Urteil des VG Göttingen vom 10.06.2013

VG Göttingen: wiedereinsetzung in den vorigen stand, gesetzliche frist, klagefrist, fristversäumnis, verfügung, disposition, rechtsirrtum, verschulden, anfechtungsklage, lfg

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Verlängerung der Klagefrist
Eine Klage ist auch dann verfristet erhoben, wenn die beklagte Behörde dem
Kläger vor Ablauf der Monatsfrist des § 74 VwGO die Frist zur Klageerhebung
antragsgemäß verlängert hat. Dem anwaltlich vertretenen Kläger ist in einem
solchen Fall keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
VG Göttingen 2. Kammer, Beschluss vom 10.06.2013, 2 A 587/13
§ 58 Abs 2 VwGO, § 60 Abs 1 VwGO, § 74 Abs 1 S 2 VwGO, § 85 Abs 2 ZPO
Gründe
Gemäß § 166 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) in Verbindung mit § 114
Satz 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) ist Prozesskostenhilfe demjenigen zu
gewähren, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die
Kosten der Prozessführung nicht oder nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen
kann, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg
bietet und nicht mutwillig erscheint.
Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor, denn die vom Kläger am 6. Mai
2013 erhobene Anfechtungsklage gegen den Bescheid des Beklagten vom 28.
März 2013 über die Festsetzung eines Kostenbeitrages gemäß §§ 91 ff. des
Sozialgesetzbuches Achtes Buch (SGB VIII) i.H.v. 475,00 € monatlich ab dem 4.
September 2012 hat keine Aussicht auf Erfolg.
Die Klage ist unzulässig, denn sie wurde vom Kläger verfristet erhoben. Gemäß
§ 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO muss die Anfechtungsklage innerhalb eines Monats
nach Bekanntgabe des belastenden Verwaltungsaktes erhoben werden. Der
angefochtene Kostenbescheid des Beklagten vom 28. März 2013 wurde nach
übereinstimmenden Angaben der Beteiligten noch am selben Tage zur Post
aufgegeben. Daraus folgt gemäß § 37 Abs. 2 SGB X, dass er am 31. März 2013
als bekanntgegeben gilt, mit der Folge, dass die gesetzliche Klagefrist von
einem Monat gem. §§ 57 Abs. 2 VwGO, 222 Abs. 1 ZPO, 188 Abs. 2 und 3 BGB
am 30. April 2013 um 24:00 Uhr endete. Diese Frist hat der Kläger um 6 Tage
überschritten.
Ein anderer Befund ergibt sich vorliegend auch nicht aus dem Umstand, dass
der Prozessbevollmächtigte des Klägers mit außerprozessualem Schreiben an
den Beklagten vom 19. April 2013 die Verlängerung der Klagefrist beantragt und
hierauf der Beklagte mit außerprozessualem Schreiben vom 22. April 2013 wie
folgt geantwortet hat: „Ich verlängere die Frist zur Erhebung der Klage bis zum
04.05.2013.“
Die Klagefrist des § 74 VwGO ist eine gesetzliche Frist (dazu Kopp/Schenke,
Kommentar zur VwGO, 17. Aufl., § 57 Rn. 3). Eine Verlängerung gesetzlicher
Fristen ist grundsätzlich ausgeschlossen, es sei denn, die Möglichkeit der
Verlängerung ist im Gesetz ausdrücklich vorgesehen (grundlegend BVerwG,
Beschluss vom 18. Mai 1971 - II WDB 8.71 -, BVerwGE 43, 237 (238 f.);
Kopp/Schenke, a.a.O., § 57 Rn. 12). Dementsprechend hat das VG Magdeburg
(Urteil vom 10. Mai 2012 - 4 A 261/11 -, zit. nach juris Rn. 15) zu einem
gleichgelagerten Vorgehen der dortigen Beklagten, die auf einen
entsprechenden Antrag des Klägers die Klagefrist nach § 74 Abs. 1 VwGO um
einen weiteren Monat verlängern wollte, schon zutreffend entschieden, dass
durch die Zustimmung der Beklagten eine Verlängerung der gesetzlichen
Klagefrist des § 74 VwGO von vorn herein nicht eintreten kann. Auch der
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Beklagte hat bei seiner Verfügung vom 22. April 2013 verkannt, dass diese
Klagefrist nicht zu seiner Disposition steht. Dementsprechend ging seine
Verfügung von vorn herein ins Leere.
Entgegen der Auffassung des Klägers läuft vorliegend auch nicht die Jahresfrist
nach
§ 58 Abs. 2 VwGO, weil die dem angefochtenen Kostenbescheid vom 28. März
2013 beigefügte Rechtsbehelfsbelehrung fehlerfrei ist. Sie enthält den Hinweis
auf die Art des Rechtsbehelfs, der einzulegen ist, die richtige Rechtsbehelfsfrist,
die Form der Einlegung und die Angabe des Gerichtes, bei dem der
Rechtsbehelf einzulegen ist (dazu Kopp/Schenke, a.a.O., § 58 Rn. 10 m.w.N.).
Darüber hinaus hat der Beklagte hiervon abgesetzt und unter der separaten
Überschrift „Hinweis“ den Kläger ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht,
dass durch seine - des Beklagten - Empfehlung, vor Erhebung einer Klage zur
Klärung von Zweifeln den Sachverhalt zunächst mit dem zuständigen
Sachbearbeiter zu erörtern, eine Verlängerung der Klagefrist nicht eintritt. Dies
verkennt der Kläger mit seinem Hinweis auf die Rechtsprechung des BAG
(Beschluss vom 25. Januar 2007 - 5 AZB 49/06 -, NJW 2007, 1485, zit. nach
juris Rn. 9) und des BGH (Beschluss vom 16. Oktober 2003 - IX ZB 36/03 -,
NJW-RR 2004, 408, zit. nach juris Rn. 13). In den dort entschiedenen
Sachverhalten waren die Rechtsmittelbelehrungen der Vorinstanzen
Landesarbeitsgericht bzw. Amtsgericht fehlerhaft. Deshalb durfte in diesen
Fällen auch die anwaltlich vertretene Partei auf die Richtigkeit dieser (nicht
offensichtlich) fehlerhaften Rechtsmittelbelehrungen vertrauen und ihnen war -
jedenfalls in dem vom BAG entschiedenen Fall - Wiedereinsetzung in den
vorigen Stand zu gewähren.
In dem Schreiben des Beklagten vom 22. April 2013 sind auch nicht der
Widerruf der fehlerfreien Rechtsbehelfsbelehrung aus dem angefochtenen
Bescheid vom 28. März 2013 und die Neuerteilung einer - nunmehr fehlerhaften
- Rechtsbehelfsbelehrung zu erblicken, sodass die Jahresfrist aus § 58 Abs. 2
VwGO auch aus diesem Grunde nicht zu laufen begann. Denn bei verständiger
Würdigung der vorstehend wörtlich wiedergegebenen Erklärung des Beklagten
aus der Sicht eines objektiven Erklärungsempfängers manifestiert sich hierin
nicht der Wille des Beklagten, er habe den Kläger erneut über die Möglichkeit
der Einlegung von Rechtsbehelfen vollständig und richtig belehren wollen (zur
Nachholung oder Berichtigung einer Rechtsbehelfsbelehrung vgl.
Kopp/Schenke, a.a.O., § 58 Rn. 8). Dagegen spricht schon, dass der
streitgegenständliche Satz „Ich verlängere die Frist zur Erhebung der Klage bis
zum 04.05.2013.“ nur auf die Frist zur Einlegung des Rechtsbehelfs abzielt,
dagegen vom Beklagten eine (neue) Aussage zur Art des einzulegenden
Rechtsbehelfs, zwingend einzuhaltenden Formvorschriften und der Stelle, bei
der der Rechtsbehelf anzubringen ist, nicht getroffen wird.
Dem Kläger ist auf seinen fristgerecht gestellten Antrag vom 27. Mai 2013 auch
keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der versäumten
Klagefrist zu gewähren. Gemäß § 60 Abs. 1 VwGO ist demjenigen
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, der ohne Verschulden
verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Eine Fristversäumnis im Sinne
von § 60 VwGO ist verschuldet, wenn der Betroffene diejenige Sorgfalt außer
Acht lässt, die für einen gewissenhaften und seine Rechte und Pflichten
sachgemäß wahrnehmenden Prozessführenden im Hinblick auf die
Fristwahrung geboten ist und ihm nach den gesamten Umständen des
konkreten Falles zuzumuten war (BVerwG, Beschluss vom 22. April 2005 - 4 BN
12/05 -, Buchholz 310 § 60 VwGO Nr. 256, zit. nach juris Rn. 3 m.w.N.). Der
Kläger hat vorliegend die verfristete Klageerhebung verschuldet; das
Verschulden seines Prozessbevollmächtigten ist ihm gem. § 173 VwGO i.V.m. §
85 Abs. 2 ZPO zuzurechnen. Von einem Bürger kann - auch bei anwaltlicher
Vertretung - regelmäßig erwartet werden, dass er eine zutreffende und
unmissverständliche Rechtsbehelfsbelehrung befolgt (vgl. Nds. OVG, Beschluss
vom 20. August 2002 - 1 LA 51/02 -, NVwZ-RR 2003, 157, zit. nach juris Rn. 20).
Vertraut er stattdessen einer anders lautenden Auskunft - und sei es auch eines
Juristen -, ist die darauf beruhende Fristversäumung schuldhaft. Irrtümer, denen
der Betroffene trotz korrekter Rechtsbehelfsbelehrung unterliegt, rechtfertigen
daher die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nur dann ausnahmsweise,
wenn ein Fehlverhalten der Stelle, der gegenüber die Frist einzuhalten ist, den
Irrtum bestärkt (Bier in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, Kommentar zur
VwGO, Band 1, Loseblatt Stand: 24. Erg.lfg. August 2012, § 60 Rn. 33 mit
Beispielen). So hat das Bundesverwaltungsgericht etwa entschieden, dass
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist, wenn die
Fristversäumnis durch missverständliche Verfügungen des Gerichts ausgelöst
wurde (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22. April 2005, a.a.O.). Vorliegend hat
jedoch nicht das Fehlverhalten des erkennenden Gerichtes, dem gegenüber die
Klagefrist des § 74 VwGO zu wahren war, sondern das der Beteiligten zu der
dem Kläger vorwerfbaren Fristversäumnis geführt. Denn der Beklagte hat mit
seinem Schreiben vom 22. April 2013 und der dort verfügten Verlängerung der
Klagefrist den schon vorher vorhandenen Rechtsirrtum des
Prozessbevollmächtigten des Klägers bestärkt, die gesetzliche Frist des § 74
VwGO stehe zur Disposition der Beteiligten. Dem Prozessbevollmächtigten ist
insoweit vorzuwerfen, dass er mit seiner Anfrage beim Beklagten vom 19. April
2013 dessen Rechtsirrtum erst hervorgerufen hat. Diese
Sorgfaltspflichtverletzung war vermeidbar, denn die kurze Lektüre eines
gebräuchlichen Kommentars zur VwGO hätte offenbart, dass gesetzliche Fristen
grundsätzlich nicht verlängerbar sind und sich damit eine gegenläufige Anfrage
beim Beklagten von vorn herein erübrigt.