Urteil des VG Gießen vom 21.06.2010

VG Gießen: behandlung, psychotherapeut, hessen, berufsausübung, konfrontation, gebühr, disziplinarrecht, sanktion, strafrecht, bevölkerung

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Gericht:
VG Gießen
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
21 K 51/09.GI.B
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Norm:
§ 22 HeilBerG HE
Disziplinarrecht - berufsrechtlicher Verstoß gegen das
Verbot sexueller Kontakte eines Psychotherapeuten mit
Patientinnen
Leitsatz
Abstinenzgebot; Schocktherapie; Berufspflichtverletzung
Tenor
Dem Beschuldigten wird wegen Verstoßes gegen seine Berufspflichten ein Verweis
erteilt und eine Geldbuße in Höhe von 3.500,-- € auferlegt.
Der Beschuldigte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Die Gebühr wird auf 750,- € festgesetzt.
Gründe
I.
Der Beschuldigte wurde im August 1934 in G. geboren. Er studierte zunächst
einige Semester Maschinenbau, absolvierte dann in Berlin eine
Schauspielerausbildung und begann nach eigenen Angaben etwa 1980 das
Studium der Psychologie in H., welches er 1986 abschloss. Seit 1987 ist er in I.
freiberuflich als Psychotherapeut tätig. Die Approbation erhielt er aufgrund des
Gesetzes über die Berufe des Psychologischen Psychotherapeuten und des
Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, zur Änderung des Fünften Buches
Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 16. Juni 1998 (BGBl. I Seite 1311) -
Psychotherapeutengesetz -. Die Kassenzulassung ist ihm bis zum Jahre 2013
erteilt worden.
Berufsrechtlich ist der Beschuldigte, soweit ersichtlich, bisher nicht in Erscheinung
getreten.
II.
Dem vorliegenden Verfahren liegt der Ermittlungsvorgang der Landeskammer für
Psychologische Psychotherapeutinnen und –therapeuten und Kinder- und
Jugendlichenpsychotherapeutinnen und –therapeuten Hessen
(Psychotherapeutenkammer) mit dem Aktenzeichen 2007-0117 zugrunde.
Mit der am 16. Januar 2009 beim erkennenden Gericht eingegangenen und am 19.
Januar 2010 zur Hauptverhandlung zugelassenen Anschuldigungsschrift der
Psychotherapeutenkammer vom 14. Januar 2009 wird dem Beschuldigten von der
Kammer vorgeworfen, seine Berufspflichten als Psychologischer Psychotherapeut
dadurch verletzt zu haben, dass er am 14. September 2007 in seiner Praxis in I.
versucht hat, seine Patientin F. auf den Mund zu küssen – Berufsvergehen nach §§
22, 25 Hessisches Heilberufsgesetz, 13 Abs. 1, 2 und 3 der Berufsordnung der
Landeskammer für Psychologische Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten
und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und -psychotherapeuten
Hessen vom 17. November 2004 – BO -.
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III.
Nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung steht folgender Sachverhalt zur
Überzeugung des Gerichts fest:
Die am 13. Mai 1962 geborene Hausfrau F. war zwischen dem 29. Mai 2007 und
dem 14. September 2007 in psychotherapeutischer Behandlung bei dem
Beschuldigten. Nach zunächst fünf Vorgesprächen hatte die Patientin am 7.
September und 14. September 2007 jeweils eine Therapiestunde. Zu Beginn der
Therapiestunde am 14.09.2007 öffnete der Beschuldigte der Patientin auf deren
Klingeln die Tür, zog sie beim Händegeben zur Begrüßung an sich und versuchte,
sie auf den Mund zu küssen. Die Patientin drehte den Kopf zur Seite, so dass der
Kuss auf ihre Wange traf. Daraufhin äußerte der Beschuldigte: "Bravo, schnelle
Reaktion." Die Patientin beschimpfte daraufhin den Beschuldigten und erklärte, er
verhalte sich genauso wie ihr Vater, er bringe alles durcheinander. Das dürfe sich
ein Therapeut mit seiner Patientin nicht leisten, es gebe Regeln, die nicht
überschritten werden dürften. Ihr Vater habe sie missbraucht und auch Eltern
dürften bestimmte Regeln nicht verletzen. Der Beschuldigte versuchte daraufhin
die Patientin damit zu beruhigen, dass sie doch gut reagiert habe und anderenfalls
vielleicht nicht auf die Erinnerung mit ihrem Vater gestoßen wäre. Nach weiterer
Diskussion über das Verhalten des Beschuldigten wurde die Therapiestunde dann
regulär – nach 50 Minuten – beendet. Es wurde ein neuer Behandlungstermin
vereinbart, welchen die Patientin aber später telefonisch absagte. Die Patientin war
nach diesem Vorfall nach eigenen Angaben "wahnsinnig durcheinander". Sie war
zu dem Beschuldigten wegen starker Schlafstörungen, Beklemmungen,
Angstzuständen und psychosomatischen Beschwerden in die Behandlung
gekommen. Nach ihren Angaben haben sich nach dem Vorfall am 14.09.2007
diese Angstgefühle verstärkt, sie nahm bis April 2008 Antidepressiva und bis zum
Zeitpunkt ihrer Zeugenvernehmung am 21. August 2008 vor der
Psychotherapeutenkammer noch starke Schlafmittel. Mit Datum vom 4.
November 2007 erstatte sie bei der Psychotherapeutenkammer schriftlich Anzeige
wegen sexueller Belästigung durch den Beschuldigten und teilte in diesem
Schreiben mit, dass sie weiterhin nächtliche Alpträume habe, in denen der
Beschuldigte ihr zu nahe trete und sie wegen der dadurch ausgelösten "inneren
Unordnung" sich jetzt erst in der Lage sehe, den Vorfall schriftlich anzuzeigen.
IV.
Die vorstehenden Feststellungen beruhen auf den in der beigezogenen
Ermittlungsakte sowie der vorliegenden Gerichtsakte vorhandenen Urkunden und
Unterlagen, einschließlich der durch Verlesung in die Hauptverhandlung
eingeführten Zeugenaussagen der Patientin F. sowie des Beschuldigten und der in
der Hauptverhandlung gewonnenen Erkenntnisse, einschließlich der Einlassung
des Beschuldigten, soweit ihr zu folgen ist.
V.
Das Verhalten des Beschuldigten stellt einen Verstoß gegen seine Berufspflichten
als Psychologischer Psychotherapeut aus § 22 Heilberufsgesetz (HeilbG) dar. Nach
dieser Vorschrift hat ein Psychologischer Psychotherapeut seinen Beruf
gewissenhaft auszuüben und dem ihm in Zusammenhang mit dem Beruf
entgegengebrachten Vertrauen zu entsprechen. Zur gewissenhaften
Berufsausübung gehört insbesondere die Einhaltung der Regelungen zur
Berufsausübung in der Berufsordnung der Landeskammer für Psychologische
Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten und Kinder- und
Jugendlichenpsychotherapeutinnen und –psychotherapeuten Hessen (BO), welche
auf der Grundlage des § 25 HeilbG erlassen worden ist. Dort ist in § 13 Abs. 3
geregelt, dass sexuelle Kontakte zu Patientinnen und Patienten unzulässig sind.
Dieser konkreten berufsrechtlichen Verpflichtung im Rahmen des Gebots
"abstinenten Verhaltens", welches in § 13 BO im Einzelnen geregelt ist, ist der
Beschuldigte vorliegend nicht nachgekommen.
Es bedarf keiner näheren Ausführungen dazu, dass ein Kuss auf den Mund unter
den Begriff "sexuelle Kontakte zu Patientinnen und Patienten" im Sinne des § 13
Abs. 3 BO zu subsumieren ist. Dies gilt auch für den entsprechenden Versuch,
dabei ist die äußere Handlung in der Art und Form, wie die Patientin oder der
Patient sie wahrzunehmen in der Lage ist, ausschlaggebend. Mithin kommt es auf
die subjektive Vorstellung des Therapeuten im Interesse der Rechtssicherheit und
der Rechtsklarheit nicht an. Im Übrigen sei darauf hingewiesen, dass auch nach
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der Rechtsklarheit nicht an. Im Übrigen sei darauf hingewiesen, dass auch nach
der eigenen Einlassung des Beschuldigten, wonach er in der Patientin die
Erinnerung an den von ihm vermuteten sexuellen Missbrauch in ihrer Kindheit
wecken wollte, dieser darauf abzielte, dass die Patientin den Kussversuch als
sexuelle Annäherung verstehen sollte. Anderenfalls würde die Behauptung, er
habe aus therapeutischen Gründen eine Art "Schocktherapie" anwenden wollen,
keinen Sinn machen.
