Urteil des VG Minden vom 27.12.2010

VG Minden (aufschiebende wirkung, überwiegendes öffentliches interesse, öffentliches interesse, kürzung, vollziehung, überwiegendes interesse, örtliche zuständigkeit, interesse, wirkung, gleichstellung)

Verwaltungsgericht Minden, 4 L 473/10
Datum:
27.12.2010
Gericht:
Verwaltungsgericht Minden
Spruchkörper:
4. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
4 L 473/10
Tenor:
Die aufschiebende Wirkung der Klage 4 K 2186/10 des Antragstellers
gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 03.02.2010 wird
wiederhergestellt.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 2.081,28 EUR festgesetzt.
Gründe:
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Der sinngemäße Antrag des Antragstellers,
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die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen den Kürzungsbescheid des
Antragsgegners vom 03.02.2010 wiederherzustellen,
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ist zulässig und begründet.
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Nach § 80 Abs. 1 VwGO haben Widerspruch und Klage grundsätzlich aufschiebende
Wirkung. Die aufschiebende Wirkung entfällt jedoch u.a. in den Fällen, in denen die
sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse von der Behörde, die den Verwaltungsakt
erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, besonders angeordnet wird (§
80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO). Das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung
ist in diesen Fällen gemäß § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO schriftlich zu begründen. Ist die
sofortige Vollziehung des Verwaltungsaktes angeordnet worden, kann das Gericht der
Hauptsache gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO die aufschiebende Wirkung auf Antrag
ganz oder teilweise wiederherstellen. Bei der Entscheidung, ob die Vollziehung
ausgesetzt und die aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs bzw. einer Klage
wiederhergestellt werden soll, hat das Gericht das öffentliche Interesse an der sofortigen
Vollziehung des Verwaltungsaktes gegen das Interesse des Antragstellers abzuwägen,
von der Vollziehung vorläufig verschont zu bleiben. Dabei wird ein gegenüber den
persönlichen Belangen des Betroffenen überwiegendes öffentliches Interesse an der
sofortigen Vollziehung regelmäßig angenommen, wenn der zu beurteilende
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Verwaltungsakt offensichtlich rechtmäßig ist, während ein überwiegendes Interesse des
Betroffenen am Nichtvollzug in der Regel zu bejahen ist, wenn sich der Verwaltungsakt
als offensichtlich rechtswidrig erweist, weil an der sofortigen Vollziehung offensichtlich
rechtmäßiger Entscheidungen stets, an der sofortigen Vollziehung offensichtlich
rechtswidriger Entscheidungen niemals ein überwiegendes öffentliches Interesse
besteht. Ist bei der im Aussetzungsverfahren des § 80 Abs. 5 VwGO gebotenen
summarischen Überprüfung der Erfolgsaussichten des eingelegten Rechtsbehelfs
weder festzustellen, dass der Rechtsbehelf offensichtlich begründet noch dass er
offensichtlich unbegründet ist, ist auf Grund sonstiger, nicht (nur) an den
Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens orientierter Gesichtspunkte abzuwägen,
welches Interesse schwerer wiegt.
Danach war dem vorliegenden Antrag stattzugeben, weil die Interessenabwägung zu
Lasten des Antragsgegners ausgeht.
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Der Bescheid vom 03.02.2010 ist formell rechtswidrig, da die Gleichstellungsbeauftragte
vor der ausgesprochenen Kürzung der Anwärterbezüge nicht beteiligt worden (1.) und
dieser Verfahrensfehler auch nicht nach § 46 VwVfG NRW unbeachtlich ist (2.).
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1. Bei der Kürzung von Anwärterbezügen aufgrund des § 66 BBesG handelt es sich um
eine der Mitwirkung der Gleichstellungsbeauftragten unterliegende personelle
Maßnahme. Der persönliche Geltungsbereich des Landesgleichstellungsgesetzes
(LGG) erstreckt sich auch auf Beamte. Beschäftigte im Sinne dieses Gesetzes (vgl. § 3
Abs. 2 Satz 1 LGG) sind u.a. Beamtinnen und Beamte. Ausgenommen sind lediglich
kommunale Wahlbeamtinnen und Wahlbeamte sowie Beamtinnen und Beamte, die
nach § 38 LBG NRW a.F. bzw. nunmehr § 37 LBG NRW n.F. jederzeit in den
einstweiligen Ruhestand versetzt werden können. Nach § 17 Abs. 1 Halbsatz 1 LGG
unterstützt die Gleichstellungsbeauftragte die Dienststelle - hier die Bezirksregierung
(vgl. § 3 Abs. 1 Satz 2 LGG) - und wirkt mit bei der Ausführung des Gesetzes sowie aller
Vorschriften und Maßnahmen, die Auswirkungen auf die Gleichstellung von Frau und
Mann haben oder haben können. Dies gilt nach § 17 Abs. 1 Halbsatz 2 Nr. 1 LGG
insbesondere für soziale, organisatorische und personelle Maßnahmen. Zu den
personellen Maßnahmen in diesem Sinne zählt u.a. die Kürzung von Anwärterbezügen
bei Nichtbestehen einer Laufbahnprüfung auf der Grundlage des § 66 BBesG.
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Der Wortlaut des § 17 Abs. 1 Halbsatz 2 Nr. 1 LGG legt ein umfassendes und damit
auch die Kürzung von Anwärterbezügen einschließendes Begriffsverständnis nahe.
Dort findet sich lediglich die allgemeine Formulierung "personelle Maßnahmen" und
nicht etwa eine Auflistung konkret bezeichneter personeller Maßnahmen. Von einem
eher weiten Verständnis des Begriffs "personelle Maßnahmen" ist auch der
Gesetzgeber ausgegangen. In der Begründung des Gesetzentwurfs der
Landesregierung wird zu § 17 LGG,
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vgl. LT-Drucksache 12/3959, S. 59 f.,
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u.a. ausgeführt:
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"Abs. 1 enthält eine Generalklausel für die Beteiligung der Gleichstellungsbeauftragten
(...). Die zuständigen Gleichstellungsbeauftragten sind an den entsprechenden
Maßnahmen zu beteiligen. Maßnahmen im Sinne der Nummer 1 sind analog §§ 72 ff.
LPVG u.a. Versetzungen, Umsetzungen, Fortbildungen, Kündigungen,
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Arbeitszeitregelungen sowie die Erstellung von Beurteilungsrichtlinien (...). Die
Aufzählung der Maßnahmen in Nrn. 1 und 2 LGG, an denen die
Gleichstellungsbeauftragte mitwirkt, ist nicht abschließend."
Ein Hinweis darauf, dass eine vom Dienstherrn nach § 66 BBesG verfügte Kürzung von
Anwärterbezügen nicht zum Kreis der personellen Maßnahmen zählt, die der Mitwirkung
der Gleichstellungsbeauftragten unterliegen, findet sich in der Begründung des
Gesetzentwurfs nicht. Zwar werden dort einige Maßnahmen ausdrücklich benannt, bei
denen die Gleichstellungsbeauftragte mitzuwirken hat, nämlich bei "Versetzungen,
Umsetzungen, Fortbildungen, Kündigungen, Arbeitszeitregelungen sowie die Erstellung
von Beurteilungsrichtlinien". Es handelt sich jedoch nicht um eine abschließende,
sondern um eine beispielhafte Aufzählung.
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Nach der Begründung des Gesetzentwurfs bestimmt sich der Kreis der
mitwirkungspflichtigen "personellen Maßnahmen" im Sinne des § 17 Abs. 1 Halbsatz 2
Nr. 1 LGG in Anlehnung an die in §§ 72 ff. LPVG geregelten Angelegenheiten. Zu den
nach §§ 72 ff. LPVG der Beteiligung des Personalrates unterliegenden Angelegenheiten
zählte im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Landesgleichstellungsgesetzes vom 9.
November 1999 (GV NRW S. 590) auch die Kürzung von Anwärterbezügen (vgl. § 72
Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 LPVG in der Fassung des Neunten Gesetzes zur Änderung
dienstrechtlicher Vorschriften vom 20. April 1999, GV NRW S. 148, 152 f.). Hieraus folgt,
dass die streitgegenständliche Kürzung der Anwärterbezüge eine Maßnahme darstellt,
bei der nicht nur der Personalrat mitzubestimmen hatte, sondern die nach der
Konzeption des Gesetzgebers zugleich der Mitwirkung der Gleichstellungsbeauftragten
unterliegen sollte. Dass nunmehr seit dem Jahre 2007 aufgrund der Änderung des
LPVG die Kürzung von Anwärterbezügen nicht mehr der Mitbestimmung der
Personalvertretung unterliegt, ändert nach Ansicht der Kammer nichts daran, dass es
sich bei der Kürzung von Anwärterbezügen jedenfalls nach wie vor um eine personelle
Maßnahme i.S.v. § 17 LGG handelt.
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Auch die Gesetzessystematik rechtfertigt keine andere Sichtweise. Der Kreis der
mitwirkungspflichtigen personellen Maßnahmen wird insbesondere nicht dadurch
eingeschränkt, dass § 17 Abs. 1 Halbsatz 1 LGG auf Maßnahmen abstellt, die
Auswirkungen auf die Gleichstellung von Frau und Mann haben oder haben können. §
17 Abs. 1 LGG beinhaltet nach der bereits zitierten Begründung des Gesetzentwurfs
eine Generalklausel. Der Gesetzgeber wollte durch eine weite Fassung der Vorschrift
möglichst viele Sachverhalte erfassen, bei welchen die Gleichstellungsbeauftragte
mitwirken soll. Dies wird nicht zuletzt durch die Verwendung der allgemein gehaltenen
Formulierung "soziale, organisatorische und personelle Maßnahmen" in § 17 Abs. 1
Halbsatz 2 Nr. 1 LGG unterstrichen. Im Übrigen macht § 17 Abs. 1 Halbsatz 2 LGG mit
den Einleitungsworten "dies gilt insbesondere für" deutlich, dass jedenfalls die dort
unter Nr. 1 genannten "sozialen, organisatorischen und personellen Maßnahmen" sich
auf die Gleichstellung von Frau und Mann auswirken oder auswirken können. Dadurch,
dass § 17 Abs. 1 Halbsatz 1 LGG auf Maßnahmen abstellt, die Auswirkungen auf die
Gleichstellung von Frau und Mann haben oder haben können, wird der Kreis der
mitwirkungspflichtigen Maßnahmen schließlich nicht auf solche Maßnahmen eingeengt,
die "frauenrelevant" sind. Dies verdeutlicht das Ziel des Landesgleichstellungsgesetzes.
Es spricht nicht lediglich die Situation der Frauen an, sondern dient (vgl. § 1 Abs. 1 Satz
1 LGG) der Verwirklichung des Grundrechts der Gleichberechtigung von Frauen und
Männern (Art. 3 Abs. 2 Satz 1 GG), das auch den Schutz der Männer bezweckt.
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Vgl. im Ganzen OVG NRW, Beschluss vom 22.06.2010 - 6 A 699/10 -, juris.
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2. Die Nichtbeteiligung der Gleichstellungsbeauftragten ist auch nicht gemäß § 46
VwVfG NRW unbeachtlich.
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Nach § 46 VwVfG NRW kann die Aufhebung eines Verwaltungsaktes, der nicht nach §
44 VwVfG NRW nichtig ist, nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter
Verletzung von Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche
Zuständigkeit zustande gekommen ist, wenn offensichtlich ist, dass die Verletzung die
Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat.
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Die Voraussetzungen des § 46 VwVfG NRW, dessen Anwendbarkeit weder durch § 2
noch durch § 1 Abs. 1 VwVfG NRW ausgeschlossen ist,
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vgl. OVG NRW, Urteil vom 24. Februar 2010 - 6 A 1978/07 -, juris,
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sind nicht gegeben, denn es ist nicht offensichtlich, dass die rechtzeitige Beteiligung der
Gleichstellungsbeauftragten die Entscheidung nicht beeinflusst hätte. Von einer solchen
Situation kann nur dann die Rede sein, wenn von vornherein und nach jeder
Betrachtungsweise feststeht, dass die Sachentscheidung auch bei ordnungsgemäßem
Verfahren nicht anders ausgefallen wäre.
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Zwar ist das gemäß § 66 Abs. 1 BBesG eigeräumte Ermessen durch die
Verwaltungsvorschrift Ziff. 66.1.2 BBesGVwV eingeschränkt mit der Folge, dass die
Anwärterbezüge regelmäßig um 15 v.H. gekürzt werden sollen, wenn der Anwärter die
vorgeschriebene Laufbahnprüfung oder eine Zwischenprüfung nicht bestanden hat,
jedoch ist gemäß § 66 Abs. 2 Nr. 2 BBesG in besonderen Härtefällen von einer Kürzung
abzusehen. Ob ein solcher "besonderer Härtefall" vorliegt, hängt von einer
entsprechenden Würdigung der gesamten Lebensumstände des Widerrufsbeamten und
der Auswirkungen einer Kürzung ab. So heißt es dementsprechend auch in Ziff. 66.2.
BBesGVwV, dass über die Anerkennung besonderer Härtefälle, in denen von einer
Kürzung abzusehen ist, "im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens" entschieden wird.
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Zu den Aufgaben der Gleichstellungsbeauftragten gehören auch die Beratung und
Unterstützung der Beschäftigten in Fragen der Gleichstellung (vgl. § 17 Abs. 2 LGG).
Die Beteiligung bei personellen Maßnahmen dient u.a. der Wahrung der von
unterschiedlichsten Lebenslagen bestimmten Interessen des einzelnen Beschäftigten.
Angesichts dessen liegt es nahe, jedenfalls ist es nicht ausgeschlossen, dass die
Gleichstellungsbeauftragte die ihr nach § 18 Abs. 2 Satz 2 LGG in der Regel
einzuräumende einwöchige Frist zur Stellungnahme genutzt hätte, um Kontakt zum
Antragsteller aufzunehmen und auf diese Weise Informationen zu den Auswirkungen
einer Kürzung seiner Anwärterbezüge zu erlangen. Damit kann zugleich nicht
ausgeschlossen werden, dass der Antragsgegner eine andere Entscheidung getroffen
hätte, wenn die Gleichstellungsbeauftragte ordnungsgemäß beteiligt worden wäre.
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 3, 52 Abs. 3 GKG. Die Kammer hat bei
der Berechnung den Kürzungsbetrag in Höhe von 173,44 EUR für die Dauer von 24
Monaten (sog. Teilstatus) zugrundegelegt. Festgesetzt wurde wegen der Vorläufigkeit
des Verfahrens die Hälfte des so ermittelten Betrages von 4.162,56 EUR.
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