zuwanderung in die Sozialsysteme entgegenzuwirken, dementsprechend für den
Anspruch auf Einbürgerung auch eine gewisse wirtschaftliche Integration zu verlangen
und hiervon grundsätzlich abzusehen, wenn der Bezug der bezeichneten
steuerfinanzierten Leistungen nicht zu vertreten ist. Diese Zielsetzung wird regelmäßig
indes bereits dadurch gefördert, dass bei zurechenbar unzureichender wirtschaftlicher
Integration die erforderliche Voraufenthaltszeit eines achtjährigen rechtmäßigen
Aufenthalts oder der für den Einbürgerungsanspruch erforderliche Aufenthaltsstatus
nicht erreicht werden kann, weil regelmäßig bereits das Aufenthaltsrecht einen
gesicherten Lebensunterhalt verlangt. Kann oder soll indes aufenthaltsrechtlich diesem
Umstand nicht mehr Rechnung getragen werden, verliert auch für das
Staatsangehörigkeitsrecht der Gesichtspunkt an Gewicht, dass einer Zuwanderung in
die Sozialsysteme vorgebeugt werden soll. Bei einem für den Einbürgerungsanspruch
hinreichenden verfestigten Aufenthaltsstatus ist der Bezug der Sozialhilfeleistung
unabhängig von der Staatsangehörigkeit. Der Gesetzgeber hat zudem den auch
fiskalischen Interessen, die mit dem Erfordernis der eigenständigen Sicherung des
Lebensunterhalts verfolgt werden, in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StAG insoweit geringeres
Gewicht beigemessen als im Aufenthaltsrecht, als er nicht jeglichem Bezug von
Sozialhilfeleistungen die Wirkung beigemessen hat, den Einbürgerungsanspruch
auszuschließen und selbst bei den Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem SGB II
und SGB XII den nicht zu vertretenden Bezug ausgenommen hat.
31
Vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 19. Februar 2009 - 5 C 22/08 -, NVwZ 2009,
843.
32
Bei Anwendung dieser Grundsätze hat der Kläger nicht zu vertreten, dass er kein
Erwerbseinkommen hat und deshalb auf Sozialleistungen nach SGB II angewiesen ist.
Er war ausweislich der Vielzahl der vorgelegten Bescheinigungen und
Bewerbungsschreiben seit seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland über
Jahre hinweg in dem sozialrechtlich gebotenen Umfang bereit, seine Arbeitskraft zur
Beschaffung des Lebensunterhalts für sich und seine unterhaltsberechtigten
Angehörigen einzusetzen. Gegenteiliges folgt auch nicht aus dem Umstand, dass er in
seinen Bewerbungsschreiben nicht auch seinen akademischen Titel "Diplom-Ingenieur
(FH/SU)" aufgeführt hat. Daraus kann nicht geschlossen werden, dass er hierdurch
absichtlich seine Chancen auf dem Arbeitsmarkt verschlechtert hat, denn er hat seine
Ausbildung in den Bewerbungsschreiben stets angegeben. Des Weiteren sind die in
den Bewerbungsschreiben enthaltenen Rechtschreibfehler ebenfalls nicht
anspruchsschädlich, da diese nicht sinnentstellend sind. Hinzu kommt, dass sich der
Kläger stets auf Arbeitsstellen (als Hilfsarbeiter etc.) beworben hat, die unterhalb seiner
Qualifikation liegen und die insgesamt keine besonderen Anforderungen an die
Präsentation der Bewerbung stellen. Dass sich der Kläger bei der Arbeitsplatzsuche
hätte besser "verkaufen können", wird vom Vorwurf des Vertretenmüssens nicht erfasst.
Ebenso wenig kann verlangt werden, dass sich der Einbürgerungsbewerber - ohne dass
es überhaupt Anhaltspunkte für eine erfolgversprechende Geschäftsidee gäbe - etwa
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selbständig machen muss, um auf diese Weise möglicherweise ein Einkommen zu
erzielen. Ausreichend ist vielmehr, dass in sozialrechtlich gebotenem Umfang die
Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt angeboten wurde. So wurde dem Kläger seitens M2.
pro B. GmbH stets - zuletzt mit Schreiben vom 14. Januar 2011 - bescheinigt, sich
hinreichend intensiv um einen Arbeitsplatz bemüht zu haben, es lägen jedoch
Schwierigkeiten bei der Vermittlung insbesondere aufgrund des Alters vor. Es liegen
keine konkreten Anhaltspunkte vor, dass - wie vom Beklagtenvertreter in der mündlichen
Verhandlung angeführt - diese Angaben unzutreffend sein könnten, zumal seine
Bewerbungsbemühungen auch von anderen Einrichtungen, beispielsweise der
evangelischen Kirche, bestätigt worden sind. Die Arbeitsverträge, die der Kläger hatte,
sind auch nie aufgrund der Nichterfüllung arbeitsvertraglicher Pflichten seinerseits
gekündigt oder aufgelöst worden und die Arbeitslosigkeit nie von ihm vorsätzlich oder
grob fahrlässig herbeigeführt worden, vielmehr hat es sich stets um
betriebswirtschaftliche und/oder konjunkturelle Gründe gehandelt, weshalb er nicht
weiterbeschäftigt wurde. Darüber hinaus hat der Kläger ständig versucht, beispielsweise
durch die Teilnahme an Fortbildungsmaßnahmen sowie den Erwerb der Fahrerlaubnis
der Klasse 3 seine Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu erhöhen. Es ist somit davon
auszugehen, dass der Kläger aus von ihm nicht zu vertretenden Gründen arbeitslos war
bzw. ist und insgesamt die Inanspruchnahme der Leistungen nach dem SGB II von ihm
nicht zu vertreten ist.
Dieses Ergebnis steht auch im Einklang mit der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts zu § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StAG, wonach die strenge
Auslegung dieser Norm nicht dazu führen darf, dass der nach einem langjährigen und
rechtmäßigen Daueraufenthalt regelmäßig (bei Erfüllung aller weiteren Anforderungen)
vorgesehene Einbürgerungsanspruch praktisch leer läuft.
34
Vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 19. Februar 2009 - 5 C 22/08 -, NVwZ 2009,
843.
35
2. Soweit der Kläger die Verpflichtung begehrt, über den Antrag auf Befreiung von der
Gebühr für die Einbürgerung erneut zu entscheiden, hat die Klage ebenfalls Erfolg, da
ihm ein Anspruch auf Befreiung von der Gebühr nach § 38 Abs. 2 Satz 5 StAG zusteht.
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Nach dieser Vorschrift kann aus Gründen der Billigkeit oder des öffentlichen Interesses
eine Gebührenermäßigung oder -befreiung gewährt werden. So liegt es auch im Fall
des Klägers. Billigkeitserwägungen sind insbesondere die wirtschaftliche Lage des
Gebührenschuldners. Wenn dieser für seinen Lebensunterhalt auf Leistungen nach dem
Zweiten oder Zwölften Buch Sozialgesetzbuch angewiesen ist, ohne dass dies - wie im
vorliegenden Fall - der Einbürgerung entgegensteht, und wenn absehbar ist, dass sich
dies in einem überschaubaren Zeitraum nicht ändern wird, liegt die Annahme einer
einzelfallbezogenen Härte nahe.
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Vgl. hierzu: OVG Sachsen, Beschluss vom 20. Dezember 2010 - 3 A 711/08 -, juris.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die
vorläufige Vollstreckbarkeit ergeht gemäß § 167 VwGO i.V.m. den §§ 708 Nr. 11, 711
ZPO.
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