Im Hinblick darauf, dass die Berufsordnung mithin dem Psychologischen
Psychotherapeuten in § 13 Abs. 3 BO sexuelle Kontakte, also auch, wie dargestellt,
Mundküsse, generell und ohne Weiteres untersagt, musste den übrigen Angaben
der Patientin zu "übergriffigem" Verhalten des Beschuldigten in den
vorangegangenen Vorgesprächen und der vorangegangenen Therapiestunde nicht
weiter nachgegangen zu werden.
Es kann vorliegend auch dahinstehen, ob das Vorbringen des Beschuldigten, der
Kussversuch habe einen therapeutischen Hintergrund und sei sogar therapeutisch
geboten gewesen, eine Schutzbehauptung darstellt. Selbst wenn man nämlich
unterstellte, der Beschuldigte habe tatsächlich mit dem Kussversuch ein
verhaltenstherapeutisches Konfrontationsverfahren anwenden wollen, könnte dies
den tatbestandsmäßig vorliegenden Verstoß gegen § 13 Abs. 3 BO nicht
rechtfertigen. Das Verfahren der Konfrontation im Rahmen
verhaltenstherapeutischer Techniken wird zwar insbesondere in der Behandlung
von Angststörungen, unter welchen die Patientin nach eigenen Angaben gelitten
hat, angewendet. Allerdings wurden für die Durchführung konfrontativer Techniken
allgemein akzeptierte Standards entwickelt, die in den gängigen Lehrbüchern
beschrieben werden und deren Einhaltung insbesondere vor dem Hintergrund der
Berufsordnung, insbesondere des § 13 Abs. 3 BO, unbedingt zu fordern ist.
Insbesondere ist unerlässlich, die Forderung, dass alle Schritte mit dem Patienten
oder der Patientin genau besprochen und von diesem oder dieser gebilligt werden,
unbedingt einzuhalten. Dazu zählen sowohl die Reizauswahl (hier also der Kuss),
der genaue Ablauf der Konfrontation, die Abbruchkriterien und die Verhaltensweise
des Therapeuten. Diese Verpflichtung folgt zum einen aus § 12 Abs. 1 Satz 1 BO,
wonach Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten eine Beratungspflicht
gegenüber Patientinnen und Patienten bezüglich der angebotenen Behandlung,
Behandlungsalternativen und Behandlungsrisiken haben. Gemäß § 4 Abs. 3 BO
haben die Therapeuten zudem dafür zu sorgen, dass ihre Berufsarbeit den
ethischen und fachlichen Standards entspricht. Es bedarf keiner näheren
Ausführungen dazu, dass es ethisch geboten ist, einen Patienten keinen
Interventionsschritten auszusetzen, die vorher mit ihm abgesprochen und von ihm
gebilligt worden sind.
Soweit der Beschuldigte sich unter anderem dahingehend eingelassen hat, er
habe keinen sichtbaren Fortschritt im Behandlungsprozess mit der Patientin
feststellen können, vermag auch dies sein Vorgehen nicht zu rechtfertigen. Für
diesen Fall ist in § 7 Abs. 3 der Berufsordnung geregelt, dass der Therapeut dies
den Patienten angemessen zu erläutern und das weitere Vorgehen gemeinsam
mit ihnen zu erörtern hat.
Der Verstoß gegen § 13 Abs. 3 BO erfolgte auch vorsätzlich,
Schuldausschließungs- oder Schuldminderungsgründe sind nicht ersichtlich.
Der schuldhafte Verstoß gegen § 13 Abs. 3 BO verdrängt als "lex spezialis" die
allgemeinen Vorschriften des § 13 Abs. 1 und Abs. 2 BO zum Gebot der
"Abstinenz", so dass diese beiden Regelungen, auf welche die
Anschuldigungsschrift ebenfalls gestützt ist, vorliegend nicht mehr zum Tragen
kommen.
VI.
Bei der Auswahl und Bemessung der berufsgerichtlichen Sanktion auf der
Grundlage des § 50 HeilbG ist grundsätzlich das Gewicht der Verfehlung des
Beschuldigten, seine Persönlichkeit, das Ausmaß seiner Schuld, aber auch die
Notwendigkeit zu berücksichtigen, das Ansehen der Angehörigen des
Berufsstandes zu wahren bzw. wiederherzustellen und das Vertrauen der
Bevölkerung in die Integrität und Zuverlässigkeit Psychologischer
Psychotherapeuten und –therapeutinnen zu sichern, um so die Funktionsfähigkeit
dieses Berufsstandes zu gewährleisten (ständige Rechtsprechung der Hessischen
Berufsgerichtsbarkeit, vgl. Landesberufsgericht für Heilberufe bei dem Hessischen
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Berufsgerichtsbarkeit, vgl. Landesberufsgericht für Heilberufe bei dem Hessischen
Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 27. August 2008, Az.: 25 A 141/08.B, m.w.N.).
Das standesrechtliche Berufsrecht ist als Teil des staatlichen Disziplinarrechts -
anders als das Strafrecht – nicht repressiv und damit nicht tatbezogen. Daher ist
vorrangig das Gesamtverhalten und die Gesamtpersönlichkeit des Beschuldigten
zu würdigen im Hinblick auf die sich aus dem gezeigten Verhalten ergebenden
Zweifel an der Zuverlässigkeit der Berufsausübung. Dabei steht die individuelle
Pflichtenmahnung im Vordergrund. Neben dem Gewicht des Berufsvergehens ist
die Prognose des künftigen Verhaltens des Beschuldigten entscheidend, also die
Frage, in welchem Umfang es einer pflichtenmahnenden Einwirkung bedarf, um ein
berufsrechtliches Fehlverhalten für die Zukunft zu unterbinden. Nach der
Rechtsprechung des Landesberufsgerichts für Heilberufe bei dem Hessischen
Verwaltungsgerichtshof in Kassel, welcher das erkennende Gericht in ständiger
Rechtsprechung folgt, ist dabei vom Grundsatz der stufenweisen Steigerung von
Disziplinarmaßnahmen auszugehen, wonach zu Gunsten einer gerechten und
sinnvollen Erziehungswirkung schwerere Maßnahmen erst eingesetzt werden
sollen, wenn leichtere versagt haben.
In Anwendung dieser Grundsätze hielt es das Gericht zunächst für geboten, durch
Ausspruch eines Verweises die berufsrechtliche Missbilligung der Vorgehensweise
des Beschuldigten zum Ausdruck zu bringen.
Auch das Vertrauen der Bevölkerung in die Integrität und Zuverlässigkeit der
Angehörigen des Berufsstandes der Psychologischen Psychotherapeuten wird
durch Verstöße der vorliegenden Art gegen § 13 Abs. 3 BO nachhaltig erschüttert
und bedarf der Wiederherstellung durch eine angemessene Sanktion des
Fehlverhaltens. Dabei sind auch die negativen Auswirkungen sexuellen
Fehlverhaltens in einer Therapie generell, insbesondere auch im vorliegenden Fall
einer schweren Retraumatisierung angemessen zu berücksichtigen.
Im Hinblick hierauf hielt es das Gericht für angemessen und geboten, durch
Verhängung einer Geldbuße in nicht unbeträchtlicher Höhe diese Folgen der Tat zu
ahnden.
Im Hinblick darauf, dass der Beschuldigte berufsrechtlich erstmals in Erscheinung
getreten ist und im Übrigen in seinem Schlusswort dargelegt hat, dass er – wegen
des Ärgers, den er mit seiner Vorgehensweise auf sich gezogen hat – jedenfalls in
Zukunft das Gebot sexueller Abstinenz unbedingt einhalten wolle, hielt das Gericht
die verhängte Geldbuße allerdings auch für ausreichend, um die vorbezeichneten
Ziele des berufsgerichtlichen Verfahrens zu erreichen.
VII.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 78 HeilbG. Da nach hat der Beschuldigte die
Kosten zu tragen, weil er verurteilt worden ist (§ 74 Abs. 4 Satz 1 HeilbG).
Die Festsetzung der Gebühr beruht auf § 78 Abs. 2 Satz 2 HeilbG.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert.