Urteil des VG Berlin vom 24.09.2010

VG Berlin: entschädigung, bemessungsgrundlage, grundstück, behörde, wohnung, hamburger, dachgeschoss, wiederbeschaffungswert, bauplan, zwangsversteigerung

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Gericht:
VG Berlin 4. Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
4 A 124.08
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 2 S 1 NS-VEntschG, § 2 S 5
NS-VEntschG, § 2 S 8 NS-
VEntschG, § 4 Abs 3 EntschG, §
16 Abs 1 S 2 BRüG
Bemessungsgrundlage für Entschädigung; Schätzung;
Wiederbeschaffungswert am 1. April 1956
Leitsatz
Lässt sich für zu entschädigende bewegliche Vermögensgegenstände kein
Wiederbeschaffungswert am 1. April 1956 bestimmen, so ist die Bemessungsgrundlage für
die Entschädigung in entsprechender Anwendung des § 4 Abs. 3 EntschG von der Behörde zu
schätzen. Der auf einer Schätzung beruhende Entschädigungsfestsetzungsbescheid ist
rechtswidrig, wenn er beachtenswerte oder eindeutig vorzugswürdige Hilfstatsachen oder
Ansätze zur Schätzung überging.
Fortführung von VG 25 A 203.04/BVerwG 5 B 8.07
(Teil-)Stattgabe
Tenor
Die Beklagte wird unter Änderung des Bescheids des Bundesamts für zentrale Dienste
und offene Vermögensfragen vom 16. Mai 2008 verpflichtet, für die übliche Einrichtung
einer Villa in der W...straße ..., Leipzig, bestehend aus Erdgeschoss, Obergeschoss
abzüglich zweier Mietbereiche und Dachgeschoss eine Entschädigung nach Maßgabe
des NS-VEntschG festzusetzen und dabei einen Schadensbetrag von 80.000 RM am 1.
Januar 1936 zugrunde zu legen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Von den Kosten des Verfahrens, soweit über sie noch nicht durch das
Bundesverwaltungsgericht entschieden worden ist, trägt die Beklagte 3/5 und der Kläger
2/5.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe des jeweiligen
Vollstreckungsbetrags vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um eine Entschädigung für eine Einrichtung, die sich in einem
Haus in der W...straße ... in Leipzig befand. Das Gebäude wurde 1891 von dem jüdischen
Bankier S... errichtet. Dieser war seit 1872 Gesellschafter einer offenen
Handelsgesellschaft, deren Geschäftsgegenstand der Betrieb einer Bank war. Er starb
1925. Sein Sohn Dr. jur. Jakob S... (= Großonkel des Klägers) sowie Dr. Walter S... und
Albert S... (= Onkel des Klägers) waren schließlich Gesellschafter der Bankgesellschaft,
die im August 1933 ihre Auflösung beim Handelsregister anzeigte. Insoweit sprach das
Sächsische Landesamt zur Regelung offener Vermögensfragen der JCC im Juli 2000
einen Entschädigungsanspruch in Geld wegen des Verlustes des Bankunternehmens zu.
Das 1891 errichtete Gebäude bestand aus einem tageslichtempfangenden
Kellergeschoss, einem Erdgeschoss, einem Obergeschoss und einem Dachgeschoss. Im
Keller befanden sich elf Räume, darunter der Raum für die Zentralheizung. Um das
Vestibül im Erdgeschoss waren acht Räume angeordnet, die im Bauplan etwa mit
Blumenzimmer, Herrenzimmer, Salon, Wohnzimmer, Speisezimmer, Garderobe und
Küche nebst Speisekammer bezeichnet waren. Dabei betrug die Grundfläche des
Erdgeschosses etwa 22x21 m. Im Obergeschoss gab es laut Bauplan weitere acht
Zimmer, darunter drei Schlafzimmer, ein Frühstückszimmer, ein Toilettenzimmer mit
Bad, ein Schrankzimmer, das Wohnzimmer des Sohnes und das Zimmer des Fräuleins.
Für das Obergeschoss wies der Bauplan weitere acht Zimmer, darunter zwei
Fremdenzimmer, ein Mädchenzimmer aus. Von Teilen der errichtungszeitgemäßen
Einrichtung gibt es Lichtbilder. Nach dem Krieg war in dem Haus die staatliche
Schauspielschule untergebracht.
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Herr S... hatte zwei Töchter und einen Sohn, den 1872 geborenen Dr. Jakob S.... Dieser
starb am 11. Januar 1943 in Auschwitz.
Herr Dr. Jakob S... lebte auch 1932 in dem Haus. Das Adressbuch dieser Zeit
bezeichnete ihn als Verwalter und führte ihn als Bankier. Daneben waren eine
Hausmeisterin (Fr. S...) und zwei weitere Personen, nach Darstellung des Klägers eine
Gesellschafterin und ein Laufbursche, aufgeführt. 1938-1940 wurden in dem Buch nur
noch Herr Dr. Jakob S... und zwei weitere Personen aufgeführt.
Der Steuergläubiger hatte 1938 wegen Ansprüchen auf Zahlung von Aufwertungssteuer
für das Grundstück in Höhe von knapp 1.000 RM ein Grundpfandrecht an dem
Grundstück pfänden lassen. Daneben betrieb die Deutsche Bank, die den
Grundeigentümern 1932 ein grundpfandrechtlich gesichertes Darlehn über 105.000 GM
gewährt hatte, seit Mai 1938 die Zwangsversteigerung des Grundstücks wegen eines
Teilbetrags von 20.000 GM, nachdem Miteigentümer auf ihre Anteile an dem Grundstück
verzichtet hatten. Sie trat ihre Ansprüche am 4. März 1940 an die Stadt Leipzig ab.
Diese ersteigerte das Grundstück am 14. März 1940. Im Anschluss daran zogen Herr Dr.
Jakob S... und seine („deutschblütige“) Ehefrau im August 1940 erst in eine andere
Wohnung – wohl zur Untermiete – und später bis zur Deportation des Mannes in eine
jüdische Schule.
Im Rückübertragungsverfahren bezüglich des Grundstücks legte die Stadt auszugsweise
eine Erklärung ihres Stadtsteueramts vom 3. Februar 1940 vor. Darin zitiert dieses aus
einem Schreiben der Deutschen Bank vom Februar 1939:
„Das Grundstück … ist in seiner jetzigen Gestalt unverkäuflich, da es sich in
einem Zustand befindet, der unverhältnismäßig hohe Instandsetzungskosten
erforderlich machen würde.“
Neben dem Grundstück in der W...straße ... lag das in der B...straße .... Dieses gehörte
den Brüdern S..., die es zwischen 1936 und 1938 verlassen mussten. Es war mit einer
Villa bebaut. In der Entschädigungssache Hans S... ging die Entschädigungsbehörde
1962 von einer verfolgsbedingten Verschleuderung der Einrichtung aus und schätzte den
Verschleuderungsschaden auf 100.000 RM, der zur Grundlage eines später
geschlossenen Vergleichs wurde.
Das Leipziger Amt zur Regelung offener Vermögensfragen lehnte mit Bescheid vom 28.
Juni 1999 einen Antrag auf Rückübertragung des Eigentums am gesamten Mobiliar, an
Gemälden, Kunstgegenständen, Skulpturen, technischen Raritäten der Eheleute S... aus
der Villa in der W...straße ... ab, weil nicht nachgewiesen sei, dass diese Vermögenswerte
verloren wurden. Auf den Widerspruch auch des Klägers dagegen reagierte das Leipziger
Amt zur Regelung offener Vermögensfragen mit einem Ergänzungs- und
Teilabhilfebescheid vom 18. April 2001. Damit lehnte es den Rückübertragungsantrag
des Klägers ebenfalls ab, bestimmte nun aber (Punkt 2), dass den Antragstellern
(darunter dem Kläger) für den verfolgungsbedingten Verlust näher bezeichneter
Edelmetallgegenstände (im Wesentlichen Besteck) und „der üblichen Einrichtung einer
Villa in der W... ..., bestehend aus Erdgeschoss, Obergeschoss abzüglich zweier
Mietbereiche und Dachgeschoss dem Grunde nach ein Anspruch auf Entschädigung
nach Maßgabe des NS-Verfolgtenentschädigungsgesetzes“ zusteht. Zur Begründung
hieß es: Es könne davon ausgegangen werden, dass die vom Ehepaar bewohnten
Räume entsprechend den Vermögensverhältnissen des Bankiers Dr. jur. Jakob S... und
dessen Ehefrau eingerichtet und ausgestattet waren. Die Behörde sei davon überzeugt,
dass die beiden im Zusammenhang mit dem verfolgungsbedingten Umzug zur
Untermiete den überwiegenden Teil der Wohnungseinrichtung verschleudern oder
verschenken mussten und somit die Vermögenswerte verloren. Bei den bei Bekannten
untergestellten Gegenständen, die die Ehefrau zurück erhalten habe, könne es sich nur
um einzelne Gegenstände gehandelt haben. Dagegen erhob auch der Kläger erneut
Widerspruch, weil er meinte, die auf den Lichtbildern abgebildeten Gegenstände hätten
ebenfalls ausdrücklich in die Grundlagenentscheidung aufgenommen werden müssen.
Mit Widerspruchsbescheid des Bundesamts zur Regelung offener Vermögensfragen vom
27. September 2005 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Zur Begründung hieß
es: Das Wort „Villa“ mache bereits deutlich, dass die Entschädigungsbehörde wegen der
Entschädigung des Hausrates als Gesamtheit aller beweglichen Sachen die
Eingruppierung des Hausrates in eine der höchsten Kategorien der Pauschalsätze
vorzunehmen habe. Es sei davon auszugehen, dass die auf den Photos abgebildeten
Kunstwerke in dieser Entschädigung mit berücksichtigt würden.
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Die Festsetzungsbehörde erhielt bei ihren (auch wiederholenden) Ermittlungen vom
Finanzamt einen von Herrn Dr. Jakob S... ausgefüllten Vordruck „Personenstands- und
Betriebsaufnahme am 10. Oktober 1934“. In dieser als Unterlage für die
Einheitsbewertung des Grundstücks vorgesehenen Erklärung bezeichnete er sich als
„Privatmann“ und gab an, dass eine Wohnung mit 12 Wohnräumen unvermietet sei, die
Dachwohnung mit drei Wohnräumen vom Eigentümer (ihm) genutzt werde und die
Kellerwohnung mit drei Wohnräumen an den Hausmann vermietet sei. Die zwölf Wohn-
und Schlafräume in Erd- und Obergeschoss bezeichnete er als leerstehend und
vermerkte schließlich:
„Die Zentralheizung ist seit 8 Jahren wegen großer Defekte am Kessel u.
Rohrleitungen unbenutzt. Große Dachschäden sind vorhanden, so daß ein vollständiges
Umdecken nötig wäre. Die große Veranda nach Osten hat sich bedenklich gesenkt.“
In einem Fragebogen zur Einheitsbewertung schrieb er Anfang 1939:
„Das Haus … ist eine Villa, die kein Erträgnis bringt u. dessen
Zwangsversteigerung auf den 30. Nov. 1938 anberaumt war, wobei der Termin, da kein
Bieter vorhanden, auf den 5. April 1939 verlegt wurde. Die Deutsche Bank hat eine
Hypothek von … auf das Haus. Ich bewohne mit meiner Frau 3 Zimmer (davon nur 1
heizbar) im Dachgeschoß.“
In einem weiteren Fragebogen, der nach Stand vom 10. Oktober 1939 zu beantworten
war, trug er zu sich „ohne Beruf“ ein und beschrieb seine 3-Zimmer-Wohnung als 75 qm
groß, wozu noch eine 12 qm große Küche kam. Ein Zimmer sei über einen Ofen
beheizbar gewesen. Zu der 340 qm großen 12-Zimmer-Wohnung schrieb er:
„Das Grundstück ist eine große 1892 erbaute Einfamilienvilla, die jetzt nur im
Dach- und Kellergeschoß bewohnt ist, Erdgeschoss u. I Stock sind unbewohnbar, da
wegen großer Defekte die alte Zentralheizung unbrauchbar ist u. auch die elektrische
Lichtanlage für diese Stockwerke von den Städtischen technischen Werken stillgelegt
wurde, weil die Leitung nur für 110 Volt u. nicht für 220 Volt benutzbar ist. Die Deutsche
Bank L..., die eine Hypothek von … auf das Grundstück hat, betreibt die
Zwangsversteigerung, der nächste Zwangsversteigerungstermin 15. Nov. 39 ist wegen
des Krieges verschoben worden.“
Mit Bescheid des Bundesamts für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen vom
16. Mai 2008 nahm die Beklagte den Entschädigungsgrundlagenbescheid vom 18. April
2001 mit Wirkung für die Vergangenheit teilweise insoweit zurück, als der Anspruch auf
Entschädigung unter Tenor-Punkt 2b für die übliche Einrichtung einer Villa in der
W...straße ... bestehend aus Erdgeschoss, Obergeschoss abzüglich zweier Mietbereiche
und Dachgeschoss festgestellt wurde (Ziffer 1). Sie stellte im weiteren fest (Ziffer 2),
dass dem Kläger ein Anspruch auf Entschädigung der Wohnungseinrichtung der Eheleute
S...straße ... bestehend aus drei Räumen zusteht und setzte dafür und für die
Edelmetallgegenstände eine Zahlung von 5.767,84 € nebst Zinsen in Höhe von 1.499,64
€ fest (Ziffer 3). Wegen der weiteren Einzelheiten dieses Bescheids wird auf die vom
Kläger zur Akte gereichte Ablichtung davon (Bd. I Bl. 20-34 d.A.) verwiesen.
Der Kläger hat am 18. Juni 2008 Klage erhoben. Er meint, das Gericht habe die
Bemessungsgrundlage selbst zu schätzen. Bei sachgerechter Anwendung der von der
Beklagten verwandten Hamburger Richtlinien sei von einer Bewertungssumme von über
136.415 RM auszugehen.
Nachdem die Beklagte einen im Erörterungstermin am 24. April 2009 geschlossenen
Vergleich widerrufen und das Gericht mit Zwischenurteil vom 13. November 2009 die
Klage für zulässig erklärt hat, beantragt der Kläger weiterhin,
den Bescheid des Bundesamts für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen
vom 16. Mai 2008 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass er
einen Anspruch auf weitere Zahlung einer NS-VEntschädigung hat, deren Höhe in das
Ermessen des Gerichts gestellt wird, deren Höhe 317.132,30 € nebst Zinsen darauf nicht
unterschreiten sollte.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie meint, wenn es überhaupt für die Festsetzung der Entschädigung auf mehr als eine
3-Zimmer-Wohnung ankomme, sei unter Anwendung der Hamburger Richtlinien
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3-Zimmer-Wohnung ankomme, sei unter Anwendung der Hamburger Richtlinien
allenfalls von einer Bewertungssumme von 38.337 RM auszugehen.
Folgende Akten haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung
gewesen: Vier Bände 4-13914/05 (Unternehmensrestitution und Entschädigungsakte)
sowie zwei Bände zur Rückübertragung D...straße ....
Entscheidungsgründe
Die nach dem infolge Rücknahme der Revision rechtskräftigen Zwischenurteil zulässige
Klage ist überwiegend begründet. Die Teilrücknahme des
Entschädigungsgrundlagenbescheids aus dem Jahr 2001 ist rechtswidrig und verletzt
den Kläger in seinem durch den Bescheid begründeten Recht (§ 113 Abs. 1 Satz 1
VwGO). Mit der dadurch gebotenen Aufhebung des Tenors zu 1. des angegriffenen
Bescheids verliert die neue Regelung im Tenor zu 2. (3-Raum-Einrichtung) ihre
Grundlage. In der weiteren Folge sind die Festsetzung der Entschädigung (Tenor zu 3.)
und der Zinsen (Tenor zu 4.) rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinem
weitergehenden Anspruch (§ 113 Abs. 5 VwGO). Indes geht der Klageantrag zur
Entschädigung für die Einrichtung über das Mögliche hinaus; insoweit ist die Klage
unbegründet.
A.
Die ohne vorherige Anhörung des Klägers erfolgte Teilrücknahme des
Entschädigungsgrundlagenbescheids aus dem Jahr 2001 ist auch materiell rechtswidrig.
Sie geht in Anwendung des § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG davon aus, dass der Bescheid aus
den Jahren 2001/2005 teilweise rechtswidrig ist. Das wäre nur der Fall, wenn feststünde,
dass die Villa außerhalb der von den Eheleuten schließlich bewohnten drei Räume nach
dem 30. Januar 1933 keine Einrichtungsgegenstände enthielt oder dass die auch nach
diesem Tag noch vorhandenen Einrichtungsgegenstände den Eheleuten nicht
verfolgungsbedingt verloren gingen. Das lässt sich nicht feststellen. Die im
Festsetzungsverfahren aufgefundenen Erklärungen aus den Jahren 1934 und 1939
geben weder für das Eine noch für das Andere etwas her. Selbst wenn man daraus mit
der Beklagten nun entnehmen wollte, dass die Eheleute bei ihrem Auszug 1940 nicht
mehr besaßen als den Hausrat in ihrer 3-Zimmer-Wohnung, wäre damit nicht belegt,
dass sie nach dem 30. Januar 1933 nicht mehr hatten und verloren. Es gibt auch sonst
keinen Anhalt dafür, dass der Grundlagenbescheid mit der Annahme eines
verfolgungsbedingten Verlustes der Villeneinrichtung rechtswidrig war. Wie die Behörde
in den Jahren 2001 und 2005 ist auch das Gericht in Anbetracht der sonstigen
Gegebenheiten davon überzeugt, dass die Villa auch nach dem 30. Januar 1933 den weit
herausgehobenen Vermögensverhältnissen entsprechend unter anderem mit den auf
den vorliegenden Lichtbildern zu erkennenden Gegenständen bestückt war und dass der
verfolgte Herr Dr. S..., der schließlich „ohne Beruf“ war, diese Gegenstände
verschleudern musste. Die Erklärungen aus den Jahren 1934 und 1939 fügen sich zu
dieser Überzeugung. Den Umstand, dass die Zentralheizung 1934 seit acht Jahren
wegen Defekten unbenutzt war, versteht das Gericht in Anbetracht der für den Verlust
des Bankunternehmens geleisteten Entschädigung nicht dahin, dass Herr Dr. S... bereits
seit 1926 so verarmt war, dass er in einem nicht beheizbaren Haus ohne
Einrichtungsgegenstände leben musste. Es erscheint dem Gericht möglich, dass die
mehr als 30 Jahre alte Zentralheizung unwirtschaftlich war und die Bewohnbarkeit des
voll eingerichteten Hauses auf andere Weise erreicht werden konnte. Zu weiteren
Ausführungen zur Rechtmäßigkeit des Bescheids aus den Jahren 2001/2005 sieht das
Gericht keinen Anlass, da die Behörde nur wegen der Erklärungen aus den Jahren 1934
und 1939 von ihrer früheren Überzeugung abrückte.
Von der Aufhebung der rechtswidrigen Teilrücknahme des in den Jahren 2001/2005
erlassenen Grundlagenbescheids ist auch der neue Grundlagenbescheid erfasst, mit
dem die Beklagte feststellte, dass der Kläger einen Anspruch auf Entschädigung der
Wohnungseinrichtung von drei Räumen hat. Denn in dieser Neufestsetzung konkretisiert
sich die teilweise Rücknahme des Grundlagenbescheids aus den Jahren 2001/2005.
B.
Der Kläger hat einen über den im Tenor zu 3. festgestellten Betrag von 5.701,33 € (=
5.767,84 € abzüglich hier nicht umstrittener 66,51 € für die Edelmetallgegenstände)
hinausgehenden Entschädigungsanspruch, der aber durch die Behörde festzusetzen ist.
Die Behörde ist zu verpflichten, die beantragte Amtshandlung (Festsetzung einer
Entschädigung) vorzunehmen und – da es um eine im Ausgangspunkt ihr zustehende
Befugnis zum Schätzen geht – dabei die Rechtsauffassung des Gerichts zu beachten (§
113 Abs. 5 VwGO).
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Nach dem im Festsetzungsverfahren bindenden Grundlagenbescheid aus den Jahren
2001/2005 ist die übliche „Einrichtung einer Villa in der W...straße ... bestehend aus
Erdgeschoss, Obergeschoss abzüglich zweier Mietbereiche und Dachgeschoss“ zu
entschädigen. Unter den hier gegebenen Umständen und eingedenk des Zwecks des
Grundlagenbescheids handelt es sich um eine noch hinreichend bestimmte Regelung.
Nach § 2 Satz 1 NS-VEntschG gelten für die Entschädigung die §§ 16 bis 26,
ausgenommen § 16 Abs. 2 Satz 2 des Bundesrückerstattungsgesetzes. Zwar bestimmt
§ 2 Satz 5 NS-VEntschG auch die entsprechende Geltung näher bezeichneter
Bestimmungen des Entschädigungsgesetzes. Doch gehört § 5a EntschG, mit dem die
Bemessungsgrundlage der Entschädigung für bewegliche Sachen einschließlich Hausrats
geregelt ist, nicht zu den entsprechend geltenden Bestimmungen. Die Verweisung
bezieht sich aber auch auf § 4 Abs. 3 EntschG, der regelt, dass eine
Bemessungsgrundlage zu schätzen ist, wenn sie nicht zu ermitteln ist. Allerdings betrifft
das nur eine Bemessungsgrundlage nach den Absätzen 1 und 2 und damit die zur
Entschädigung für Unternehmen. Für die Bemessungsgrundlage zur Entschädigung
beweglicher Sachen und damit auch einer „üblichen Einrichtung einer Villa“ kommt es
damit auf § 16 Abs. 1 Satz 2 des Bundesrückerstattungsgesetzes an. Danach ist bei der
Bemessung der Höhe des Schadensersatzbetrags der Wiederbeschaffungswert des
entzogenen Vermögensgegenstandes im Geltungsbereich des Gesetzes zugrunde zu
legen. Maßgebend sollte der Wiederbeschaffungswert am 1. April 1956 sein; bei Sachen
sollte ihr Zustand im Zeitpunkt der Entziehung berücksichtigt werden. § 2 Satz 8 NS-
VEntschG modifiziert diese Regelung dahin, dass für die Berechnung des
Wiederbeschaffungswertes auf den Wert abzustellen ist, den der Vermögenswert am
Stichtag in dem damaligen Geltungsbereich des Bundesrückerstattungsgesetzes hatte.
Dies verschafft keine Klarheit. Wollte man noch annehmen, man könnte in
entsprechenden Handelskreisen auf eine Vorstellung von einer „üblichen Einrichtung
einer Villa“ setzen, so gibt es keinen Hinweis darauf, dass sich dafür ein
Wiederbeschaffungswert nach den Verhältnissen am 1. April 1956 in den alten
Bundesländern ermitteln ließe. Die Beklagte hat weder solche Werte noch Pauschalsätze
für Villeneinrichtungen angeführt. Damit besteht für das Gericht kein Ermittlungsansatz.
Führen aber die gesetzlichen Regelungen dazu, dass sich eine Entschädigung mangels
Bemessungsgrundlage nicht festsetzen ließe, dann zeigt sich darin eine planwidrige
Lücke des Gesetzes. Denn nach § 1 Abs. 1 Satz 1 NS-VEntschG besteht ein Anspruch
auf Entschädigung in Geld. Das Recht muss deshalb einen Weg bieten, die
Entschädigung in Geld zu bemessen. Das ist nicht anders möglich, als dass man die
Bemessungsgrundlage schätzt und drängt hier dazu, § 4 Abs. 3 EntschG entsprechend
auf die Bemessungsgrundlage zur Entschädigung für bewegliche Sachen anzuwenden.
Dessen entsprechende Anwendung drängt sich auf, weil § 2 Satz 5 NS-VEntschG selbst
auf diese Norm verweist. Das Urteil der 25. Kammer vom 27. September 2006 – VG 25
A 203.04 – und der Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 8. Mai 2007 –
BVerwG 5 B 8.07 – (wohl nur in Juris), mit dem dieses die Nichtzulassungsbeschwerde
der Kläger gegen das Urteil der 25. Kammer zurückwies, stehen dem nicht entgegen,
zumal da der Senat bei Rn. 11 von „einer mangels anderweitiger Anhaltspunkte
erforderlichen Schätzung im Einzelfall“ sprach.
Allerdings ist die Schätzung zunächst Aufgabe der Verwaltung (vgl.
Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 19. Mai 2005 – BVerwG 7 C 22.04 –, wenngleich zu
dem hier nicht anwendbaren § 7 Abs. 1 Satz 2 VermG). Das Verwaltungsgericht ist
lediglich zur rechtlichen Kontrolle dieser Entscheidung berufen; es schätzt regelmäßig
nicht selbst. Diese Überprüfung ist beschränkt, wenngleich sie nicht durch § 114 VwGO
bestimmt wird. Denn die Schätzung ist nicht die Ausübung von Ermessen, obschon sie
damit gemein hat, dass sie - anders als die Anwendung eines unbestimmten
Rechtsbegriffs - eine Mehrheit gleichermaßen zulässiger Ergebnisse kennt. Durch
Ermessensentscheidungen werden durch die Verwaltung Rechtsfolgen bestimmt. Hier
steht die Rechtsfolge (Entschädigung) aber fest. Die Schätzung bezieht sich nur auf
einen Faktor zu ihrer Berechnung. Damit richtet sich die Kontrolle durch das Gericht
vorrangig auf das Zustandekommen des Schätzungsergebnisses und weniger auf das
Ergebnis.
Die Überprüfung muss die Besonderheit der Schätzung berücksichtigen. Sie ist eröffnet,
wenn die Bemessungsgrundlage für die Entschädigung mangels vorrangiger Daten nicht
ermittelt werden kann. Sie soll eine tatsächliche Ungewissheit überbrücken und eine
möglichst sachgerechte Entscheidung über die trotz dieser Ungewissheit zu leistende
Entschädigung ermöglichen. Deshalb kann man die Entscheidung - anders als eine
Ermessensentscheidung - nicht damit angreifen, dass ihre Grundlagen bzw. Maßstäbe
nicht im Einzelnen nachvollzogen werden können. Gibt es aber beachtenswerte oder
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nicht im Einzelnen nachvollzogen werden können. Gibt es aber beachtenswerte oder
eindeutig vorzugswürdige Hilfstatsachen oder Ansätze, dann ist die Schätzung zu
beanstanden und ist der darauf beruhende Verwaltungsakt rechtswidrig.
So liegt es hier. Die Beklagte richtet ihre Schätzung auch nach ihren in der mündlichen
Verhandlung nachgeschobenen Erwägungen zur Entschädigung einer Villeneinrichtung
an den Hamburger Richtlinien aus. Für den Streitfall ist das ein verfehlter Ansatz; es gibt
einen vorzugswürdigen. Verfehlt ist der Ansatz hier, weil die Hamburger Richtlinien aus
dem Jahr 1944 zur Bearbeitung von Kriegssachschadensanträgen in Hamburg dienten.
Sie nutzten bis dahin gemachte Erfahrungen mit Durchschnittshaushaltungen und
unterschieden zwischen 1- bis 4- Zimmer-Wohnungen mit Einkommensstufen bis 6.000
RM im Jahr und 2- bis 7-Zimmer-Wohnungen mit Einkommensstufen bis 10.000 RM
Jahreseinkommen. Ihrem eigenen Anspruch nach konnten diese Richtlinien nicht ohne
weiteres mit Erfolg angewandt werden, in denen der Geschädigte aus einem Vermögen
oder aus besonderen Gründen höhere Werte im Hausrat angelegt hatte. Auch das lässt
es fernliegend erscheinen, auf diese Richtlinien zurückzugreifen, wenn es um die
Entschädigung der Villeneinrichtung eines Bankiers geht. Sollte es keine besseren
Werten geben (wie etwa in dem von der 25. Kammer entschiedenen Fall), mag es
vertretbar sein, sich auch in einem solchen Fall bei der Schätzung an den Hamburger
Richtlinien zu orientieren.
Hier indes gibt es einen besseren Wert. Den sieht das Gericht in dem 1962 von einer
Entschädigungsbehörde angesetzten Verschleuderungsschaden von 100.000 RM in
Bezug auf die Einrichtung der Nachbarvilla. Nach der unangegriffenen Darstellung des
Klägers, die nach Aktenlage plausibel erscheint, waren die beiden Villen in der W...straße
und der B...straße in Größe und Ausstattung vergleichbar. Den Rückgriff auf diesen Wert
hält das Gericht auch deshalb für (gegenüber einer Extrapolation der Hamburger
Richtlinien) vorzugswürdig, weil nach dem Grundlagenbescheid die übliche Einrichtung zu
entschädigen ist, was einen Vergleich erlaubt. Und schließlich schreibt das Gericht einer
1962 tätigen Entschädigungsbehörde eine beachtliche Sachkunde beim Umgang mit
Werten um 1956 zu. Weil aber nach dem Grundlagenbescheid nicht die gesamte
Villeneinrichtung zu entschädigen ist, hält das Gericht einen Abschlag für geboten, den
es durch einen niedrigeren Ausgangswert und den für die Anwendung des Preisindexes
(zur Umrechnung von Reichsmark auf Deutsche Mark am 1. April 1956) nötigen Stichtag
ausdrückt. Die im Widerspruchsbescheid aus dem Jahr 2005 angesprochene
Berücksichtigung von Kunstgegenständen sieht das Gericht dadurch gewährt, dass es
auf den Verschleuderungsschaden der Einrichtung der Nachbarvilla zurückgreift.
Unter Beachtung dieser Rechtsauffassung hat die Behörde die Entschädigung für die
übliche Einrichtung festzusetzen, wobei das Gericht davon ausgeht, dass die Behörde
den Wert von 80.000 RM – wie in der mündlichen Verhandlung einvernehmlich erörtert -
nach dem vom Statischen Bundesamt veröffentlichten Preisindex vom 1. Januar 1936
bis zum 1. April 1956 fortschreibt und über Deutsche Mark in Euro umrechnet.
Dem Kläger steht – wie zwischen den Beteiligten nicht streitig ist – ein Zinsanspruch
nach § 2 Sätze 9 und 10 NS-VEntschG zu, der mit dem nun zu erlassenden
Entschädigungsbescheid festzusetzen ist.
Die Kostenentscheidung gründet auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die Regelung der
vorläufigen Vollstreckbarkeit entspricht § 167 VwGO und § 709 ZPO. Nach § 4 Satz 2 NS-
VEntschG und § 37 Abs. 2 Satz 1 VermG ist die Berufung ausgeschlossen. Die Revision
ist nicht nach den §§ 135 Satz 1, 132 Abs. 2 VwGO zuzulassen. Nach dem Beschluss des
Bundesverwaltungsgerichts vom 8. Mai 2007 – BVerwG 5 B 8.07 – steht die Zulässigkeit
einer Schätzung in Bezug auf bewegliche Sachen zur Bestimmung der
Bemessungsgrundlage für die Entschädigung nach dem NS-VEntschG nicht mehr in
Frage. Die hier angestellten Erwägungen bei der entsprechenden Anwendung des § 4
Abs. 3 EntschG weisen – wie auch die Beklagte in der mündlichen Verhandlung
eingeräumt hat – keine über den Einzelfall hinausgehenden Umstände auf, die
revisionsgerichtlich erörtert werden müssten.
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