Urteil des VG Gießen vom 29.09.2010

VG Gießen: treu und glauben, grobes verschulden, gegen die guten sitten, verwaltungsakt, berechnung der steuer, rücknahme, rechtssicherheit, verordnung, stillschweigende annahme, rechtsgrundlage

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Gericht:
VG Gießen 2.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
2 K 1414/09.GI
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 10 Abs 2 AbsFondsG, § 22
MilchFettG, § 82 Abs 1
BVerfGG, § 79 Abs 2 BVerfGG
Öffentlich-rechtliche Erstattung von Beiträgen nach dem
Absatzfondsgesetz
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens hat die Klägerin zu tragen.
Das Urteil ist im Kostenausspruch vorläufig vollstreckbar.
Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des
festgesetzten Kostenbetrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der
Vollstreckung Sicherheit in entsprechender Höhe leistet.
Tatbestand
Die Klägerin ist Rechtsnachfolgerin der Firma F. eG, vormals G. eG. Diese
entrichtete als Molkerei Abgaben nach dem Gesetz über die Errichtung eines
zentralen Fonds zur Absatzförderung der Deutschen Land- und
Ernährungswirtschaft (Absatzfondsgesetz – AbsFondsG). Das
Bundesverfassungsgericht hat mit Urteil vom 03.02. 2009 – 2 BvL 54/06 –
(BVerfGE 122, 316 ff) entschieden, dass die gesetzlichen Grundlagen für diese
Abgabenerhebung, nämlich § 2 Abs. 1 bis Abs. 4 S. 1, Abs. 6, § 10 Abs. 1 bis Abs.
8, sowie die §§ 11 und 12 Absatzfondsgesetz in der Fassung des Gesetzes vom
21. Juni 1993, BGBl. I S. 998, mit den nachfolgenden Änderungen, zuletzt in der
Fassung des Gesetzes zur Neufassung des Absatzfondsgesetzes vom 4. Oktober
2007 (BGBl. I S. 2342) seit dem 01. Juli 2002 mit dem Grundgesetz (Art. 12 i. V. m.
Art. 105 und Art. 110) unvereinbar und nichtig sind.
Mit ihrer Klage begehrt die Klägerin die Erstattung der von ihren
Rechtsvorgängerinnen für den Zeitraum Juli 2002 bis Dezember 2004 erbrachten
Abgaben in Höhe von insgesamt 972.338,74 €.
Die Abgaben waren jeweils aufgrund von an das Hess. Landesamt für
Regionalentwicklung und Landwirtschaft in Wetzlar adressierten
Beitragsmitteilungen in Form eines Eintrags der monatliche Milchliefermenge und
der errechneten Beitragshöhe unter der Rubrik „Bundeseinheitliche Abgabe“ auf
einem mehrseitigen standardisierten Meldebogen, mit dessen Vorlage weiteren
Meldepflichten genügt wurde, gezahlt worden. Das Regierungspräsidium Gießen
hatte die Beitragsmitteilungen entgegengenommen und das weitere Verfahren
abgewickelt. Allein für den Monat Dezember 2004 übersandte die Behörde der
früheren Firma F. eG einen auf den 19.01.2005 datierten und mit einer
Rechtsbehelfsbelehrung versehenen „Bescheid über fällige Beiträge gemäß
Absatzfondsgesetz“ unter Festsetzung einer Zahlungsfrist bis zum 15. Februar
2005.
Mit Schreiben an das Regierungspräsidium Gießen vom 04. Mai 2009 –
eingegangen am 7. Mai 2010 - beantragte die Klägerin die Erstattung der von
ihren Rechtsvorgängerinnen für den Zeitraum Juli 2002 bis Dezember 2004
geleisteten Beiträge und äußerte die Auffassung, für diese seien keine
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geleisteten Beiträge und äußerte die Auffassung, für diese seien keine
Beitragsbescheide ergangen. Vielmehr seien die Zahlungen lediglich aufgrund der
monatlichen Meldungen erfolgt. Sie lege daher vorsorglich unter Bezugnahme auf
die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Widerspruch gegen die
Beitragserhebungen ein und begehre die Rückerstattung der gezahlten Beiträge.
Für den Fall, dass bestandskräftige Bescheide vorliegen sollten, beantrage sie, das
zugrundeliegende Verwaltungsverfahren wieder aufzugreifen und die Bescheide
aufzuheben sowie die in den Bescheiden festgesetzten Beiträge zu erstatten.
Mit an die Fa. H. GmbH (F.) adressiertem Bescheid vom 27. Mai 2009 hat das
Regierungspräsidium Gießen den Antrag abgelehnt. Zur Begründung ist
ausgeführt, entgegen der Auffassung der Klägerin lägen bestandskräftige
Verwaltungsakte vor, auch wenn diese nicht ausdrücklich als Beitragsbescheide
ergangen seien. Die Beitragserhebung sei auf der Grundlage des
Absatzfondsgesetzes in Verbindung mit der aufgrund der in § 10 Abs. 8
AbsFondsG enthaltenen Verordnungsermächtigung erlassenen Verordnung über
die Beiträge nach dem Absatzfondsgesetz (AbsFondsBeitrV) erfolgt. In § 1 Nr. 1
und § 3 Abs. 1 der Verordnung werde hinsichtlich der Erhebung von Beiträgen von
den Molkereien auf das Verfahren nach § 22 des Milch- und Fettgesetzes
(MilchFettG) verwiesen. In § 3 Abs. 2 heiße es, dass in den Ländern, in denen keine
Abgabe nach § 22 MilchFettG erhoben werde, § 4 der AbsFondsBeitrV
entsprechend gelte. In § 4 Abs. 3 Satz 1 AbsFondsBeitrV sei festgelegt, dass die
Beitragsmitteilung als Beitragsbescheid gelte, wenn der Beitragsbetrag darin
zutreffend angegeben worden sei. In der Hessischen Verordnung über die
Erhebung einer Umlage zur Förderung der Milchwirtschaft vom 1.12.1981
(MilchWUmlVO HE) sei in § 3 geregelt, dass der Umlageschuldner dem RP Gießen
bis zum 15. eines jeden Monats eine Erklärung über die im vergangenen Monat
abgelieferte Milch abzugeben und gleichzeitig die sich danach ergebende Umlage
zu entrichten habe. Eine Regelung wie in § 4 Abs. 3 Satz 1 AbsatzfondsBeitrV, der
zufolge die Beitragsmitteilung als Bescheid gelte, finde sich in der hessischen
Regelung nicht. Es gebe aber keinen Anhaltspunkt dafür, dass insoweit eine
gegenüber der AbsFondsBeitrV abweichende Regelung vorgesehen sei. Somit sei §
4 Abs. 3 Satz 1 AbsFondsBeitrV entsprechend anzuwenden. Die
Beitragsmitteilungen der Rechtsvorgängerinnen der Klägerin für die Monate Juli
2002 bis Dezember 2004 seien demnach als Bescheide i.S.d. beschriebenen
Regelung zu verstehen. Diese seien mittlerweile bestandskräftig, da seit
Bekanntgabe bzw. zumutbarer Kenntnisnahme seitens des Adressaten und dem
vorsorglich erhobenen Widerspruch der Klägerin mehrere Jahre verstrichen seien.
Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Aufhebung der bestandskräftigen
Beitragsbescheide. Die Bescheide seien weder nichtig noch vom RP Gießen im
Rahmen einer ihm obliegenden Verpflichtung zum Wiederaufgreifen der
bestandskräftig abgeschlossenen Verfahren aufzuheben. Nach § 79 Abs. 2
BVerfGG blieben nicht mehr anfechtbare Entscheidungen, die auf einer vom
Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärten Norm beruhten, unberührt. Auch
nach den Regelungen des Hessischen Verwaltungsverfahrensgesetzes gelte, dass
Verwaltungsakte, deren Rechtsgrundlage nachträglich wegfalle, voll wirksam
blieben. Die Klägerin habe auch keinen Anspruch auf Wiederaufgreifen des
Verfahrens nach § 51 Abs. 1 HVwVfG. Die Ungültigkeit eines Rechtssatzes stelle
nach höchstrichterlicher Rechtsprechung keine nachträgliche Änderung der
Rechtslage dar, des Weiteren sei die Klägerin nicht ohne grobes Verschulden außer
Stande gewesen, den Grund für das Wiederaufgreifen in den früheren Verfahren
insbesondere durch Rechtsbehelf geltend zu machen. Gegen die
Beitragsbescheide habe die Klägerin bis Dezember 2004 einschließlich keine
Rechtsmittel erhoben.
Auch unter Berücksichtigung des pflichtgemäßen Ermessens (§ 51 Abs. 5 i. V. m. §
48 VwVfG) habe der Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens keinen Erfolg.
Hier habe die Behörde einerseits zwischen der materiellen Gerechtigkeit im
Einzelfall und andererseits dem durch die Bestandskraft der Bescheide
eingetretenen Rechtsfrieden abzuwägen. Vorliegend werde der Rechtssicherheit
Vorrang eingeräumt, was auch der Gesetzgeber so entschieden habe, indem er
für die Anfechtung von Verwaltungsakten Fristen vorschreibe. Das gelte umso
mehr, wenn es sich, wie vorliegend, um unanfechtbare Verwaltungsakte handele,
deren Rechtsfolgen in der Vergangenheit abgeschlossen seien. Da die Klägerin auf
die Einlegung von Rechtsbehelfen verzichtet habe, könne sie sich auch nicht auf
Vertrauensschutz oder Billigkeitserwägungen berufen. Vielmehr sei zu
berücksichtigen, dass sie sich über die Jahre nicht gegen die Beitragsbescheide
gewandt und diese akzeptiert habe. Die vereinnahmten Beiträge seien vom RP
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gewandt und diese akzeptiert habe. Die vereinnahmten Beiträge seien vom RP
Gießen an den Absatzfonds zur Erfüllung seiner gesetzlichen Aufgaben, der
Durchführung von Absatzförderungsmaßnahmen abgeführt worden. Dieser habe
die ihm zur Verfügung gestellten Mittel auch zur Absatzförderung verwendet,
wovon die Klägerin profitiert habe. Darüber hinaus spreche gegen eine Stattgabe
des Antrags auch die praktische Durchführung eines solchen Wiederaufgreifens
aller Verfahren. Dies würde einen nicht leistbaren Personal- und Zeitaufwand
bedeuten. Schließlich sei auch das Fehlen von Rückstellungen hinsichtlich
bestandskräftiger Bescheide zu bedenken.
Am 26. Juni 2009 hat die Klägerin Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom
27.05.2009 erhoben verbunden mit dem Antrag, den Beklagten zur Rückzahlung
der von ihren Rechtsvorgängerinnen für die Monate Juli 2002 bis Dezember 2004
geleisteten Abgabenzahlungen in Höhe von 972.338,74 € zu verpflichten.
Hilfsweise hat sie die Verpflichtung des Beklagten zur Neubescheidung ihres
Antrags vom 04.05.2009 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts
begehrt.
Sie ist der Auffassung, der Abgabenerhebung lägen keine wirksamen
Abgabenbescheide des Beklagten zugrunde. Die Zahlungen seien jeweils im Wege
der Selbstveranlagung erfolgt. In den monatlichen Selbstveranlagungen seien von
den Rechtsvorgängerinnen der Klägerin jeweils die Menge der angelieferten Milch
und die daraus folgende Beitragshöhe angegeben und die Zahlungen
entsprechend getätigt worden. Entgegen der Auffassung des Beklagten könne ein
den Abgabenzahlungen zugrundeliegender Verwaltungsakt auch nicht durch die
Regelung in dem, im Rang unter dem förmlichen Bundesgesetz stehenden § 4
Abs. 3 Satz 1 AbsFondsGBeitrV, fingiert werden. Diese Regelung sei weder
einschlägig, noch geeignet, die gesetzliche Regelung des § 35 HVwVfG
abzuändern. In § 1 Nr. 1 und § 3 Abs. 1 AbsFondsBeitrV werde insgesamt auf das
Verfahren nach § 22 Milch- und Fettgesetz verwiesen. Die insoweit einschlägige
MilchWUmlVO HE sehe im Gegensatz zu § 4 Abs. 3 S. 1 AbsFondsBeitrV keine
Fiktion eines Verwaltungsakts vor. Letztere Bestimmung sei auch nicht
entsprechend anzuwenden, weil die MilchWUmlVO HE eine abschließende
Regelung des Umlageverfahrens darstelle.
Der Beklagte habe die von den Rechtsvorgängerinnen geleisteten Zahlungen in
den Absatzfonds nicht durch Verwaltungsakte festgesetzt. Ein Verwaltungsakt
setze eine Willenserklärung seitens der Behörde voraus. Daher könne ein
Verwaltungsakt nicht bereits in dem Moment des Zugangs der
Selbsterrechnungserklärung bei der Behörde angenommen werden, sondern erst,
wenn sie diese zur Kenntnis genommen und sich dazu entschieden habe, der
Selbsterrechnungserklärung nicht zu widersprechen. Es sei bereits höchst fraglich,
ob die Beklagte im Hinblick auf jede einzelne der streitigen Zahlungen einen „Akt
der Willensbildung“ im Sinne der Bildung eines Entscheidungs- und
Regelungswillens vollzogen habe.
Falls diese stillschweigende widerspruchslose Annahme der
Selbsterrechnungserklärung überhaupt einen Verwaltungsakt darstelle, so fehle es
jedenfalls an einer Bekanntgabe dieses Verwaltungsaktes; ohne diese sei der
Verwaltungsakt nicht wirksam, §§ 41, 43 VwVfG.
Der Klägerin stehe mithin ein öffentlich-rechtlicher Erstattungsanspruch auf
Rückzahlung der geleisteten Abgabenzahlungen zu, da mit der Nichtigerklärung
der § 10 Abs. 1 – 8 AbsFondsG die maßgebliche Rechtsgrundlage für die
Beitragserhebung entfallen sei. Weiterhin habe sie einen Anspruch auf Zinsen, §
291 ZPO analog.
Falls das Gericht dennoch die widerspruchslose Entgegennahme der
Selbsterrechnungserklärungen sowie Erfassung der Mitteilungen als
bekanntgegebene und bestandskräftig gewordene Verwaltungsakte bewerten
sollte, sei eine Verpflichtungsklage zulässig und begründet.
Der Beklagte sei dann gemäß § 113 Abs. 5 S. 1 VwGO verpflichtet, das Verfahren
gemäß § 51 Abs. 1 VwVfG wieder aufzugreifen und die Beitragsbescheide
aufzuheben. Insbesondere sei die Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG gewahrt. Die
Klägerin sei ohne grobes Verschulden außerstande gewesen, den Grund für das
Wiederaufgreifen, nämlich die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom
3.02.2009, in einem früheren Verfahren, insbesondere durch Rechtsbehelf, geltend
zu machen. Die Änderung höchstrichterlicher Rechtsprechung, die die Nichtigkeit
einer Rechtsnorm feststelle, könne eine Änderung der Rechtslage i.S.d. § 51 Abs. 1
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einer Rechtsnorm feststelle, könne eine Änderung der Rechtslage i.S.d. § 51 Abs. 1
Nr. 1 Alt. 2 VwVfG darstellen. Zumindest stelle die Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts eine neue allgemeine Rechtsauffassung dar, die einer
Rechtsänderung i.S.d. § 51 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 VwVfG gleichgestellt sei. Zudem
habe die Klägerin einen Anspruch auf fehlerfreie Ermessensentscheidung über das
Wiederaufgreifen des Verfahrens gemäß § 51 Abs. 5 VwVfG. Neben diesem
Anspruch habe die Klägerin auch einen Anspruch auf Aufhebung der
Beitragsbescheide, da deren Rechtsgrundlage für verfassungswidrig erklärt worden
sei. Insoweit stehe dem Beklagten auch kein Ermessen zu.
Die Klägerin beantragt,
1. den Bescheid des Beklagten vom 27. Mai 2009 aufzuheben;
2. den Beklagten zu verpflichten, an die Klägerin 972.338,74 Euro zuzüglich Zinsen
ab Klageerhebung zu zahlen;
hilfsweise,
den Beklagten zu verpflichten, die für den Zeitraum Juli 2002 bis Dezember 2004
ergangenen Abgabenbescheide aufzuheben und die erhobenen Abgaben an die
Klägerin zurückzuzahlen, zuzüglich Zinsen ab Klageerhebung.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen
Er legt unter dem Datum 17.11.2009 eine Änderung seines Bescheids vom
27.05.2009 vor, worin er den an die Firma H. GmbH gerichteten Bescheid
dahingehend „berichtigt“, dass als Antragstellerin nunmehr die Firma A.
bezeichnet ist.
Der Beklagte vertritt die Auffassung, für den gesamten streitgegenständlichen
Zeitraum lägen bestandskräftige Verwaltungsakte hinsichtlich der erbrachten
Beitragszahlungen vor, eine Anfechtungsklage sei daher unzulässig. Für den
Monat Dezember 2004 sei ein schriftlicher Bescheid erlassen worden. Dies beruhe
darauf, dass die Behördenpraxis zum Jahreswechsel 2005 aufgrund der
Umstellung des Rechnungswesens in der Hessischen Landesverwaltung geändert
worden sei. Dies habe zur Folge gehabt, dass für die haushaltsmäßige Abwicklung
schriftliche Bescheide erforderlich geworden seien, die im Zusammenhang mit der
Beitragserhebung nach dem Absatzfondsgesetz erstmalig im Januar 2005 für den
Monat Dezember 2004 erstellt worden seien.
Auch im Übrigen (Zeitraum Juli 2002 bis November 2004) seien die
Voraussetzungen eines Verwaltungsaktes erfüllt. Dahinstehen könne, ob eine
analoge Anwendung der Regelung des § 4 Abs. 3 Satz 1 AbsFondsGBeitrV auf das
in Hessen durchgeführte Beitragserhebungsverfahren möglich sei. Nach der
vorliegend anwendbaren höchstrichterlichen Rechtsprechung zur vorbehaltlosen
Entgegennahme einer Selbsterrechnungserklärung liege in der stillschweigenden
Entgegennahme der monatlichen Mitteilung der Klägerin an das beklagte Land ein
Verwaltungsakt, der die Feststellung der Milchmenge und den errechneten Beitrag
für die Umlage nach dem Milch- und Fettgesetz und für den Beitrag nach dem
Absatzfondsgesetz beinhalte. Insbesondere habe seitens der Behörde ein Akt der
Willensbildung in Bezug auf die Entgegennahme der Mitteilungen vorgelegen;
hierzu trägt der Beklagte mit Schriftsätzen vom 8.03., 20.09. und 27.09.2010
unter Beifügung von Belegen im einzelnen vor, in welcher Form die weitere
Abwicklung der entsprechenden Zahlungen gehandhabt wurde. Hierauf wird wegen
der Einzelheiten Bezug genommen.
Zum Hilfsantrag führt der Beklagte aus, die Ablehnung des Antrags auf
Wiederaufgreifen sei zu Recht erfolgt. Eine Änderung der Rechtslage i.S.d. § 51
Abs. 2 Nr. 1 HVwVfG liege nicht vor, wenn eine Rechtsnorm durch ein Bundes- oder
Landesverfassungsgericht für nichtig erklärt worden sei; dies ergebe sich
unmittelbar aus § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG. Die Klägerin habe zwar einen
Anspruch auf Wiederaufgreifen der abgeschlossenen Verfahren nach § 51 Abs. 5
i.V.m. §§ 48, 49 HVwVfG, die ablehnende Entscheidung vom 27.05.2009 lasse
jedoch keine Rechtsmängel erkennen, die zu einer Aufhebung des Bescheides
führen könnten. Insbesondere habe das RP Gießen eine ermessensfehlerfreie
Entscheidung getroffen; dabei sei nicht tragend auf Gründe der praktischen
Durchführbarkeit des Wiederaufgreifens aller Verfahren abgestellt worden.
Zur weiteren Darstellung des Sach- und Streitstandes wird ergänzend Bezug
genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Akte des Verwaltungsgerichts
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genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Akte des Verwaltungsgerichts
Gießen mit dem Aktenzeichen 2 K 1417/09.GI.A sowie auf einen Hefter
beigezogener Behördenunterlagen, die sämtlich zum Gegenstand der mündlichen
Verhandlung gemacht worden sind.
Entscheidungsgründe
Die Klage hat weder mit ihrem Hauptantrag noch dem Hilfsantrag Erfolg.
Die mit ihrem Hauptantrag auf Anfechtung des ablehnenden Bescheids vom
27.05.2009 und Verurteilung des Beklagten zur Erstattung der geleisteten
Beiträge gerichtete Klage ist statthaft. Ist, wie hier, das Klagebegehren insoweit
nicht auf Erlass eines Verwaltungsaktes, sonders auf unmittelbare Durchsetzung
eines Anspruchs auf Geldleistung gerichtet und hat die Behörde den geltend
gemachten Anspruch durch Verwaltungsakt abgelehnt, bedarf es dessen
Anfechtung, mit der gemäß § 113 Abs. 4 VwGO im Wege der Stufenklage eine auf
Zahlung gerichtete allgemeine Leistungsklage verbunden werden kann
(Kopp/Schenke, VwGO, 13. Aufl. Anh. § 42 Rdnr. 42; § 42 Rdnr. 14; § 113 Rdnr. 172;
VGH Mannheim, Urt. v. 01.06.1990 – 8 S 637/90 -, NJW 1991, 2786 ff).
Die Klage ist auch im Übrigen zulässig. Insbesondere ist die Klägerin klagebefugt.
Mit ihrem Begehren auf Rückerstattung der von der Firma F. bzw. der G.
geleisteten Beitragszahlungen macht die Klägerin als gesellschaftsrechtliche
Gesamtrechtsnachfolgerin eigene Rechte geltend. Die frühere F. ist aufgrund
bloßer Firmenänderung identisch mit der vormaligen G. Mit Eintragung der
Verschmelzung in das Genossenschaftsregister (25.11.2005) ist das Vermögen
der F. eG auf die Klägerin als übernehmender Rechtsträger übergegangen, §§ 2
Ziffer 1, 20 Umwandlungsgesetz (UmwG). Das durch die Beitragszahlungen
begründete bzw. diesen zu Grunde liegende Rechtsverhältnis zwischen den
vorgenannten Molkereien und dem Beklagten, dessen Rückabwicklung die Klägerin
begehrt, ist einer Rechtsnachfolge zugänglich. Da ein Gesamtrechtsnachfolger in
vollem Umfang in die Rechte und Pflichten des Rechtsvorgängers eintritt, gilt dies
auch für das durch erbrachte Leistungen oder einen Verwaltungsakt begründete
Rechtsverhältnis und die damit unter Umständen verbundene Rückerstattung bzw.
Rücknahme des Verwaltungsakts, die einen Gegenakt zur Begründung des
Rechtsverhältnisses darstellt (BVerwG für die Rücknahme eines begünstigenden
Verwaltungsakts: Urt. v. 25.03.99 – 3 C 17.98 – NVwZ-RR 2000, 378; Urt. v.
25.03.1982 – 2 C 23.81 – ZBR 1983, 206, 207; Kopp/Ramsauer, VwVfG, 10. Aufl., §
48 Rdnr. 32). Zudem sind vorliegend keine höchstpersönliche Rechtspositionen
betroffen (vgl. zu diesem Kriterium: Kopp/Schenke, a. a. O., § 42, Rdnr. 174).
Die Klägerin ist auch Adressatin des die Erstattung ablehnenden Bescheids des
Beklagten vom 27.05.2009. Soweit dieser an die „H. GmbH“ adressiert und diese
im Einleitungssatz genannt ist, handelt es sich um eine offensichtliche
Unrichtigkeit in der Bezeichnung der Klägerin. Wie sich aus dem Bescheid ergibt,
richtet sich dieser an die Klägerin, was darin zum Ausdruck kommt, dass auf den
Antrag der Klägerin auf Rückzahlung der für den Zeitraum Juli 2002 bis Dezember
2004 durch die frühere Firma F. eG erbrachten Beiträge Bezug genommen wird.
Offenbar hat eine Verwechslung der Firmenbezeichnung der Klägerin mit
derjenigen des unter gleicher Anschrift befindlichen Unternehmens „H. GmbH“
vorgelegen, zumal im Antrag der Klägerin vom 04.05.2009 auch das Logo „h.“
farblich aufgedruckt war (vgl. den Originalantrag Bl. 1 der Behördenunterlagen).
Die offenkundige Verwechslung hat der Beklagte im Verwaltungsstreitverfahren
durch Berichtigung mit Bescheid vom 17.11.2009 klargestellt.
Soweit die Klägerin mit ihrem Hilfsantrag die Verpflichtung des Beklagten auf
Aufhebung der für den Zeitraum Juli 2002 bis Dezember 2004 ergangenen
Abgabenbescheide begehrt, ist die Klage als Verpflichtungsklage zulässig, vgl. § 42
Abs. 1 VwGO.
Die Klage ist jedoch nicht begründet.
Der Bescheid des Beklagten vom 27.05.2009 ist rechtmäßig und verletzt die
Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO), da die Klägerin weder
auf die mit dem Hauptantrag begehrte Rückerstattung der geleisteten Beiträge (I.)
noch auf die mit dem Hilfsantrag begehrte Aufhebung der bestandskräftigen
Beitragsbescheide (II.) einen Anspruch hat. Mangels Rückzahlungspflicht besteht
auch keine Verzinsungspflicht.
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I.
Rechtsgrundlage des mit dem Hauptantrag im Wege der allgemeinen
Leistungsklage geltend gemachten Rückzahlungsbegehrens ist der allgemeine,
gewohnheitsrechtlich anerkannte öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch. Dabei
handelt es sich um ein aus den allgemeinen Grundsätzen des Verwaltungsrechts,
insbesondere der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, abgeleitetes eigenständiges
Rechtsinstitut des öffentlichen Rechts, dessen Anspruchsvoraussetzungen und
Rechtsfolgen, soweit sie nicht spezialgesetzlich (vgl. etwa § 37 Abs. 2 AO) geregelt
sind, denen des zivilrechtlichen Bereicherungsanspruchs entsprechen. Der
öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch ist darauf gerichtet, eine ohne
Rechtsgrund eingetretene Vermögensverschiebung auszugleichen (vgl. BVerwG,
Urteil vom 27.09.2007 – 2 C 15.06 -, juris Rdnr. 15 m. w. Nachw.; zuletzt etwa
Beschluss vom 7.10.2009 – 9 B 24.09 -, juris Rdnr. 5 m. w. Nachw.; stdRspr.).
Der Anspruch ist im hier maßgeblichen Verhältnis von Bürger zu öffentlicher Hand
gegeben, wenn der Bürger Leistungen ohne Rechtsgrund aufgrund öffentlich-
rechtlicher Verpflichtung an den Bereicherungsschuldner erbracht hat. Hier sind
die Abgaben für den Absatzfonds als erbrachte Leistungen an den Beklagten
jedoch jeweils mit Rechtsgrund, nämlich aufgrund der formlosen
Beitragsbescheide, die in der widerspruchslosen Annahme der
Beitragsmitteilungen durch den Beklagten zu sehen sind, erfolgt.
Rechtsgrundlage der Erhebung von Beiträgen zum Absatzfonds war § 10 Abs. 2
Satz 1, Abs. 3 Nr. 6 AbsFondsG i. d. F. v. 8.08.2002 (BGBl. I S. 3114). Danach
betrug der Beitrag für Molkereien 1,22 Euro je 1000 Kilogramm angelieferte Milch.
Hinsichtlich des Verfahrens der Beitragserhebung von den Molkereien verweisen §
1 Nr. 1 und § 3 Abs. 1 der gemäß § 10 Abs. 8 AbsFondsG erlassenen Verordnung
über die Beiträge nach dem Absatzfondsgesetz (AbsFondsBeitrV) auf das
Verfahren nach § 22 MilchFettG, sofern, wie in Hessen, die Umlage nach § 22
MilchFettG erhoben wird.
Nach § 3 Abs. 1 der aufgrund § 22 MilchFettG erlassenen hessischen Verordnung
über die Erhebung einer Umlage zur Förderung der Milchwirtschaft vom 1.12.1981
(GVBl I S 427), zuletzt geändert durch Verordnung v. 1.12.2005 (GVBl I S. 808) -
MilchWUmlV HE – hat der Umlageschuldner dem Regierungspräsidium Gießen bis
zum 15. jeden Monats eine Erklärung über die im vergangenen Monat angelieferte
Milch abzugeben und gleichzeitig die sich danach ergebende Umlage zu
entrichten. Abs. 2 der Bestimmung regelt, dass das Regierungspräsidium Gießen
den Umlagebetrag durch Bescheid festsetzt, wenn der Umlageschuldner seiner
Erklärungspflicht nach Abs. 1 nicht oder nicht vollständig nachkommt. Hieraus
folgt, dass im Regelfall kein (förmlicher) Bescheid ergeht. Entgegen den
Ausführungen des Beklagten in seinem ablehnenden Bescheid vom 27.05.2009
kann ein Bescheid auch nicht gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 AbsFondsGBeitrV fingiert
werden. Nach dieser Bestimmung gilt die Beitragsmitteilung als Beitragsbescheid,
wenn der Beitragsbetrag darin zutreffend angegeben worden ist. Eine
entsprechende Anwendung dieser Vorschrift kommt aber vorliegend nicht in
Betracht, weil die Beitragserhebung von Molkereien aus dem Anwendungsbereich
des § 4 AbsFondsGBeitrV explizit ausgenommen ist, wie aus Abs. 1 der
Bestimmung folgt. Der Verordnungsgeber hat sich ersichtlich aus
Praktikabilitätsgründen von der Überlegung leiten lassen, dass für die
Beitragserhebung nach dem Absatzfondsgesetz in den Ländern, in denen eine
Umlage nach § 22 MilchFettG erhoben wird, auf die Vorschriften über das
Erhebungsverfahren und die Fälligkeit dieser Umlage zurückgegriffen werden kann.
Dementsprechend hat er einen Regelungsbedarf für die entsprechende
Anwendung des § 4 AbsFondsGBeitrV nur in den Ländern gesehen, in denen diese
Umlage nicht erhoben wird (§ 3 Abs. 2 AbsFondsGBeitrV).
Die Beitragsmitteilungen sind vom Regierungspräsidium Gießen im Rahmen seiner
Zuständigkeit entgegengenommen worden. Zwar waren die Mitteilungen jeweils an
das Hess. Landesamt für Regionalentwicklung und Landwirtschaft, Gebäude B9,
Frankfurter Straße 69, Wetzlar, adressiert. Das vorbezeichnete Amt war jedoch
bereits zum 01.01.2005 aufgrund Art. 1 § 3 Absätze 1 und 2, Art. 20 Abs. 1 Nr. 2
des „Gesetzes zur Reform der Landwirtschafts-, Forst-, Naturschutz-,
Landschaftspflege-, Regionalentwicklungs- und Flurneuordnungsverwaltung
Reformgesetz>) und zur Änderung anderer Rechtsvorschriften vom 22.12.2000
(GVBl. I S. 588) aufgelöst und die Zuständigkeit desselben durch die Zuständigkeit
des Regierungspräsidiums Gießen ersetzt worden. Hinsichtlich der
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des Regierungspräsidiums Gießen ersetzt worden. Hinsichtlich der
Entgegennahme hat der Beklagte ausgeführt, das frühere Hess. Landesamt für
Regionalentwicklung und Landwirtschaft habe sich in den gleichen Gebäuden
befunden, in denen das zuständige Dezernat des Regierungspräsidiums Gießen
untergebracht sei, so dass das Regierungspräsidium Gießen die Mitteilungen trotz
der unzutreffenden Adressierung unmittelbar entgegengenommen habe.
In der widerspruchslosen Entgegennahme der für den Zeitraum Juli 2002 bis
Dezember 2004 an das Regierungspräsidium Gießen übermittelten monatlichen
Mitteilungen der Rechtsvorgängerinnen der Klägerin ist der Erlass von
Verwaltungsakten i. S. d. § 35 HVwVfG zu sehen (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.04.1995 –
3 C 9/95; juris). Verwaltungsakt ist nach der gesetzlichen Definition jede
Verfügung, Entscheidung oder andere hoheitliche Maßnahme, die eine Behörde
zur Reglung eines Einzelfalles auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts trifft und die
auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist. Eine hoheitliche
Maßnahme i. S. d. § 35 VwVfG bedarf grundsätzlich keiner besonderen Form;
Verwaltungsakte können daher auch in einem konkludenten Verhalten zu sehen
sein. Während Untätigkeit oder bloßes Schweigen im Regelfall nicht genügt, ist
diese Form des Verwaltungsakts allgemein in der Literatur und Rechtsprechung
anerkannt. Für die Beurteilung eines behördlichen Akts als Verwaltungsakt ist
maßgeblich darauf abzustellen, ob dieser Akt sich nach objektiver Betrachtung als
verbindliche und auf Rechtsbeständigkeit hin abzielende und von der Behörde
erkennbar so gewollte Regelung darstellt oder nicht (Kopp/Ramsauer, VwVfG, 8. A.,
§ 35 Rn. 20, 22 m. w. N.).
Die vorbehaltlose Entgegennahme einer Selbsterrechnungserklärung betreffend
Abgaben, für deren Erhebung eine förmliche Festsetzung nicht vorgesehen ist,
genügt diesen Anforderungen. Dies gilt zumindest dann, wenn der
Zahlungspflichtige den von ihm selbst errechneten Betrag kennt und auch zahlt
und dementsprechend das Heranziehungsverfahren mit der Entgegennahme
abgeschlossen ist. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht für den Fall einer
Steuerpflicht (Heranziehung zur Lohnsummensteuer gem. § 26 GewStG a.F.)
entschieden (stdg. Rspr. Urt. v. 18.09.1970, - VII C 68.68 -, KStZ 1971, 10; v.
18.08.1972, - VII C 55.70 -, KStZ 1972, 236 und v. 30.06.1972, - VII C 36.70 -, juris)
und dabei auf den Sinn und Zweck des Verfahrens abgestellt. Das Gesetz
verpflichte den Steuerpflichtigen zur Abgabe einer Erklärung über die Berechnung
der Steuer und schreibe ihm die Methode der Berechnung vor. Er sei auch dann
zur Zahlung verpflichtet, wenn er die Steuer für verfassungswidrig halte; aus dem
Gesetz ergebe sich, dass ein förmlicher Steuerbescheid nicht ergehe, wenn der
Steuerpflichtige die Steuer entrichtet habe. Die Behörde habe, soweit sie nichts
anderes erkläre, einen entsprechenden Bescheidungswillen, um etwaige
Einwendungen des Steuerpflichtigen an Rechtsmittelfristen zu binden. Denn die
Steuererhebung im Wege der Selbsterrechnung erfülle ihren Zweck nur, wenn der
Steuerpflichtige nicht die Möglichkeit erlange, seine Einwendungen gegen die
Heranziehung zeitlich unbegrenzt geltend zu machen, was für die Behörde zu
Folgen führte, die mit dem Prinzip der Rechtssicherheit nicht mehr zu vereinbaren
wären. Die gesetzliche Regelung des formlosen Heranziehungsverfahrens bleibe
weiterhin nur sinnvoll, wenn auch die Bekanntgabe des Heranziehungsakts, auf
welche die §§ 58 Abs. 2, 70 VwGO für den Beginn der Anfechtungsfrist abstellten,
in der unbeanstandeten Entgegennahme der Steuererklärung durch die Behörde
gesehen werde; dem Steuerpflichtigen, der die Selbsterrechnungserklärung
abgegeben und die Steuer gezahlt habe, sei dieser Heranziehungsakt bekannt.
Praktikabilitäts- wie Billigkeitsgesichtspunkte forderten daher die Wertung, dass mit
der widerspruchslosen Entgegennahme der Selbsterrechnungserklärung auch die
Bekanntgabe anzunehmen sei. Da die behördliche Bestätigung der sachlichen
Richtigkeit der Steuererklärung durch das „zum-Soll-Stellen“ oder Verbuchen des
erklärten Steuerbetrags behördenintern bleibe, beginne die Frist schon mit dem
Zugang der Steuererklärung bei der Behörde, falls diese nicht ausdrücklich
widersprochen oder nicht ein späteres Ereignis bestimmt habe. Bei dieser Wertung
hat sich das Bundesverwaltungsgericht von der Erwägung leiten lassen, dass der
Steuerpflichtige den Inhalt des (formlosen) Heranziehungsakts, der durch seine
Erklärung begründet wird, kennt und dass mit dem Zugang der
Selbsterrechnungserklärung beim Adressaten dessen Kenntnisnahme regelmäßig
möglich und nach den Gepflogenheiten des Verkehrs zu erwarten ist. Diese gelte,
so das Bundesverwaltungsgericht, für beide Beteiligte, solange die Behörde für
den Zeitpunkt der Wirksamkeit ihres Heranziehungsbescheids keine andere
Erklärung abgegeben habe. Der Zugang sei aus dem Eingangsstempel der
Steuererklärung ersichtlich und für den Steuerpflichtigen ohne besondere
Mitteilung hinreichend sicher bestimmbar, weil für ihn das Absendedatum
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Mitteilung hinreichend sicher bestimmbar, weil für ihn das Absendedatum
feststehe (BVerwG, Urt. v. 18.08.1972, - VII C 55.70, a.a.O.).
Dieser Auffassung schließt sich das erkennende Gericht an. Dies gilt ungeachtet
des Umstands, dass die vorzitierte Rechtsprechung aus der Zeit vor Inkrafttreten
des Verwaltungsverfahrensgesetzes des Bundes am 01.01.1977 stammt. Der
Gesetzgeber hat nämlich mit den Begriffsmerkmalen des Verwaltungsakts in § 35
VwVfG keine neuen Kriterien schaffen, sondern lediglich die zuvor bereits in
Rechtsprechung und Schrifttum zu §§ 42, 113 VwGO entwickelten Kriterien
aufnehmen und positivieren wollen; gleiches gilt für das in § 41 VwVfG geregelte
Erfordernis der Bekanntgabe und die in § 43 VwVfG geregelte Wirksamkeit des
Verwaltungsakts, wobei die Vorschriften selbst keine Definition des Begriffs der
Bekanntgabe und der Wirksamkeit eines Verwaltungsakts enthalten (vgl.
Kopp/Ramsauer a.a.O., § 35 Rdnr. 3; § 41 Rdnrn. 2, 7; § 43 Rdnr. 1).
Gegenteiliges folgt entgegen der Auffassung der Klägerin auch nicht aus dem
Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 20.09.1982 (AZ.: 8 C 48/82, juris), worin
ausgeführt ist, dass die Grundlage für die bisherige Rechtsprechung, nach welcher
in der widerspruchslosen Annahme der Lohnsummensteuererklärung durch die
Gemeinde ein formloser Steuerbescheid zu sehen ist, entfallen sei. Denn diese
Entscheidung erging zu § 26 GewStG i.d.F. des Art. 12 Nr. 7 des
Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung (EGAO 1977) vom 14.12.1976 (BGBl. I
S. 3341), und die vorgenannten Ausführungen beziehen sich, wie den
Urteilsgründen zu entnehmen ist, auf die neue Regelung in § 26 Abs. 2 Satz 3
GewStG, wonach die Lohnsummensteuererklärung des Steuerpflichtigen eine
Steueranmeldung ist. Daraus folgt lediglich, dass die bisherige Rechtsprechung
hinsichtlich der Lohnsummensteuererklärung aufgrund der Gesetzesänderung
obsolet geworden ist.
Zudem finden sich auch jüngere Anwendungsfälle in der höchstrichterlichen
Rechtsprechung, bei denen es an einer nach außen wahrnehmbaren „Maßnahme
der Behörde“, verstanden als Willensäußerung, fehlt. Insbesondere hat das
Bundesverwaltungsgericht an der Konstruktion einer konkludenten
Willensäußerung durch widerspruchslose Entgegennahme einer Mitteilung
festgehalten. In seinem Urteil vom 27.04.1995 zu § 5 Abs. 4 der Verordnung zur
Durchführung des Weinwirtschaftsgesetzes (a. a. O. sowie NVwZ-RR, 1996, 107),
wonach die Mitteilung des Abgabeschuldners als Abgabebescheid gilt, wenn der
Betrag der Abgabe darin zutreffend angegeben worden ist, führt es aus, diese
Bestimmung bedürfe der gesetzeskonformen Auslegung, da es sich nach der
Definition des § 35 VwVfG beim Verwaltungsakt um eine hoheitliche Maßnahme
handele, die eine Behörde treffe. Gegenstand der Klage könne daher nicht die
Abgabemitteilung als solche sein, sondern deren stillschweigende Annahme durch
die Behörde.
Entsprechendes gilt für die Entgegennahme einer Steuererklärung bei Abgaben,
bei denen eine förmliche Festsetzung nicht vorgesehen oder nicht üblich ist. Dies
hat der Bundesfinanzhof mit ähnlichen Erwägungen wie das
Bundesverwaltungsgericht in dessen älteren Entscheidungen für die
Entgegennahme der Mitteilungen der Molkereien über die Summe der
Referenzmengen nach § 4 Abs. 5 Satz 2 der Milch-Garantiemengen-Verordnung
(MGVO) und die Entgegennahme der Anmeldung der Summe der Abgaben gemäß
§ 11 MGVO entschieden (B. v. 25.03.1986, - VII B 164-165/85 -, juris u. v.
16.07.1985, - VII B 53/85 -, juris), ebenso das Bundesverfassungsgericht (Urteil
vom 18.12.1985, - 2 BvR 1167/84 -, juris) und das Bundesverwaltungsgericht
(Urteil vom 23.04.1993, - 3 C 12/91 -, juris).
Diese in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur
Selbsterrechnungserklärung aufgezeigten Erwägungen und Wertungen sind nach
Auffassung des erkennenden Gerichts für das Umlageverfahren nach der
MilchWUmlV HE, auf das § 3 Abs. 1 AbsFondsGBeitrV für die Erhebung der Beiträge
nach dem Absatzfondsgesetz verweist, entsprechend heranzuziehen. Die
Verordnung hat eine besondere Art der Heranziehung angeordnet, die mit der
Verpflichtung zur Abgabe der Mengenmitteilung und zur Zahlung des nach
vorgegebenen Kriterien selbst ermittelten Beitrags typische Elemente der vom
Bundesverwaltungsgericht beurteilten Selbsterrechnungserklärung enthält. Mit der
unbeanstandeten Entgegennahme der monatlichen Mitteilungen der
Rechtsvorgängerinnen der Klägerin hat der Beklagte konkludent den Willen zum
Ausdruck gebracht, den aufgrund der mitgeteilten Menge errechneten Beitrag
vereinnahmen zu wollen und damit jeweils hoheitliche Maßnahmen getroffen. Die
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vereinnahmen zu wollen und damit jeweils hoheitliche Maßnahmen getroffen. Die
Rechtsvorgängerinnen der Klägerin kannten die von ihnen selbst errechneten und
gezahlten Beiträge und mussten diese auch als für sich rechtlich verbindlich
festgestellt annehmen. Erkennbar sollte mit der jeweiligen Mitteilung das
Erhebungsverfahren abgeschlossen sein. Dies folgt aus dem Zusammenhang der
Absätze 1 und 2 des § 3 MilchWUmlV HE, wonach im Regelfall die
(stillschweigende) Entgegennahme der Erklärung des Abgabeschuldners die
Rechtsgrundlage für die Zahlung darstellt (Abs. 1) und nur im Ausnahmefall ein
förmlicher Bescheid ergeht, der den Beitrag festsetzt, nämlich dann, wenn der
Umlageschuldner seiner Erklärungspflicht nicht oder nicht vollständig nachkommt
(Abs. 2). Die im Ausnahmefall geregelte Festsetzung des Beitrags durch Bescheid
ist aber nur sinnvoll, wenn auch im Regelfall ein entsprechender Bescheid
zustande kommen soll, der die Rechtsbehelfsfristen in Lauf setzt. Damit wird den
Gesichtspunkten der Rechtssicherheit und der Verwaltungsökonomie zugleich
Rechnung getragen, was umso mehr gilt, als es im Regelfall bei dieser Berechnung
sein Bewenden hat, wie der vorliegende Fall bestätigt.
Aus alldem folgt, dass es entgegen der Auffassung der Klägerin nicht auf die
fehlende Kundgabe der ihr nicht bekannten behördeninternen Vorgänge, wie etwa
der Prüfung oder Billigung seitens des Beklagten, ankommt. Maßgeblich ist allein
der Zugang bei der Behörde; dieser kann in entsprechender Anwendung der
verfahrensrechtlichen Vorschriften geschätzt und davon ausgegangen werden,
dass die Mitteilungen binnen 3 Tagen nach Absendung eingegangen sind.
Soweit der Beklagte für den Monat Dezember 2004 einen Bescheid erlassen hat,
folgt hieraus nichts anderes für die Beurteilung der Beitragsmitteilung. Hierbei
handelt es sich hinsichtlich der Beitragshöhe um eine bloße Wiederholung eines
bereits vorhandenen Verwaltungsakts ohne neuen Regelungsgehalt (vgl.
Kopp/Ramsauer, § 35 Rdnr. 55; § 41 Rdnr. 19), verbunden mit der Einräumung
einer verlängerten Zahlungsfrist als Neuregelung, die der Beklagte im Rahmen
seiner nach § 4 MilchWUmlV HE gegebenen Zuständigkeit aus Gründen der
haushaltsmäßigen Abwicklung einzuräumen befugt ist.
Der damit bestehende Rechtsgrund für das Behalten der entrichteten Beiträge ist
auch nicht nachträglich wieder entfallen. Die als Beitragsbescheide geltenden
Beitragsmitteilungen sind nicht durch die Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts nichtig geworden. Zwar hat das
Bundesverfassungsgericht (Urteil vom 03.02.2009 – 2 BvL 54/06 -, a.a.O.) die
gesetzlichen Grundlagen der Beitragserhebung (§ 10 Abs. 1 bis Abs. 8
AbsFondsGBeitrV) als mit dem Grundgesetz unvereinbar und damit nichtig erklärt.
Nach § 31 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht
(BVerfGG) hat die Entscheidung Gesetzeskraft und entfaltet damit
Allgemeinwirkung. Nach §§ 82 Abs. 1, 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG bleiben jedoch die
auf einer für nichtig erklärten Norm beruhenden, nicht mehr anfechtbaren
Entscheidungen unberührt.
Auch liegt eine Nichtigkeit i. S. v. § 44 HVwVfG nicht vor. Zwar stellt der Um- stand,
dass das Bundesverfassungsgericht die Beitragsregelung für nichtig erklärt hat,
einen besonders schwerwiegenden Fehler dar, weil die Ermächtigungsgrundlage
wegen deren Verfassungswidrigkeit fehlt; die Unvereinbarkeit der Beitragsregelung
mit dem Grundgesetz war jedoch im Zeitraum der Heranziehungen nicht
offenkundig im Sinne dieser Vorschrift. Mehrere Gerichte haben die
Beitragserhebung selbst dann noch für zulässig erachtet bzw. die
Verfassungswidrigkeit des AbsFondsG nicht als offensichtlich bezeichnet, als der
Vorlagebeschluss des Verwaltungsgerichts Köln vom 18.05.2006 bereits dem
Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vorgelegen hat (so VG München, B. v.
8.01.2007 – M 18 S 06.4166 -, juris; Bay VGH, B. v. 4.04.2007 – 19 CS 07.400 -,
juris). Daran gemessen fehlt es hier an der zu fordernden Evidenz.
II.
Auch mit dem danach zur Entscheidung des Gerichts gestellten Hilfsantrag, der
zulässigerweise vom angekündigten Bescheidungsantrag in einen
Verpflichtungsantrag umgestellt werden konnte (vgl. Kopp/Schenke, a. a. O., § 91,
Rdnr. 9) hat die Klage keinen Erfolg.
Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die im Wege des Wiederaufgreifens der
Verfahren begehrte Aufhebung der bestandskräftigen Beitragsbescheide (vgl. §
113 Abs. 5 Satz 1 VwGO), womit auch kein Anspruch auf Erstattung der
geleisteten Beitragszahlungen und Verzinsung besteht.
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Die Voraussetzungen des von den Wiederaufgreifensgründen allein in Betracht
kommenden § 51 Abs. 1 Nr. 1 HVwVfG liegen nicht vor. Nach dieser Vorschrift hat
die Behörde auf Antrag des Betroffenen über die Aufhebung oder Änderung eines
unanfechtbaren Verwaltungsaktes – hier: der bestandskräftigen Beitragsbescheide
– zu entscheiden, wenn sich die dem Verwaltungsakt zugrunde liegende Sach-
oder Rechtslage nachträglich zu Gunsten des Betroffenen geändert hat. Durch die
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, mit der die hier maßgeblichen
Normen des Absatzfondsgesetzes für nichtig erklärt worden sind, ist jedoch eine
Änderung der Rechtslage in diesem Sinne nicht eingetreten (vgl. Kopp/Ramsauer,
a. a. O., § 51, Rn. 30). Gerichtliche Entscheidungen über die Gültigkeit von
Rechtsvorschriften wirken nicht konstitutiv auf das materielle Recht ein. Vielmehr
bestätigen Nichtigerklärungen eine schon gegenüber dem Verwaltungsakt
jedenfalls von den Gerichten aufgrund des richterlichen Prüfungsrechts durch
eigene Verwerfung oder gegebenenfalls Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG zu
beachtende, unverändert gebliebene Rechtslage (vgl. Stelkens/Bonk/Sachs,
VwVfG, § 51 Rdnr. 100). Von dieser rechtstheoretischen Grundannahme hat sich
ersichtlich auch der Gesetzgeber leiten lassen, wenn er in dem einzigen Fall, in
dem gerichtlichen Entscheidungen ausdrücklich Gesetzeskraft beigemessen wird
(vgl. § 31 BVerfGG), in dem also nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG ein Wiederaufgreifen
alter Verfahren grundsätzlich geboten sein könnte, in § 79 Abs. 2 BVerfGG
geregelt hat, dass die Bestandskraft unanfechtbarer, auf der nichtigen Norm
beruhenden, Entscheidungen unberührt bleibt. Eine Auslegung des § 51 Abs. 1 Nr.
1 VwVfG, nach der die Nichtigkeitserklärung des Bundesverfassungsgerichts eine
Änderung der Rechtslage bedeutete und mithin zu einem Anspruch auf
Wiederaufgreifen des Verfahrens führte, würde in einem Wertungswiderspruch zu
der ausdrücklichen Regelung des § 79 Abs. 1 BVerfGG stehen (vgl. BVerfG,
Beschluss vom 11.10.1966 – 1 BvR 178/64, BVerfGE 20, 230).
Ohne dass es von daher noch entscheidungserheblich darauf ankommt, sei darauf
hingewiesen, dass die Klägerseite auch nicht ohne grobes Verschulden außer
Stande gewesen ist, den Grund für das Wiederaufgreifen in den früheren Verfahren
insbesondere durch Rechtsbehelfe geltend zu machen (§ 51 Abs. 2 VwVfG). Sie
hat gegen die Beitragsbescheide für den Zeitraum ab Januar 2005 Rechtsmittel
eingelegt, gleiches hätten sie auch bereits hinsichtlich der streitgegenständlichen
Zeiträume tun können. Weiterhin spricht auch vieles dafür, dass die Klägerin die
Antragsfrist (§ 51 Abs. 3 VwVfG) nicht gewahrt hat. Die Drei-Monats-Frist beginnt
mit dem Tage, an dem der Betroffene von dem Grund für das Wiederaufgreifen
Kenntnis erhalten hat, zu laufen. Es kann angenommen werden, dass die Klägerin
angesichts der vom Bundesverfassungsgericht im Voraus publik gemachten
Mitteilungen über den Verkündungstermin von der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts am Tage der Verkündung, am 03.02.2009, Kenntnis
erlangt hat und daher der erst am 07.05.2010 beim Beklagten eingegangene
Antrag verspätet ist.
Die Klägerin kann die Aufhebung der Beitragsbescheide in Form der Rücknahme
im vorliegenden Verfahren auch nicht über eine Ermessensentscheidung des
Beklagten auf der Grundlage des § 48 VwVfG erreichen, der gemäß § 51 Abs. 5
VwVfG grundsätzlich neben § 51 Abs. 1-4 VwVfG zur Anwendung gelangt. Nach §
48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG kann ein rechtswidriger belastender Verwaltungsakt auch
nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit
zurückgenommen werden. Die vorliegenden Beitragsbescheide sind aufgrund der
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts rechtswidrig geworden. Damit war
der Beitragserhebung formell wie materiell bereits im Zeitpunkt des Erlasses der
Beitragsbescheide, auf den es maßgeblich ankommt, die Rechtsgrundlage
entzogen.
Einer Rücknahme steht § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG, durch den die Rechtsfolgen
der Nichtigkeit im Interesse des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit begrenzt
werden, auch nicht entgegen (vgl. Bethge, in Maunz/W./Bleibtreu/Klein/Ulsamer,
BVerfGG, § 79, Rn. 56 m.w.N.).
Der Beklagte hat jedoch ermessensfehlerfrei die Rücknahme abgelehnt.
Bei der Ausübung des Rücknahmeermessens hinsichtlich belastender
Verwaltungsakte kommt dem Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit prinzipiell
kein größeres Gewicht zu als dem Grundsatz der Rechtssicherheit, sofern dem
anzuwendenden Recht nicht ausnahmsweise eine andere Wertung zu entnehmen
ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 30.01.1974 – 8 C 20.72 – BVerwGE 44,333). Das der
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ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 30.01.1974 – 8 C 20.72 – BVerwGE 44,333). Das der
materiellen Einzelfallgerechtigkeit gegenläufige Gebot der Rechtssicherheit ist ein
wesentliches Element der Rechtsstaatlichkeit und damit ein Konstitutionsprinzip
des Grundgesetzes. Aus ihm folgt die grundsätzliche Rechtsbeständigkeit
unanfechtbarer Verwaltungsakte. Gibt die Rechtsordnung der Verwaltungsbehörde
die Möglichkeit, durch Hoheitsakt für ihren Bereich das im Einzelfall rechtlich
Verbindliche festzustellen, zu begründen oder zu verändern, so besteht auch ein
verfassungsrechtliches Interesse daran, die Bestandskraft des Hoheitsaktes
herbeizuführen. Die mögliche Folge, auch rechtswidrige, aber bestandskräftige
Verwaltungsakte hinzunehmen, wird in ihren Auswirkungen begrenzt durch die
Möglichkeit der fristgerechten Anfechtung belastender Verwaltungsakte mit
Widerspruch und Anfechtungsklage. Die mit dem Verstreichen der Anfechtungsfrist
regelmäßig einhergehende Bestandskraft eines Verwaltungsakts ist mithin ein
Instrument zur Gewährleistung von Rechtssicherheit (BVerfG, B. v. 20.04.1982 – 2
BvL 26/81 – BVerfGE 60, 253). Tritt der Grundsatz der Rechtssicherheit mit dem
Gebot der Gerechtigkeit im Einzelfall in Widerstreit, so ist es zunächst Sache des
Gesetzgebers und dann der Rechtsprechung, das Gewicht, das ihnen in dem zu
regelnden Fall zukommt, abzuwägen und zu entscheiden, welchem der beiden
Prinzipien der Vorrang gegeben werden soll (vgl. BVerfG, B. v. 14.03.1962 – 1 BvL
28/62 – BVerfGE 15,313).
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der das erkennende
Gericht folgt, besteht mit Blick auf das Gebot der materiellen Gerechtigkeit
ausnahmsweise dann ein Anspruch auf Rücknahme eines bestandskräftigen
Verwaltungsaktes, wenn dessen Aufrechterhaltung „schlechthin unerträglich“ ist.
Ob sich die Aufrechterhaltung des Verwaltungsaktes als schlechthin unerträglich
erweist, hängt von den Umständen des Einzelfalles und einer Gewichtung der
einschlägigen Gesichtspunkte ab. Das Festhalten an dem Verwaltungsakt ist etwa
dann schlechthin unerträglich, wenn die Behörde gegen den allgemeinen
Gleichheitssatz dadurch verstößt, dass sie in gleichen oder ähnlich gelagerten
Fällen in der Regel von ihrer Befugnis zur Rücknahme Gebrauch macht, hiervon
jedoch in anderen Fällen ohne rechtfertigenden Grund absieht. Genauso liegt es,
wenn Umstände gegeben sind, die die Berufung der Behörde auf die
Unanfechtbarkeit als einen Verstoß gegen die guten Sitten oder Treu und Glauben
erscheinen lassen. Auch eine – im Zeitpunkt des Erlasses - offensichtliche
Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kann die Annahme rechtfertigen, seine
Aufrechterhaltung sei schlechthin unerträglich. Ferner kann in dem einschlägigen
Fachrecht eine bestimmte Richtung der zu treffenden Entscheidung in der Weise
vorgegeben sein, dass das Ermessen im Regelfall nur durch die Entscheidung für
die Rücknahme des Verwaltungsaktes ausgeübt werden kann, so dass sich das
Ermessen in diesem Sinne als intendiert erweist (vgl. BVerwG, Beschluss vom
07.07.2004 – 6 C 24.03 -, BVerwGE 121, 226 ff m.w.N.; BVerwG, Urteil vom
17.01.2007 – 6 C 32,06, NVwZ 2007, 709 ff).
Nach diesen Grundsätzen scheidet hier die Annahme einer Reduzierung des
Rücknahmeermessens auf Null von vornherein aus. Die von dem Beklagten
getroffene Ermessensentscheidung, die Beitragsbescheide nicht zurückzunehmen,
führt nicht zu einem „schlechthin unerträglichen“ Ergebnis. Allein der Umstand,
dass damit auf verfassungswidriger Grundlage ergangene Bescheide aufrecht
erhalten bleiben, begründet eine solche Bewertung keinesfalls, wie § 79 Abs. 2 S. 1
BVerfGG aufzeigt.
Eine offensichtliche Rechtswidrigkeit der Beitragsbescheide im maßgeblichen
Zeitpunkt des Erlasses ist – wie unter I. bei der Frage der Nichtigkeit der
Beitragsbescheide ausgeführt - nicht gegeben. Auch im Übrigen liegen keine
Umstände vor, die die Aufrechterhaltung der Beitragsbescheide als „schlechthin
unerträglich“ erscheinen ließen und daher zu einer Ermessensreduzierung führen
könnten. Dem einschlägigen Fachrecht lässt sich nichts für eine zwingende
Rücknahme Sprechendes entnehmen, so dass es bei dem in § 79 Abs. 2 S. 1
BVerfGG niedergelegtem allgemeinen Grundsatz verbleibt. Der Gesetzgeber
räumt darin dem der materiellen Einzelfallgerechtigkeit gegenläufigen Gebot der
Rechtssicherheit grundsätzlich den Vorrang ein.
Eine Verletzung des verfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes des
Art. 3 GG ist nicht ersichtlich.
Auch ein Verstoß gegen Treu und Glauben oder die guten Sitten liegt nicht vor.
Aus den oben dargelegten Gründen zur offensichtlichen Rechtswidrigkeit war es für
den Beklagten nicht ersichtlich, dass das Absatzfondsgesetz in maßgeblichen
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den Beklagten nicht ersichtlich, dass das Absatzfondsgesetz in maßgeblichen
Teilen verfassungswidrig war. Er hat daher nicht „sehenden Auges“
verfassungswidrige Beitragsbescheide erlassen in der Hoffnung, dass sie mangels
Anfechtung bestandskräftig würden.
Die Ablehnungsentscheidung des Beklagten hält sich auch im Übrigen im Rahmen
der gesetzlichen Grenzen des Ermessens (vgl. § 114 S. 1 VwGO). Zu Recht hat der
Beklagte in die Erwägungen einbezogen, dass die Rechtsfolgen der
bestandskräftigen Verwaltungsakte in der Vergangenheit abgeschlossen sind und
die Rechtsvorgängerinnen der Klägerin die Beitragserhebungen über die Jahre
akzeptiert haben. Insbesondere war es auch nicht ermessensfehlerhaft, dass sich
der Beklagte darauf berufen hat, dass er die vereinnahmten Beiträge an den
Absatzfonds zur Erfüllung seiner gesetzlichen Aufgaben, der Durchführung von
Absatzförderungsmaßnahmen, abgeführt und dieser die ihm zur Verfügung
gestellten Mittel auch zur Absatzförderung verwendet hat. Der Einwand des
Klägerbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung, der Absatzfonds verfüge
aufgrund umfangreich getätigter Rückstellungen noch über erhebliche Mittel,
deren Verwendung Gegenstand eines aktuellen Gesetzgebungsverfahrens sei,
entzieht diesen Erwägungen nicht die Grundlage. Tatsache ist, dass die
Beitragszahlungen an den Absatzfonds weitergeleitet worden sind. Das etwaige
aktuelle Vorhandensein erheblicher Mittel bedeutet nicht etwa, dass der
Absatzfonds, in dessen Aufgabenbereich die Absatzförderung einer Vielzahl von
Betrieben der Land- und Ernährungswirtschaft lag (vgl. § 10 Abs. 3 AbsatzFondsG),
keine Absatzfördermaßnahmen zu Gunsten der Molkereien mehr wahrgenommen
hätte. Dafür gibt es keine Anhaltspunkte; im Übrigen lässt sich nicht bemessen,
dass konkret die Beitragszahlungen der Rechtsvorgängerinnen der Klägerin noch
zur Verfügung stehen; eine solche Zuordnung wäre nur möglich, wenn gerade für
diese Beitragszahlungen Rückstellungen getätigt worden wären. Soweit sich der
Beklagte ferner auf die Vielzahl der im Falle einer Rücknahme ebenfalls
wiederzueröffnender Verfahren und den damit verbundenen, nicht zu
bewältigenden Personal- und Zeitaufwand berufen hat, handelt es sich zwar
grundsätzlich um legitime Ermessenserwägungen. Vorliegend erscheint diese
Erwägung allerdings nicht tragfähig, da das Regierungspräsidium Gießen lediglich
für die Beitragserhebungen eines überschaubaren Kreises von Molkereien,
Milchsammelstellen und Rahmstationen, an die hessische Erzeuger Milch liefern,
zuständig war. Wie der Beklagte im Schriftsatz vom 23.11.2009 ausgeführt hat,
hat er allerdings diesen Erwägungen auch kein tragendes Gewicht beigemessen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 VwGO. Die Entscheidung über die
vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 167 VwGO, 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert.