Urteil des VG Berlin vom 20.07.2010

VG Berlin: ordre public, anerkennung des urteils, sorgerechtsentscheidung, europäisches sorgerechtsübereinkommen, visum, vollstreckung, kindeswohl, ausbildung, quelle, familiennachzug

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Gericht:
VG Berlin 29.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
29 K 154.10 V
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 32 Abs 3 AufenthG, § 154 Abs
1 VwGO
Visum zum Zwecke des Familiennachzuges zu einem in
Deutschland lebenden Vater
Tenor
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides des Generalkonsulates der
Bundesrepublik Deutschland in İzmir vom 4. Dezember 2010 verpflichtet, dem Kläger ein
Visum zum Zwecke des Familiennachzuges zu seinem Vater zu erteilen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen
Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des
Vollstreckungsbetrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung
Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
Der am 20. Dezember 1994 geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger und
begehrt ein Visum zum Zwecke des Familiennachzuges zu seinem in Deutschland
lebenden Vater. Dieser ist ebenfalls türkischer Staatsangehöriger, reiste 1995 zunächst
als Asylbewerber nach Deutschland ein und erhielt nach der Eheschließung mit einer
deutschen Staatsangehörigen 1997 eine Aufenthaltserlaubnis, die am 7. September
2000 unbefristet verlängert wurde. Die Ehe wurde 2005 geschieden.
Die Eltern des Klägers waren nicht verheiratet, und das Sorgerecht hatte zunächst die
Mutter inne, die seit 2005 anderweitig verheiratet ist. Mit Urteil vom 28. März 2008
übertrug das 10. Familiengericht in İzmir unter Berufung auf Art. 183 des türkischen
Zivilgesetzbuches das Sorgerecht auf dessen Antrag auf den Vater. In der deutschen
Übersetzung des Urteils heißt es:
Das gemeinsame Kind […] wurde bei der Verhandlung am 08/04/2008 verhört, er
erklärte, dass er in die 8. Klasse geht, dass er auch einverstanden ist, sein Sorgerecht
von der Mutter auf den Vater zu übertragen, dass auch er nach Deutschland einreisen
möchte, dass er in Deutschland eine bessere schulische Ausbildung bekommen kann.
Nach der Beurteilung hat man festgestellt, dass die Mutter mit der Klage
einverstanden ist, dass die Übertragung des Sorgerechts für die Erziehung und
Ausbildung des Kindes besser sein wird. Demgemäß kam das Gericht zu der
Überzeugung, das Sorgerecht des Kindes dem antragstellerischen Vater zu übertragen.
Mit Urteil vom 22. Oktober 2009 regelte das 9. Familiengericht in İzmir das
Umgangsrecht der Mutter neu und stellte dabei fest, dass die Sorgerechtsübertragung
im o.g. Urteil rechtskräftig sei.
Einen Antrag des Klägers vom 17. September 2008 auf Erteilung eines Visums lehnte
das Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland in İzmir mit Bescheid vom 30.
Dezember 2008 mit der Begründung ab, der Lebensunterhalt sei nicht gesichert,
nachdem die Beigeladene mit dieser Begründung ihre Zustimmung versagt hatte.
Am 2. Juli 2009 beantragte der Kläger erneut das streitige Visum. Nachdem die
Beigeladene zunächst zugestimmt hatte, widerrief sie auf einen Hinweis des
Generalkonsulats diese Zustimmung. Daraufhin lehnte das Generalkonsulat den Antrag
mit Bescheid vom 9. Oktober 2009 ohne Rechtsmittelbelehrung mit der Begründung, die
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mit Bescheid vom 9. Oktober 2009 ohne Rechtsmittelbelehrung mit der Begründung, die
Sorgerechtsübertragung berücksichtige nicht die schutzwürdigen Interessen des Klägers
und verstoße zudem gegen das türkische Recht; sie sei daher wegen Verstoßes gegen
den ordre public unbeachtlich. Auf die Remonstration des Klägers lehnte das
Generalkonsulat den Antrag mit Bescheid vom 4. Dezember 2009 erneut ab und
vertiefte die Begründung, dass die Sorgerechtsentscheidung jeder gesetzlichen
Grundlage nach türkischem Recht entbehre, da eine Sorgerechtsübertragung nur im
Falle der Sorgerechtsentziehung vorgesehen sei. Art. 183 regele Scheidungsfolgen und
sei daher hier nicht anwendbar. Schließlich habe das Gericht die erforderlichen
Ermittlungen zum Kindeswohl unterlassen und lediglich antragsgemäß aus nicht
tragfähigen sozioökonomischen Gründen entschieden.
Mit der am 7. Januar 2010 erhobenen Klage macht der Kläger geltend, die türkische
Sorgerechtsentscheidung sei bindend. Er beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Generalkonsulates der
Bundesrepublik Deutschland in İzmir vom 4. Dezember 2010 zu verpflichten, dem Kläger
ein Visum zum Zwecke des Familiennachzuges zu seinem Vater zu erteilen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen,
und verweist auf den angegriffenen Bescheid.
Die Beigeladene hat sich nicht zur Sache geäußert.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten
wird auf die Gerichtsakte sowie den von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsvorgang
verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.
Entscheidungsgründe
Das Gericht konnte verhandeln und entscheiden, obwohl die Beigeladene nicht vertreten
war, da sie mit der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist (§ 102 Abs. 2
VwGO).
Die zulässige Verpflichtungsklage ist begründet, da der angegriffene Bescheid
rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 5 VwGO). Er hat
einen Anspruch auf Familiennachzug nach § 32 Abs. 3 AufenthG, da er das 16.
Lebensjahr noch nicht vollendet hat sowie sein Vater über eine Niederlassungserlaubnis
verfügt und Inhaber des alleinigen Personensorgerechts ist. Zu Unrecht meint die
Beklagte, die Sorgerechtsentscheidung des 10. Familiengerichts in İzmir vom 28. März
2008 sei unbeachtlich.
Nach Auffassung der Kammer zutreffend geht die Beklagte, wie auch andere Kammern
des Verwaltungsgerichts Berlin (Urteile vom 1. September 2009 – VG 21 K 126.09 V –
und dem folgend vom 23. September 2009 – VG 9 K 135.09 V –), allerdings davon aus,
dass der in Rede stehenden ausländischen Sorgerechtsentscheidung nach Artikel 10
Abs. 1 lit. a des Europäischen Übereinkommens über die Anerkennung und
Vollstreckung von Entscheidungen über das Sorgerecht für Kinder und die
Wiederherstellung des Sorgerechts vom 20. Mai 1980 (BGBl. II S. 220) – Europäisches
Sorgerechtsübereinkommen/ESÜ – die Anerkennung versagt werden kann, wenn die
Wirkungen der Entscheidung mit den Grundwerten des Familien- und Kindschaftsrechts
im ersuchten Staat offensichtlich unvereinbar sind. In Übereinstimmung hiermit sieht §
16a Nr. 4 FGG vor, dass die Anerkennung einer ausländischen Entscheidung
ausgeschlossen ist, wenn die Anerkennung der Entscheidung zu einem Ergebnis führt,
das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar ist.
Unzutreffend, weil den danach anzulegenden Prüfungsmaßstab überspannend, ist
jedoch die Auffassung, dies führe im vorliegenden Fall dazu, dass der
Sorgerechtsentscheidung vom 28. März 2008 die Anerkennung versagt werden könne.
Dies gilt zunächst für die Frage, ob die fragliche Entscheidung mit dem türkischen
Zivilrecht in Einklang steht, denn maßgeblich ist allein das an deutschem Recht zu
messende Ergebnis. Dass die Übertragung des Sorgerechts auf einen Elternteil allein
grundsätzlich oder auch im vorliegenden Fall nicht hinnehmbar wäre, ist nicht ersichtlich.
Dazu hat das Verwaltungsgericht Berlin im Urteil vom 10. Februar 2005 (VG 31 V 12.04,
juris Rdnr. 20) ausgeführt:
Indes ist die Anerkennung des Urteils eines ausländischen Gerichts nur
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Indes ist die Anerkennung des Urteils eines ausländischen Gerichts nur
ausgeschlossen, wenn diese zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen
des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar ist, was insbesondere der Fall ist, wenn
die Anerkennung mit den Grundrechten unvereinbar ist. Das lässt sich weder allgemein
noch im vorliegenden Fall für die Übertragung des Sorgerechts von der Mutter auf den
Vater sagen, wobei das Gericht davon ausgeht, dass der ordre-public-Vorbehalt hohe
Anforderungen stellt (vgl. Kegel/Schurig, IPR, 8. Aufl. 2000, § 16 III 2 c und 3, Seite 465 f.
und Kegel/Soergel, BGB, 12. Aufl. 1996, Art. 6 EGBGB, Rn. 23). Da die Klägerin nach dem
Erlass des Urteils den Nachzug zu ihrem Vater beantragte, sich im Rahmen des
Visumverfahrens auf eine weitere Befragung einließ und auf Befragen mittels ihres
Bevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung ihr Interesse an dem Verfahren hat –
glaubhaft – bekunden lassen, lässt sich ihre etwaige Nichtbeteiligung im
Sorgerechtsverfahren nicht zum Anlass nehmen, dem Urteil die Anerkennung zu
versagen. Das Ergebnis der Sorgerechtsentscheidung ist auch von der Klägerin gewollt,
lässt sich mithin nicht unter Berufung auf ihr Wohl und ihre Grundrechte durch den
Ausschluss der Anerkennung dieser Entscheidung vermeiden.
Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg hat dies ausdrücklich bestätigt
(Beschluss vom 18. August 2005 – 7 B 24.05 –, juris Rdnr. 39):
Ein Verstoß gegen den ordre-public (vgl. zu den Voraussetzungen Heldrich, in:
Palandt, BGB, 64. Aufl. 2005, Rnr. 4 zu Art. 6 EGBGB) ist aus den zutreffenden
Erwägungen der erstinstanzlichen Entscheidung (UA S. 5), auf die insoweit Bezug
genommen wird, nicht gegeben.
Im vorliegenden Fall hat das türkische Gericht ersichtlich keine Verfahrensverstöße
begangen, die das Ergebnis in Frage stellen könnten. So hat es ausweislich der
Entscheidungsgründe den Kläger angehört, und auch Rechte der Mutter, die der
Übertragung zugestimmt hat, sind nicht in einer bedenklichen Weise übergangen
worden; dies zeigt nicht zuletzt die von ihr wahrgenommene Möglichkeit einer Änderung
der Umgangsregelung.
Ebenfalls nicht mit dem gebotenen Prüfungsmaßstab vereinbar ist die Wertung, die
Sorgerechtsentscheidung widerspreche in einer zugleich dem ordre public
widersprechenden Weise dem Kindeswohl. Dabei kann unterstellt werden, dass die
Entscheidung allein oder jedenfalls entscheidend ausländerrechtlich motiviert bzw. von
ökonomischen Gesichtspunkten getragen ist, nämlich dem Zweck dient, dem Kläger den
Zuzug nach Deutschland zu ermöglichen, weil die Ausbildungssituation und die daran
anknüpfenden Berufsaussichten hier besser erscheinen. Ob dies tatsächlich zutrifft und
ob der Kläger trotz relativ fortgerückten Alters davon wird profitieren können, ist allein
eine Frage der inhaltlichen Richtigkeit der Sorgerechtsentscheidung; eine Fehlgewichtung
begründet allein keinen Verstoß gegen den ordre public. Es mag zwar sein, dass aus
deutscher Sicht wegen einer mit zunehmendem Alter abnehmenden
Integrationsfähigkeit es dem Kindeswohl umso mehr zu entsprechen scheint, das Kind in
seiner gewohnten Umgebung zu belassen, je stärker es dort integriert ist. Es ist aber
nicht einsehbar, weshalb die genannten ausländerrechtlichen und ökonomischen
Belange grundsätzlich mit Kindeswohlbelangen inkongruent sein sollen. Es ist zunächst
eine autonome Entscheidung der Eltern, wer die Erziehung des Kindes wo wahrnehmen
soll. Eine Sorgerechtsentscheidung, die dem Rechnung trägt, ist zunächst hinzunehmen,
solange nicht erkennbar ist, dass das Kind dadurch in eine nicht hinnehmbare Situation
gebracht wird. Die in § 20 Abs. 3 AuslG noch vorgesehene Möglichkeit, dem im Wege der
Ermessenentscheidung einwanderungspolitische Gesichtspunkte entgegenhalten zu
können, hat der Gesetzgeber abgeschafft. Es erscheint nicht geboten, ersatzweise im
Wege der Ferndiagnose zu mutmaßen, ob der zur Entscheidung berufene türkische
Richter bei seiner zugegebenermaßen wenig aufschlussreich begründeten Entscheidung
Kindeswohlbelange nicht nur anders gewichtet haben könnte, als dies ein nicht –
jedenfalls nicht primär – zur Entscheidung berufener deutscher Richter möglicher Weise
getan hätte, sondern sie völlig außer Acht gelassen hat.
Die weiteren Voraussetzungen für den Familiennachzug sind gegeben. Nach der
Berechnung der Beigeladenen übersteigt das Einkommen des Vaters des Klägers den
errechneten Bedarf um 495,59 €, so dass der Lebensunterhalt gesichert ist (§ 5 Abs. 1
Nr. 1 AufenthG). Der Vater bewohnt allein eine 41 m² große Zwei-Zimmer-Wohnung, so
dass ausreichender Wohnraum zur Verfügung steht (§ 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Es entspricht nicht der Billigkeit,
der Beigeladenen gemäß § 162 Abs. 3 VwGO einen Kostenerstattungsanspruch
zuzuerkennen, da sie keinen Antrag gestellt hat und somit kein eigenes Kostenrisiko
eingegangen ist (§ 154 Abs. 3 VwGO). Der Vollstreckungsausspruch beruht auf § 167
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eingegangen ist (§ 154 Abs. 3 VwGO). Der Vollstreckungsausspruch beruht auf § 167
VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Die Berufung wird gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO im Hinblick auf die noch anhängigen
Berufungen – OVG 11 B 2.10 und 3.10 – gegen die Urteile des Verwaltungsgerichtes
Berlin vom 1. September 2009 – VG 21 K 126.09 V – und vom 23. September 2009 – VG
9 K 135.09 V – wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Frage zugelassen, welche
rechtlichen Maßstäbe für die Nichtanerkennung ausländischer
Sorgerechtsentscheidungen gelten. Der oben zitierte Beschluss des
Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 18. August 2005 – OVG 7 B 24.05 –
hat noch keine grundsätzliche Klärung herbeigeführt, denn er beschränkt sich auf die
Würdigung des Einzelfalls. Mangels wesentlicher Änderung der Prozesslage war der
Rechtsstreit für diese Entscheidung nicht gemäß § 6 Abs. 3 Satz 1 VwGO auf die
Kammer zurück zu übertragen (BVerwG, Urteil vom 29. Juli 2004 – 5 C 65.03 –, BVerwGE
121, 292 = juris Rdnr. 16).
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