Urteil des VG Berlin vom 12.10.2010

VG Berlin: in dubio pro reo, grundsatz der gleichbehandlung, daten, stationäre behandlung, schuldfähigkeit, disziplinarverfahren, beamter, anzeige, steuerverwaltung, aktiven

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Gericht:
VG Berlin 80.
Disziplinarkammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
80 K 34.09 OL
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 20 BG BE, § 21 BG BE, § 5 Abs
1 DO BE, § 10 DO BE, § 11 Abs 2
DO BE
Aberkennung des Ruhegehalts im Fall einer Finanzbeamtin nach
Straftaten
Tenor
Der Ruhestandsbeamtin wird das Ruhegehalt aberkannt.
Die Ruhestandsbeamtin trägt die Kosten des Verfahrens und ihre Auslagen.
Der Ruhestandsbeamtin wird ein Unterhaltsbeitrag in Höhe von 75 v.H. für die Dauer von
9 Monaten gewährt.
Gründe
I.
Die 196... in S... geborene Ruhestandsbeamtin (im Folgenden: Angeschuldigte), die mit
ihren Eltern 1965 nach Berlin gezogen war, begann im Jahr 199... eine Ausbildung in der
Steuerverwaltung in Berlin.
Davor hatte sie nach Erlangen des Realschulabschlusses eine Ausbildung zur
Fachverkäuferin im Handelsgewerbe erfolgreich abgeschlossen und in verschiedenen
privaten Arbeitsverhältnissen gestanden. So hatte sie als Zugabfertigerin und später –
bis zur Geburt ihres ersten Kindes 1988 – als Weichenstellerin bei der B..., zuletzt vor
ihrem Wechsel in die Finanzverwaltung etwa ein Jahr als Zeitungszustellerin gearbeitet.
Um ihre in dieser Zeit geborenen Kinder zu betreuen, hatte sie von 1988 bis 1992 nicht
gearbeitet.
Die Laufbahnprüfung für den mittleren Dienst der Finanzverwaltung bestand sie 1995 mit
der Note „gut“. Sie arbeitete von August 1995 bis August 2000 durchgehend in
Teilzeitbeschäftigung (3/4 bzw. 30 Stunden). Seit 199... Beamtin auf Lebenszeit, wurde
sie 199... zur Steuerobersekretärin befördert. Dienstlich war die Angeschuldigte seit
1995 auf einem Veranlagungsplatz im Finanzamt eingesetzt. Ihre dienstlichen
Leistungen beurteilten ihre Vorgesetzten zuletzt für die Zeit August 1996 bis Ende
Dezember 1997 mit „besonders bewährt“. Hervorgehoben wird, dass sie auch bei hoher
Belastung gute Arbeit leiste. Die Angeschuldigte nahm von Dezember 1995 bis Ende Juli
1996 die Aufgaben der Frauenvertreterin nach dem Landesgleichstellungsgesetz wahr.
Im September 1998 nahm sie einen Monat lang an einer Fortbildung für Betriebsprüfer
teil.
Sie erkrankte im Februar 2001 dauerhaft dienstunfähig und wurde mit Wirkung ab 1.Mai
2002 wegen Dienstunfähigkeit auf Grund einer „schweren Erkrankung aus dem
psychiatrischen Fachbereich“ in den Ruhestand versetzt. Ihr Ruhegehalt bemisst sich
nach der gesetzlichen Mindestversorgung und beträgt gegenwärtig 1.474 € (netto) zzgl.
Kindergeld.
Die Angeschuldigte ist zum dritten Mal verheiratet. In den Jahren 1983 bis 1987 war sie
zum ersten Mal verheiratet. Aus der 1988 geschlossenen zweiten Ehe gingen die 1988
und 1991 geborenen Kinder B... und E... hervor. Ein 1989 geborenes Kind verstarb drei
Monate später an plötzlichem Kindstod. Im Jahr 1990 hatte die Angeschuldigte eine
Fehlgeburt. Nach Scheidung der zweiten Ehe im Juni 2004 heiratete sie im Dezember
2004 erneut. Im selben Jahr war sie mit ihren beiden Kindern zu ihrem jetzigen Ehemann
„aufs Land“ gezogen, der – nach nicht überprüften Angaben der Angeschuldigten –
neben einem Teilzeitjob, der ihm 620 € netto einbringe, einen 40 ha großen
landwirtschaftlichen Betrieb mit Schweinemast betreibe, der sich wirtschaftlich allenfalls
trage.
Die Angeschuldigte ist disziplinarrechtlich oder strafrechtlich nicht vorbelastet.
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Mit Verfügung vom 16. Dezember 2002, ihr zugestellt am 20. Dezember 2002, leitete
der Oberfinanzpräsident gegen die Angeschuldigte das förmliche Disziplinarverfahren ein
und setzte dieses zugleich in Hinblick auf ein laufendes Strafverfahren aus. Nach dessen
rechtskräftigem Abschluss führte der Untersuchungsführer das Verfahren fort und
veränderte dessen Gegenstand auf Bitte des Vertreters der Einleitungsbehörde im Jahr
2005 und mit Zustimmung des Vertreters der Einleitungsbehörde im Jahr 2007 erneut.
Mit Beschluss v... – 5... – hatte das Amtsgericht C... den Antrag der Einleitungsbehörde,
für die Angeschuldigte wegen Verhandlungsunfähigkeit einen Betreuer im
Disziplinarverfahren zu bestellen, abgelehnt, weil diese nicht verhandlungsunfähig sei.
Nachdem die Angeschuldigte mehrere Termine im behördlichen
Untersuchungsverfahren unter Hinweis auf Verhandlungsunfähigkeit durch ihren
Verteidiger hatte absagen lassen, bestellte das Amtsgericht D... auf erneuten Antrag
der Einleitungsbehörde durch Beschluss v... – 6... – für die Angeschuldigte wegen
Verhandlungsunfähigkeit einen Betreuer für das Disziplinarverfahren; diese Betreuung
hob das Amtsgericht D... durch Beschluss v... wieder auf.
Nach Abschluss der Untersuchung legte der Vertreter der Einleitungsbehörde der
Ruhestandsbeamtin mit der Anschuldigungsschrift vom 23. Juni 2009, die dem
damaligen Betreuer im Disziplinarverfahren am 10. Juli 2009 zugestellt worden und dem
Verteidiger am 1. Oktober 2010 zugegangen ist, als Dienstvergehen zur Last:
1. Sie hat als Amtsträgerin durch die Anzeige einer fingierten Betriebsaufnahme der
Firma „U - Ft J... – Fördertechnik" vom 11.05.1999, die u. a. die erdachte
Betriebsanschrift S... Str. 54, 1... Berlin, c/o A. B..., trägt, die Zuständigkeit für die
Besteuerung des Herrn C..., H...str. 5, 1... Berlin, zu Unrecht aus dem Bereich des
Finanzamts C... in den Bereich des damaligen Finanzamts K... verlegt. Durch eine
fingierte steuerliche Abmeldung der Firma „U - Ft J... – Fördertechnik" vom 11.01.2000
erwirkte sie dann die ursprüngliche Zuständigkeit für die Besteuerung des Herrn C...,
H...str. 5, 1... Berlin, wieder im Bereich des Finanzamts C..., um ihre Tat zu verdecken.
2. Sie hat als Amtsträgerin im Jahre 2000 in Berlin durch drei Handlungen das damalige
Finanzamt K... über steuerlich erhebliche Tatsachen getäuscht und dadurch die
Umsatzsteuer 1997 bis 1999 nebst Zinsen zur Umsatzsteuer 1997 und 1998 für ein
fingiertes Steuerschuldverhältnis verkürzt, indem sie wissentlich und willentlich die von
ihr erdachten Daten für die nicht existente Steuerpflichtige GbR U... & J..., S... Str. 54,
1... Berlin, unter der Steuernummer 5... in die Datenverarbeitungsanlage der Berliner
Finanzbehörden zum Zwecke der Steuererstattung eingegeben und die entsprechenden
Erstattungsbeträge von insgesamt 15.405,22 € (30.130,-- DM) veruntreut hat.
3. Sie hat als Amtsträgerin gemeinschaftlich mit dem gesondert verfolgten
Industriemechaniker, Herrn O..., im Jahre 2000 in Berlin durch zwei Handlungen das
damalige Finanzamt K... und das Finanzamt R... über steuerlich erhebliche Tatsachen
getäuscht und dadurch die Umsatzsteuer 1999 und die Einkommensteuer 1999 für ein
fingiertes Steuerschuldverhältnis verkürzt, indem sie wissentlich und willentlich.
a) die von ihr erdachten Daten für die nicht existente Steuerpflichtige GbR Uy... & v...,
M...str, 12, 1... Berlin, unter der Steuernummer 5... in die Datenverarbeitungsanlage der
Berliner Finanzbehörden zum Zwecke der Steuererstattung eingegeben und den
entsprechenden Umsatzsteuer-Erstattungsbetrag 1999 i.H.v. 4.512,15 € (8.825,--- DM)
veruntreut hat;
b) durch die gesonderte und einheitliche Feststellung eines Verlustes aus
Gewerbebetrieb für die Beteiligten der GbR bewirkt hat, dass eine maschinell erstellte
Mitteilung über den auf den Beschuldigten v... entfallenden Verlustanteil an das FA R...
übermittelt wurde, die zu einer geänderten Einkommensteuerfestsetzung führte und den
sich daraus ergebenden Einkommensteuer-Erstattungsbetrag 1999 i.H.v. 6.747,52 €
(13.197,-- DM) veruntreut hat.
Im sachgleichen Strafverfahren wegen der Vorwürfe zu 2. und 3. verurteilte das
Amtsgericht Tiergarten die Angeschuldigte durch Urteil v..., das seit dem 29. Oktober
2003 rechtskräftig ist – 3... –, wegen Steuerhinterziehung im besonders schweren Fall in
drei Fällen, jeweils tateinheitlich mit Untreue im besonders schweren Fall zu einer
Gesamtfreiheitsstrafe von 11 Monaten, deren Vollstreckung das Amtsgericht für die
Dauer von 3 Jahren zur Bewährung aussetzte.
II.
Über die am 25. Juni 2009 beim Verwaltungsgericht eingegangene Disziplinarsache ist
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Über die am 25. Juni 2009 beim Verwaltungsgericht eingegangene Disziplinarsache ist
nach Maßgabe der Landesdisziplinarordnung – LDO – zu entscheiden, obwohl diese
gemäß Art. VIII § 3 Abs. 3 Nr. 1 des Gesetzes zur Neuordnung des Berliner
Disziplinarrechts vom 29. Juni 2004 (GVBl. S. 263) mit dessen In-Kraft-Treten am 1.
August 2004 außer Kraft getreten ist. Nach § 49 Abs. 3 des Disziplinargesetzes (Art. I
des vorbezeichneten Gesetzes) - DiszG - werden die bei In-Kraft-Treten dieses Gesetzes
eingeleiteten förmlichen Disziplinarverfahrens nach bisherigem Recht fortgeführt. Für die
Anschuldigung und die Durchführung des gerichtlichen Verfahrens gilt ebenfalls das
bisherige Recht.
Den für die disziplinarrechtliche Beurteilung maßgeblichen Sachverhalt hat die
Disziplinarkammer in der Hauptverhandlung auf Grund der aus dem Protokoll
ersichtlichen Beweisaufnahme wie folgt festgestellt:
Vorgeschichte:
Die Angeschuldigte hatte seit ihrer ersten Ehe immer (gemeinsame) Schulden und
versuchte diese stets so gut es ging abzuzahlen. Im Jahr 1988 war sie mit der
Schuldentilgung „auf dem Laufenden“. Während ihrer zweiten Ehe verschlechterte sich
die finanzielle Lage auf Grund eigener zeitweiliger Arbeitslosigkeit ab September 1990,
gesundheitlicher und familiärer Probleme. Dispositionskredite wurden laufend überzogen
und es kam mehrfach zu Umschuldungen. Zu einem nicht genau benannten Zeitpunkt
in den 90er Jahren waren es ca. 70.000 DM Schulden. Im Sommer 1998 trennte sich die
Angeschuldigte von ihrem zweiten Ehemann, der als Arbeiter bei der B...– seit einem
Herzinfarkt 1996 mit verringerter Stundenzahl – beschäftigt war und zur Schuldentilgung
nicht beitrug. Im April 1999 suchte die Angeschuldigte eine Schuldnerberatung auf. Zu
dieser Zeit war kein Kredit gekündigt und ihr Gehalt nicht gepfändet. Die Angeschuldigte
wurde immer verzweifelter, weil sie keine Möglichkeit mehr sah, die Schulden
abzuzahlen. Zusätzlich belasteten sie die gesundheitliche Lage ihres Sohns und
Probleme in ihrer neuen Partnerschaft. Anfang des Jahres 2000 beliefen sich ihre
Schulden auf etwa 50.000 DM. Ihre monatlichen Dienstbezüge betrugen rund 3.400 DM
(netto). Um ihrem neuen Freund zu helfen, hatte sie weiteren Kredit aufgenommen. Sie
fühlte sich nach jahrelangem Kampf gegen die „Schuldenfalle“ kraft- und mutlos und
wollte, „dass alles zu Ende ist“.
Zu 1. der Anschuldigungsschrift
Mit der Annahme der Anzeige einer „Betriebsaufnahme" vom 11. Mai 1999 täuschte die
Angeschuldigte im Datenverarbeitungssystem der Berliner Steuerverwaltung im
Zusammenwirken mit Herrn J... bewusst eine Verlegung des Sitzes seines
Gewerbebetriebs von der H...str. 5, 1... Berlin in die S...str. 54, 1... Berlin, c/o A. B... vor.
Aufgrund des zugleich mit der Anzeige in „U - Ft J... Fördertechnik" umbenannten
Firmennamens wurde automatisch vom Datenverarbeitungssystem der Steuerbezirk
566 zugewiesen, der im Zuständigkeitsbereich der Angeschuldigten lag. Diese hat
sodann mit Schreiben vom 14. Mai 1999 beim Finanzamt Charlottenburg die Akten des
Herrn J... zur StNr.: 0... unter Mitteilung der vorgetäuschten Änderung der örtlichen
Zuständigkeit im Besteuerungsverfahren angefordert. Am 1. Juni 1999 wurden die
ursprünglichen Daten an das damalige Finanzamt K... zur StNr.: 0... überspielt und am 9.
Juni 1999 entsprechend der fingierten Anzeige einer Betriebsaufnahme von der
Angeschuldigten im Datenverarbeitungssystem geändert. Die Werte der am 3. Mai 1999
beim Finanzamt C... eingegangenen Einkommensteuererklärung 1998 des Herrn J...
erfasste die Angeschuldigte am 10. Juni 1999. Dabei bearbeitete sie die Steuererklärung
ohne Zeichnung des vorgesehenen Verfügungsteils. Die Angeschuldigte erfasste auch
die Daten zur Umsatzsteuer 1998, Einkommensteuer 1997 und Gewerbesteuer 1998.
Auch bei der Bearbeitung dieser Erklärungen unterließ sie entsprechende Zeichnungen.
Unter dem Datum vom 11. Januar 2000 zeigte Herr J... die gänzliche Einstellung der
Tätigkeit der Fa. „U - Ft J... Fördertechnik" an. Die Angeschuldigte bearbeitete am 7.
März 2000 – vor Abgabe an das zuständige Finanzamt C... – die am 16. Februar 2000
beim damaligen Finanzamt K... eingegangene Einkommensteuererklärung 1999 und die
Gewerbesteuererklärung 1999 für den Gewerbebetrieb des Herrn J.... Die Bearbeitung
wurde durch die Angeschuldigte mit Namenszeichen und Datum am Ende der
entsprechenden Erklärungsvordrucke verfügt. Auf dem Vordruck der
Einkommensteuererklärung 1999 wurde durch die Angeschuldigte nicht die
Bearbeitereingabe (Pkt. 7 der Verfügung) als erledigt durch Namenszeichen und Datum
gezeichnet. Die Umsatzsteuererklärung 1999 zum Betrieb des Herrn J... war ebenfalls
am 16. Februar 2000 eingegangen. Der Eingangsvermerk erfolgte handschriftlich. Die
Angeschuldigte hat den Zustimmungsvorschlag für 1999 über Umsatzsteuer am 7. März
2000 über die Datenerfassung bestätigt und damit die Zustimmung erteilt. Mit Datum
vom 17. März 2000 erfolgte gegenüber Herrn J... unter Verwendung der erdachten
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vom 17. März 2000 erfolgte gegenüber Herrn J... unter Verwendung der erdachten
Firmenadresse die Mitteilung zur Zustimmung zu seiner am 16. Februar 2000
eingegangenen Umsatzsteuererklärung. Am 17. März 2000 – nach Verarbeitung aller
durch die Angeschuldigte eingegebenen Daten – ging eine von der Beamtin gefertigte
Mitteilung über die Änderung der örtlichen Zuständigkeit im Besteuerungsverfahren
beim Finanzamt C... ein. Mit Schreiben vom 6. April 2000 wurde die Besteuerung des
Herrn J... unter der StNr.: 0... vom Finanzamt C... übernommen. Tatsächlich wurde das
Unternehmen nicht eingestellt und der Sitz des Betriebes nicht verlegt. Die im
Disziplinarverfahren ursprünglich gehegte Vermutung einer Steuerzuwiderhandlung (für
den Zeitraum 1997 bis 1999) hat sich im Untersuchungsverfahren nicht bestätigt.
Die Angeschuldigte hat diesen Sachverhalt, wie er in der Anschuldigungsschrift als
Ergebnis des Untersuchungsverfahrens dargelegt worden ist, in der Hauptverhandlung
eingeräumt. Sie vermochte keinen Grund dafür anzugeben, warum sie den
Steuervorgang in ihren Zuständigkeitsbereich verlagert und diese Verlagerung nach
Bearbeitung der Besteuerungsdaten wieder rückgängig gemacht hat.
Die Angeschuldigte handelte bewusst und gewollt und damit vorsätzlich. Sie war auch
schuldfähig. Denn Anhaltspunkte dafür fehlen, dass die Angeschuldigte in diesem Fall,
anders als in den wenige Monate später begangenen Fällen, die dem Strafurteil zu
Grunde liegen (Punkte 2. und 3.), schuldunfähig gewesen sein könnte.
Zu 2. und 3. der Anschuldigungsschrift
Die Disziplinarkammer hat auf Grund der gemäß § 18 Abs. 1 Satz 1 LDO bindenden
Feststellungen in dem Strafurteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 21. Oktober 2003
Folgendes festgestellt (die Angeschuldigte wird dabei als „die Angeklagte“ und
„Angeklagte K...“ bezeichnet):
„Da sie aus persönlichen und familiären Gründen in einer desolaten finanziellen Situation
steckte, überlegte die Angeklagte, wie sie durch Ausnutzen der Ausgestaltung der
umsatzsteuerlichen Erstattungsregelungen Geld vom Fiskus erlangen könnte.
1. Sie richtete daher am 20. April 2000 im Finanzamt K... ein Steuerkonto für eine von ihr
erfundene „GbR U... & J..." ein, die sie mit der Steuernummer 567/60669 führte. Am 25.
April 2000 führte sie im Wege der Bearbeitereingabe Umsatzsteuerjahresfestsetzungen
für die Jahre 1997, 1998 und 1999 durch, die zu Erstattungen in Höhe von insgesamt
29.232,00 DM an Umsatzsteuer führten, welche am 11. Mai 2000 zuzüglich 898,00 DM
Zinsen auf das Konto von Herrn J... bei der B... mit der Konto-Nummer 0... überwiesen
wurden. Der Angeklagte J... leistete der Angeklagten K... Hilfe, indem er seine Daten und
seine Kontoverbindung zur Verfügung stellte und der Angeklagten K... am 16. Mai 2000
einen Betrag von 27.000 DM auf ihr privates Konto bei der S... mit der Konto-Nummer
0... überwies. Den Restbetrag behielt er als „Lohn“ für seine Dienste für sich.
2. Zwei Monate später trat die Angeklagte an den Angeklagten v... heran und schlug
diesem dieselbe Vorgehensweise wie dem Angeklagten J... vor. Am 19. Juni 2000 richtete
sie sodann abredegemäß im Finanzamt Kreuzberg ein weiteres fiktives Steuerkonto für
eine „GbR U... & v..." unter der Steuernummer 5... ein. Wieder führte sie die
Bearbeitereingabe der Umsatzsteuerjahresfestsetzung durch. Am 05. und 07. Juli 2000
führte sie diese für das Jahr 1999 durch und erreichte dadurch eine
Umsatzsteuererstattung für den Angeklagten v... in Höhe von 8.825,00 DM. Der Betrag
wurde plangemäß auf das Konto des Angeklagten v... bei der C... AG, Konto-Nr. 0...
überwiesen. Auch der Angeklagte v... hatte der Angeklagten K... seine persönlichen
Daten und seine Kontoverbindung zur Errichtung der fiktiven „U... & v... GbR" zur
Verfügung gestellt. Wie zuvor besprochen, kehrte der Angeklagte v... die Hälfte des
Erstattungsbetrags an die Angeklagte K... aus und behielt den zweiten Teil als Lohn für
seine Dienste für sich ….
3. Der Angeklagte v... legte mit Schreiben vom 17. Juni 2000 gegen den vom Finanzamt
Reinickendorf am 9. Juni 2000 erlassenen Einkom-mensteuerbescheid für das Jahr 1999
auf Anraten der Angeklagten K... Einspruch ein mit der Begründung, seine Verluste aus
der fiktiven „U... & v... GbR" seien nicht einkommensmindernd berücksichtigt worden.
Ihrem vorherigen Plan folgend führte die Angeklagte K... am 26. Juni 2000 die gesonderte
und einheitliche Feststellung von Einkünften aus Gewerbebetrieb für das Jahr 1999 für die
„U... & v... GbR" durch und gab die entsprechenden Daten zur Steuernummer 5... in das
Computersystem ein. Dies führte ihrem Plan entsprechend zu einer Verlustzuweisung in
Höhe von 51.117,23 DM an den Angeklagten v.... Das Finanzamt R... setzte daher mit
Bescheid vom 19. Juli 2000 die Einkommensteuer 1999 für den Angeklagten v... auf 0,00
DM fest. Ohne diese Verlustzuweisung hätte sein Steuerzahlbetrag 14.608,00 DM
betragen. Auch der Solidaritätszuschlag wurde mit 0,00 DM festgesetzt und somit um
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betragen. Auch der Solidaritätszuschlag wurde mit 0,00 DM festgesetzt und somit um
736,56 DM zu niedrig. Es folgte eine Einkommensteuererstattung in Höhe von 12.622,00
DM und eine Erstattung des Solidaritätszuschlags in Höhe von 575,24 DM. Mindestens
die Hälfte dieser Erstattungsbeträge kehrte der Angeklagte v... wie zuvor besprochen an
die Angeklagte K... aus.“
Ergänzend hat die Disziplinarkammer festgestellt:
Der Gesamtbetrag von 30.130 DM (15.405,22 €) für das fingierte Steuerkonto der „GbR
U... & J..." wurde durch maschinelle Anweisung des damaligen Finanzamts K...
überwiesen, d.h. ohne weiteres Handeln der Angeschuldigten.
Die Neufestsetzung der Einkommensteuer 1999 für den Angeklagten v... mit Bescheid
vom 19. Juli 2000 hätte das Finanzamt R... auf Grund der Verlustzuweisung durch die
Angeschuldigte auch ohne Einspruch des Angeklagten v... vorgenommen.
Die Angeschuldigte handelte schuldhaft und zwar vorsätzlich. Auch insoweit sind die
tatsächlichen Feststellungen des Amtsgerichts Tiergarten gemäß § 18 Abs. 1 Satz 1 LDO
bindend. Anlass für eine Lösung von diesen Feststellungen (§ 18 Abs. 1 Satz 2 LDO)
bestand für die Disziplinarkammer nicht. Einen entsprechenden Antrag hat die
Angeschuldigte auch nicht gestellt.
Nach der Tat
Die Angeschuldigte verwandte das durch die o.g. Tathandlungen erlangte Geld dafür, die
gemeinsam mit ihrem Ehemann eingegangenen Schuldverpflichtungen teilweise zu
tilgen. Den Rest schuldete sie auf ihren Namen um. Die Tat belastete sie stark. Vom 4.
bis 18. Juli 2000 begab sie sich mit unklaren Bauchbeschwerden in stationäre
Behandlung. Dort wurde Verdacht auf funktionelle Störungen im Sinn einer funktionellen
Dyspepsie (Reizmagen) diagnostiziert. Im September 2000 wurde der Sachverhalt zu 1.
der Anschuldigungsschrift auf ihrer Dienststelle bekannt und die Angeschuldigte darauf
angesprochen. Dieser Vorgang gab Anlass, eine Betriebsprüfung durch das Finanzamt
Charlottenburg bei Herrn J... durchzuführen. Im Rahmen der weiteren Überprüfung wurde
der Sachverhalt zu 2. der Anschuldigungsschrift ermittelt. Im Juli 2001 wurde daraufhin
von der Steuerfahndungsstelle des Finanzamts für Fahndung und Strafsachen ein
Strafverfahren gegen die Angeschuldigte eingeleitet, in dem diese von ihrem jetzigen
Verteidiger vertreten wurde. Die seit Februar 2001 fortlaufend dienstunfähig krank
gemeldete Angeschuldigte hielt sich vom 3. April bis 16. Juni 2001 in einer Klinik für
psychosomatische Medizin im Allgäu auf. Vom 19. Juni bis 6. August 2001 wurde sie
stationär in einer Gemeindepsychiatrischen Klinik in Berlin behandelt. Auf Antrag vom
26. Oktober 2001 stellte das Landesamt für Gesundheit und Soziales einen Grad der
Behinderung wegen seelischer Störung von 50 fest. Seit November 2004 befindet sich
die Angeschuldigte fortlaufend in ambulanter psychotherapeutischer Behandlung. Sie
steht weiter unter Betreuung hinsichtlich des Aufgabenkreises Vermögenssorge. 2006
erlangte sie am Abendgymnasium in N... das Abitur und studierte im Anschluss
Landschaftsarchitektur. Ihre Tochter studiert im 3. Semester in N... Agrarwirtschaft, ihr
Sohn hat in diesem Jahr eine Ausbildung als Altenpfleger in S... begonnen.
Nach ihren glaubhaften Angaben in der Hauptverhandlung hat die Angeschuldigte die
veruntreuten Beträge inzwischen vollständig an die Dienstbehörde zurückgezahlt. Sie
betreibt inzwischen ein Privatinsolvenzverfahren.
III.
Nach dem festgestellten Sachverhalt hat die Angeschuldigte ein aus mehreren
innerdienstlichen Dienstpflichtverletzungen zusammengesetztes, einheitlich zu
würdigendes Dienstvergehen (§ 40 Abs. 1 Satz 1 des Landesbeamtengesetzes– LBG –
a.F.) begangen.
Zu 1:
Durch das festgestellte Fehlverhalten hat die Angeschuldigte die Geschäftsordnung für
die Finanzämter (FAGO) missachtet und damit ihre Gehorsamspflicht (§ 21 Satz 2 LBG
a.F., § 35 Satz 2 BeamtStG) verletzt. Bei einem üblichen Eingang hätte die
Angeschuldigte gemäß § 12 Abs. 5 Satz 2 und Abs. 6 der Geschäftsordnung für die
Finanzämter (FAGO) den Eingang mit dem Eingangsdatum und ihrem Namenszeichen
versehen müssen. Auch die Erfassung der Daten im Datenverarbeitungssystem der
Berliner Steuerverwaltung hätte von der Angeschuldigten durch abschließende
Zeichnung auf den Verfügungsteilen der entsprechenden Steuererklärungen
nachvollziehbar gemäß § 15 Abs. 2 FAGO vermerkt werden müssen. Mit der bewussten
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nachvollziehbar gemäß § 15 Abs. 2 FAGO vermerkt werden müssen. Mit der bewussten
Verarbeitung der fingierten Anzeige einer Betriebsaufnahme und der späteren
Abmeldung hat sie zudem vorsätzlich die Pflicht zu achtungs- und vertrauenswürdigem
Verhalten verletzt (§ 20 LBG a.F., § 34 BeamtStG).
Zu 2. und 3.:
Durch das insoweit festgestellte Fehlverhalten hat die Ruhestandsbeamtin sich nicht nur
wegen Steuerhinterziehung und Untreue strafbar gemacht (§ 370 AO, § 266 i.V.m. § 263
Abs. 3 Nr. 4 StGB), sondern zugleich gegen ihre Verpflichtung verstoßen, ihr Amt
uneigennützig und gewissenhaft zu verwalten (§ 20 Satz 2 LBG a.F.), wie auch gegen die
Verpflichtung, sich innerhalb des Dienstes in einer Weise zu verhalten, die der Achtung
und dem Vertrauen gerecht wird, die ihr Beruf erfordert (§ 20 Satz 3 LBG a.F.). Als
Finanzbeamtin war die Angeschuldigte zu größtmöglicher Korrektheit und Ehrlichkeit
gegenüber ihrem Dienstherrn und den Steuerzahlern verpflichtet. Damit ist es
unvereinbar, die Überweisung fingierter Steuerrückzahlungen zu veranlassen.
IV.
Das Dienstvergehen der früheren Beamtin kann disziplinarrechtlich geahndet werden,
auch wenn sie inzwischen in den Ruhestand getreten ist. Die Landesdisziplinarordnung
bestimmt in § 2 Abs. 1 Nr. 2 a ausdrücklich, dass ein Ruhestandsbeamter wegen eines
während seines Beamtenverhältnisses begangenen Dienstvergehens verfolgt werden
kann.
Das von der Angeschuldigten begangene Dienstvergehen wiegt so schwer, dass die
Aberkennung des Ruhegehalts (§ 5 Abs. 2 i.V.m. § 11 Abs. 2 LDO) ausgesprochen
werden muss; denn befände sich die Angeschuldigte noch im Dienst, wäre die
Entfernung aus dem Dienst gemäß § 10 LDO als Disziplinarmaßnahme gerechtfertigt.
Welche Disziplinarmaßnahme im Einzelfall angemessen ist, richtet sich nach der
Schwere des Dienstvergehens, dem Persönlichkeitsbild des Beamten sowie dem
Umfang der durch das Dienstvergehen herbeigeführten Vertrauensbeeinträchtigung. Die
Entfernung aus dem Dienst ist dann auszusprechen, wenn der Beamte durch ein
schweres Dienstvergehen das Vertrauen des Dienstherrn oder der Allgemeinheit
endgültig verloren hat (vgl. nunmehr § 13 Abs. 2 DiszG).
Als maßgebendes Bemessungskriterium ist zunächst die Schwere des Dienstvergehens
richtungweisend für die Bestimmung der erforderlichen Disziplinarmaßnahme. Dies
bedeutet, dass das festgestellte Dienstvergehen nach seiner Schwere einer der im
Katalog des § 5 Abs. 1 LDO aufgeführten Disziplinarmaßnahmen zuzuordnen ist. Dabei
können die von der Rechtsprechung für bestimmte Fallgruppen herausgearbeiteten
Regeleinstufungen als Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen zugrunde gelegt
werden. Für die endgültige Bestimmung der Disziplinarmaßnahme ist dann
entscheidend, ob Erkenntnisse zum Persönlichkeitsbild und zum Umfang der
Vertrauensbeeinträchtigung im Einzelfall derart ins Gewicht fallen, dass eine andere als
die durch die Schwere des Dienstvergehens indizierte Disziplinarmaßnahme geboten ist
(vgl. BVerwG, Urteil vom 3. Mai 2007 - BVerwG 2 C 9.06 -, NVwZ-RR 2007, 695 <696>).
Ergibt eine Gesamtwürdigung der entsprechend § 13 Abs. 1 Satz 2 und 3 DiszG
bedeutsamen Umstände, dass ein Beamter durch ein schweres Dienstvergehen das
Vertrauen des Dienstherrn oder der Allgemeinheit endgültig verloren hat, so ist er aus
dem Dienst zu entfernen (vgl. nunmehr § 13 Abs. 2 Satz 1 DiszG). Ein solcher
Vertrauensverlust ist anzunehmen, wenn aufgrund der Gesamtwürdigung der Schluss
gezogen werden muss, der Beamte werde auch künftig seinen Dienstpflichten nicht
ordnungsgemäß nachkommen oder habe durch sein Fehlverhalten eine erhebliche, nicht
wieder gutzumachende Ansehensbeeinträchtigung des Berufsbeamtentums
herbeigeführt. Unter diesen Voraussetzungen ist er als Beamter nicht mehr tragbar (vgl.
grundlegend BVerwG, Urteil vom 19. Juni 2008 – 1 D 2.07 – Juris Rdn. 57 ff m.w.N.; st.
Rspr. OVG Berlin-Brandenburg, vgl. zuletzt Urteil vom 5. November 2009 – OVG 80 D
6.08 – UA S. 21 f.). Die Feststellung dieser für das berufliche Schicksal des Beamten und
die Funktionsfähigkeit des öffentlichen Dienstes in gleicher Weise bedeutsamen
Voraussetzungen hat der Gesetzgeber in die Hand der Disziplinargerichte gelegt. Sie
haben auf der Grundlage ihrer im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung aus
einem umfassend aufgeklärten Sachverhalt zu bildenden Überzeugung eine Prognose
über die weitere Vertrauenswürdigkeit des Beamten abzugeben. Fällt diese negativ aus,
ist der Beamte aus dem Dienst zu entfernen, denn anders als bei den übrigen
Disziplinarmaßnahmen besteht insoweit kein Ermessen.
Die Gesamtwürdigung der Pflichtverletzungen nach diesem Maßstab ergibt, dass allein
die Maßnahme der Entfernung aus dem Dienst in Betracht käme, wenn sich die
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die Maßnahme der Entfernung aus dem Dienst in Betracht käme, wenn sich die
Angeschuldigte noch im aktiven Dienst befände. Das Vertrauensverhältnis zum
Dienstherrn ist gerade durch das Dienstvergehen in solchem Maß zerstört, dass eine
Weiterverwendung im Dienst ausschiede. Maßgeblich hierfür ist die durch das
Dienstvergehen eingetretene Ansehensschädigung. Der Umstand, dass die
Angeschuldigte in den Ruhestand versetzt worden ist, führt nicht zur Anwendung eines
günstigeren Bemessungsrahmens. In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass
generalpräventive Erwägungen und der Grundsatz der Gleichbehandlung gemäß § 3 Abs.
1 GG es gebieten, dass ein Beamter, der in den Ruhestand tritt, nachdem er ein zur
Auflösung des Beamtenverhältnisses führendes Dienstvergehen begangen hat, nicht
bessergestellt wird als ein Beamter, der bis zum Abschluss des Disziplinarverfahrens im
aktiven Dienst verbleibt (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 26. August 2009
– 2 B 66.09 –, bei juris Rdn. 10 m.w.N.; Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg,
Urteil vom 18. Februar 2010 – 80 D 9.08 –).
Setzt sich das Dienstvergehen aus mehreren Pflichtverletzungen zusammen, so
bestimmt sich die zu verhängende Disziplinarmaßnahme in erster Linie nach der
schwersten Verfehlung (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 8. September 2004 -
1 D 18.03 - [zit. bei juris]). Das Schwergewicht des einheitlich zu würdigenden
Dienstvergehens bildet die Steuerhinterziehung und damit tateinheitlich begangene
Untreue (Punkte 2. und 3. der Anschuldigungsschrift). Gegenüber den Straftaten kommt
der vorgetäuschten Betriebsverlagerung (Vorwurf zu 1.) vergleichsweise geringeres
Gewicht zu. Die Beamtin hat jedoch auch in diesem Fall mit der persönlichen
Entgegennahme der fingierten Anzeige einer Betriebsaufnahme wissentlich die
Steuerverwaltung getäuscht.
Die Schwere des Dienstvergehens folgt aus dem Eigengewicht der Verfehlung, das
maßgeblich durch die Mehrzahl der begangenen Untreuehandlungen und die Höhe der
veruntreuten Beträge bestimmt wird. In den Fällen innerdienstlicher Betrugs- oder
Untreuehandlungen zum Nachteil des Dienstherrn lässt sich aus der Rechtsprechung
des Bundesverwaltungsgerichts, der sich die Disziplinarkammer anschließt, der
Grundsatz ableiten, dass bei einem Gesamtschaden von über 10.000 DM bzw. 5.000 €
die Entfernung aus dem Dienst ohne Hinzutreten weiterer Erschwerungsgründe
gerechtfertigt sein kann (stRspr., vgl. Urteil vom 4. Mai 2006 – 1 D 13.05 – bei juris Rdn.
29 m.w.N.); ein solches Dienstvergehen steht hinsichtlich der Schwere einem
Zugriffsdelikt gleich (vgl. BVerwG, Beschluss vom 1. April 2010 – 2 B 111.09 – bei juris
Rdn. 6 m.w.N.). Hier betrug der Schaden mehr als 50.000 DM. Das Fehlverhalten der
Angeschuldigten ist daher disziplinarrechtlich nach denselben Grundsätzen zu werten,
die für Zugriffsdelikte gelten, zumal die Angeschuldigte – über den Tatbestand des § 266
StGB hinaus – wie bei einem Zugriffsdelikt eigennützig im eng verstandenen Sinn
(materiell-egoistisch) gehandelt hat (vgl. Weiss in: Fürst, GKÖD J 975 Rdn. 35 m.w.N.).
Sie hat das veruntreute Geld, soweit es ihr zufloss – etwa 38.000 DM –, für sich
verbraucht.
Ein derartiges Fehlverhalten eines Finanzbeamten hat somit regelmäßig die Entfernung
aus dem Dienst zur Folge. Ein solches Dienstvergehen ist auch nach der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts „regelmäßig" geeignet, das
Vertrauensverhältnis zu zerstören (vgl. Bundesverfassungsgericht, Kammerbeschluss
vom 19. Februar 2003 – 2 BvR 1413.01 – NVwZ 2003, 1504 <1504 f.> m.w.N.). Denn ein
Beamter, der sich amtlich anvertrautes oder zugängliches Gut zueignet, zerstört das
Vertrauensverhältnis zu seinem Dienstherrn und die für die Ausübung seines Amtes
erforderliche Achtung regelmäßig so nachhaltig, dass er grundsätzlich nicht im Dienst
bleiben kann. Die Verwaltung ist auf die Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit ihrer
Bediensteten beim Umgang mit öffentlichem oder amtlich anvertrautem Gut in hohem
Maße angewiesen, weil eine lückenlose Kontrolle eines jeden Beamten nicht möglich ist.
Wer daher diese für das Funktionieren des öffentlichen Dienstes unabdingbare
Vertrauensgrundlage zerstört, muss nach ständiger Rechtsprechung der
Disziplinargerichte grundsätzlich mit der Auflösung seines Beamtenverhältnisses
rechnen. Als Sachbearbeiterin auf einem Veranlagungsplatz gehörte es zu ihren
Kernaufgaben, für die ordnungsgemäße Verwaltung öffentlicher Gelder Sorge zu tragen.
Ein Finanzbeamter, der in dieser Eigenschaft ihm nicht zustehende öffentliche Gelder
seinem Privatkonto zuführt, versagt im Kernbereich seines Amtes. Auch ein Beamter,
der sich die innerdienstlichen Betriebsabläufe zu Nutze macht, um sich selbst zu
bereichern, ist für den Dienst in der Finanzverwaltung nicht mehr tragbar.
Erschwerend kommt hinzu, dass die Angeschuldigte ihre Befugnisse als Amtsträgerin
missbrauchte, was die Tat auch in strafrechtlicher Hinsicht als besonders schweren Fall
qualifiziert.
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Milderungsgründe, die es rechtfertigen könnten, von der durch die Schwere der Tat
indizierten disziplinarischen Höchstmaßnahme abzusehen, liegen nicht vor.
Als durchgreifende Entlastungsgründe kommen vor allem – aber nicht nur – die
Milderungsgründe in Betracht, die in der Rechtsprechung der Disziplinargerichte zu den
Zugriffsdelikten entwickelt worden sind. Diese Milderungsgründe erfassen typisierend
Beweggründe oder Verhaltensweisen des Beamten, die regelmäßig Anlass für eine noch
positive Persönlichkeitsprognose geben. Zum einen tragen sie existenziellen
wirtschaftlichen Notlagen sowie körperlichen oder psychischen Ausnahmesituationen
Rechnung, in denen ein an normalen Maßstäben orientiertes Verhalten nicht mehr
erwartet und daher nicht mehr vorausgesetzt werden kann. Zum anderen erfassen sie
ein tätiges Abrücken von der Tat, insbesondere durch die freiwillige Wiedergutmachung
des Schadens oder die Offenbarung des Fehlverhaltens jeweils vor drohender
Entdeckung. Sie müssen in ihrer Gesamtheit aber geeignet sein, die Schwere des
Pflichtenverstoßes erheblich herabzusetzen. Generell gilt, dass das Gewicht der
Entlastungsgründe umso größer sein muss, je schwerer das Dienstvergehen im Einzelfall
wiegt. Erforderlich ist stets eine Prognoseentscheidung zum Umfang der
Vertrauensbeeinträchtigung auf der Grundlage aller im Einzelfall be- und entlastenden
Umstände. Entlastungsgründe sind bereits einzubeziehen, wenn hinreichende
tatsächliche Anhaltspunkte für ihr Vorliegen sprechen (vgl. Bundesverwaltungsgericht,
Urteil vom 3. Mai 2007 – 2 C 9.06 –, Juris Rn. 21 ff.; Urteil vom 6. Juni 2007 – 1 D 2.06 -,
Juris Rn. 25; Urteil vom 23. September 2008 - BVerwG 2 WD 18.07 - m.w.N.,). Keiner
dieser anerkannten Milderungsgründe kommt vorliegend zum Tragen.
Von einer unverschuldeten finanziellen Notsituation konnte nicht die Rede sein. Die
Angeschuldigte hat kurze Zeit vor der Tat einen Kredit aufgenommen, um Schulden
ihres Freundes zu tilgen, obwohl sie selbst zu dieser Zeit bereits hoch verschuldet war.
Ihre schlechte wirtschaftliche Situation war auch keineswegs aussichtslos. Die
Angeschuldigte erhielt monatlich 3.400 DM Dienstbezüge ausgezahlt. Eine Pfändung
ihres Gehalts war nicht erfolgt. Es drohte auch keine Zwangsvollstreckung. Ihr stand die
Möglichkeit offen, sich erneut an eine Schuldnerberatung zu wenden, um ein
Privatinsolvenzverfahren durchzuführen. Diese Möglichkeit war ihr auch bekannt, denn
im Jahr 1999 hatte sie schon einmal eine Schuldnerberatung aufgesucht. Das
Privatinsolvenzverfahren war zum 1. Januar 1999 eingeführt worden. Im Übrigen stellt
Überschuldung keine Notsituation im Sinn des Milderungsgrunds dar
(Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 24. November 1982 - 1 D 109.81 - DokBerB
1983, 105 [109]).
Es liegt auch keine unbedachte Augenblickstat vor. Nach der ständigen Rechtsprechung
des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urteil vom 27. September 2000 – 1 D 24.98 –, juris
Rn. 17 ff. m.w.N.) kann von der Höchstmaßnahme abgesehen werden, wenn der Beamte
in einer für ihn unvermutet entstandenen besonderen Versuchungssituation einmalig
und persönlichkeitsfremd gehandelt hat. Unter diesen Voraussetzungen erscheint die
Annahme begründet, dass es sich bei einer durch eine spezifische Situation
hervorgerufenen Kurzschlusshandlung um ein Versagen ohne individuelle
Wiederholungsgefahr gehandelt hat (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 4. Juli
2000, a.a.O. Rn. 19). Das ist hier nicht der Fall. Die Angeschuldigte hat keine für sie
unvermutet entstandene Versuchungssituation ausgenutzt. Es gehörte zu ihren
ständigen Aufgaben, Steuerkonten anzulegen und Steuererklärungen zu bearbeiten. Sie
handelte auch nicht einmalig. In einem Zeitraum von mehreren Monaten, den das
Fehlverhalten insgesamt ausmachte, richtete sie zweimal für fiktive Firmen
Steuerkonten ein und verbuchte darauf fingierte Steuererklärungen. Sie musste mithin
eine Vielzahl von kreativen Einzelhandlungen vornehmen. Bei jeder dieser
Verfahrenshandlungen war ihr das Unrecht ihres Handelns bewusst und sie hätte die
Möglichkeit gehabt, den Vorgang abzubrechen.
Der Milderungsgrund des Handelns in einer psychischen Ausnahmesituation liegt nicht
vor. Dieser Milderungsgrund setzt voraus, dass bei dem Beamten durch ein plötzliches,
unvorhergesehenes Ereignis ein seelischer Schock ausgelöst wird, der für die
Pflichtenverstöße zumindest mitursächlich ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 9. Mai 2001 - 1 D
22.00 -, BVerwGE 114, 240, 243 ff.). Hier liegt keiner einzelnen Handlung ein Ereignis zu
Grunde, das als schockartiger Auslöser für das spätere Fehlverhalten angesehen werden
könnte. Soweit die Angeschuldigte sich in der Hauptverhandlung darauf berufen hat, ihr
damaliger Ehemann habe ihr gedroht, wenn sie die Schulden nicht zahle, würde ihr
Gehalt gepfändet und dann würde man ihr die Kinder wegnehmen, hat dies bei der
Angeschuldigten offensichtlich keinen seelischen Schock ausgelöst. Dagegen spricht,
dass sie erstmals in der Hauptverhandlung einen solchen Sachverhalt vorgetragen hat.
Unterstellt, dieser entspricht der Wahrheit und hätte tatsächlich einen Schock ausgelöst,
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Unterstellt, dieser entspricht der Wahrheit und hätte tatsächlich einen Schock ausgelöst,
hätte die Angeschuldigte diesen Umstand schon zu einem viel früheren Zeitpunkt
geschildert. Denn sie hat sich zu den Beweggründen und den Auslösern ihres
Fehlverhaltens von Beginn des Strafverfahrens an und wiederholt freimütig gegenüber
Fachärzten eingehend geäußert. Insbesondere auch in ihrer schriftlichen Äußerung vom
2. April 2002 ist von einem solchen Sachverhalt keine Rede. Dort gab die Angeschuldigte
lediglich an, „Mein Exmann sagte zu unseren Schulden immer nur, bei mir bekommen
die keinen Pfennig.“ Auch bei der eingehenden Exploration der Sachverständigen Dr. W...
am 18. Dezember 2002 kam nichts heraus, was für einen schockartigen Auslöser für ihr
Fehlverhalten sprechen könnte.
Als weiterer Milderungsgrund kommt in Betracht, dass der Beamte den Schaden vor
Entdeckung ausgleicht oder sich zumindest vor Entdeckung dem Dienstherrn offenbart
(vgl. BVerwGE 93, 314 ff.; E 86, 1 ff.; E 33, 3 ff.). Beides hat die Angeschuldigte jedoch
nicht getan. Dass sie daran gedacht haben will, den Betrag zurückzuzahlen, es aber
unterlassen hat, weil dies nicht unbemerkt hätte geschehen können, vermag den
Unrechtsgehalt ihres Handelns nicht zu mindern.
Die Angeschuldigte kann sich nicht mit Erfolg darauf berufen, dass ihre Schuldfähigkeit
im Zeitpunkt des Dienstvergehens, namentlich im Hinblick auf die Sachverhalte zu 2.
und 3., erheblich vermindert gewesen sei.
Erheblich verminderte Schuldfähigkeit gemäß §§ 20, 21 StGB setzt voraus, dass die
Fähigkeit, das Unrecht einer Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, wegen
einer Störung im Sinn von § 20 StGB bei Tatbegehung erheblich eingeschränkt war. Für
die Steuerungsfähigkeit kommt es darauf an, ob das Hemmungsvermögen so stark
herabgesetzt war, dass der Betroffene den Tatanreizen erheblich weniger Widerstand als
gewöhnlich entgegenzusetzen vermochte. Die an die Feststellung einer Störung im Sinn
von § 20 StGB anknüpfende Frage, ob die sich daraus ergebende Verminderung der
Schuldfähigkeit „erheblich“ war, ist eine Rechtsfrage, die die Gerichte ohne Bindung an
die Einschätzung Sachverständiger in eigener Verantwortung zu beantworten haben.
Hierzu bedarf es einer Gesamtschau der Persönlichkeitsstruktur des Betroffenen, seines
Erscheinungsbildes vor, während und nach der Tat und der Berücksichtigung der
Umstände, insbesondere der Vorgehensweise. Die Erheblichkeitsschwelle liegt umso
höher, je schwerer das in Rede stehende Delikt wiegt. Dementsprechend hängt im
Disziplinarrecht die Beurteilung der Erheblichkeit im Sinn von § 21 StGB von der
Bedeutung der Einsehbarkeit der verletzten Dienstpflichten ab. Aufgrund dessen wird sie
bei sog. Zugriffsdelikten nur in Ausnahmefällen erreicht werden (vgl. BVerwG, Urteil vom
3. Mai 2007 – 2 C 9.06 –, juris Rdn. 31, 33f m.w.N. aus der Rechtsprechung des BGH;
OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 6. Dezember 2007 – 80 D 1.07 –). Lässt sich
allerdings nach nach erschöpfender Sachaufklärung ein Sachverhalt nicht ohne
vernünftige Zweifel ausschließen, dessen rechtliche Würdigung eine erheblich
verminderte Schuldfähigkeit des Beamten ergibt, so ist dieser Gesichtspunkt nach dem
Grundsatz „in dubio pro reo“ in die Gesamtwürdigung einzustellen (vgl.
Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 18. Februar 2010 – 80 D 9.08 –
m.w.N.).
Für die Annahme einer erheblichen Minderung der Schuldfähigkeit sind schwerwiegende
Gesichtspunkte heranzuziehen wie etwa Psychopathien, Neurosen, Triebstörungen,
leichtere Formen des Schwachsinns, altersbedingte Persönlichkeitsveränderungen,
Affektzustände sowie Folgeerscheinungen einer Abhängigkeit von Alkohol, Drogen oder
Medikamenten (vgl. Lackner/Kühl, StGB, § 21 Rn. 2 m.w.N., BVerwG, Urteil vom 25. März
2010 – 2 C 83.08 –, juris Rdn. 30).
Auf der Grundlage des vorliegenden Gutachtens der Sachverständigen Dr. W... kann zu
Gunsten der Angeschuldigten davon ausgegangen werden, dass jene im Tatzeitraum an
einer schweren anderen seelischen Abartigkeit i.S.v. § 20 StGB litt. Eine solche
krankhafte Störung hat die Sachverständige in der Hauptverhandlung unter
Berücksichtigung der verlesenen neueren fachärztlichen Stellungnahmen von die
Angeschuldigte behandelnden Psychotherapeuten in der Möglichkeit einer bipolaren
affektiven Störung gesehen. Diese Episode sei „allenfalls mittelgradig“ einzustufen.
Dazu führte die Sachverständige aus, die Angeschuldigte habe keine wahnhaften
Wahrnehmungen gehabt und die Realität nicht verkannt. Für eine krankhafte Störung
sprächen jedoch Selbstzerstörungstendenzen. In Widerspruch zu dieser Einschätzung
steht nicht etwa die weitere Aussage der Sachverständigen, die Steuerungsfähigkeit sei
gegenüber einem nicht seelisch gestörten Menschen um 75 bis 80 Prozent herabgesetzt
gewesen. Damit versuchte die Sachverständige in Prozent auszudrücken, welches Maß
einer Minderung der Steuerungsfähigkeit sie einer mittelgradigen depressiven Episode
beimesse. Sie lieferte damit keinen rechtlichen Maßstab für die Beantwortung der Frage,
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beimesse. Sie lieferte damit keinen rechtlichen Maßstab für die Beantwortung der Frage,
wann eine Einschränkung „erheblich“ i.S.v. § 21 StGB ist. Diese Bewertung hat das
Gericht unter Berücksichtigung aller Umstände vorzunehmen. Sie lässt sich nicht durch
eine, zumal vage, prozentuale Festlegung ersetzen.
Hier ist unter Berücksichtigung der Tatumstände nicht erkennbar, dass die festgestellten
psychischen Beeinträchtigungen ein solches Ausmaß erreicht hätten, dass es der
seinerzeitigen aktiven Beamtin relevant erschwert war, ihrer leicht einsehbaren Pflicht zu
uneigennütziger Dienstausübung nachzukommen. Die festgestellte depressive Episode
war nicht als schwer, allenfalls als mittelgradig einzustufen. Die Angeschuldigte hat die
Taten in einer manischen Phase ihrer Krankheit begangen. In einer solchen Phase war
sie nicht merklich beeinträchtigt, ihre alltäglichen Aktivitäten fortzusetzen und ihren
Dienst ordnungsgemäß auszuüben. Denn eine deutliche Einschränkung der beruflichen
und sozialen Leistungsfähigkeit in jener Zeit ist nicht sichtbar. Sie handelte bei den
Taten weder spontan noch unbedacht, sondern auf Grund einer besonderen Abwägung.
Ihr Tatplan war in der Umsetzung komplex und erforderte Kreativität. Sie musste zudem
Helfer für ihre Taten gewinnen.
An die entgegenstehende Feststellung zur Erheblichkeit der Minderung der
krankheitsbedingten Steuerungsfähigkeit in dem Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom
21. Oktober 2003 ist die Disziplinarkammer nicht gemäß § 18 Abs. 1 Satz 1 LDO
gebunden; denn angesichts der unterschiedlichen Zwecke der Kriminalstrafe und der
Disziplinarmaßnahme bleibt es ungeachtet der diesbezüglichen Feststellungen des
Strafgerichts Sache des Disziplinargerichts, für die Bemessung der
Disziplinarmaßnahme festzustellen, ob ein Fall verminderter Schuldfähigkeit i.S.d. § 21
StGB gegeben ist und welchen Grad die Minderung ggf. erreicht (vgl.
Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 13. März 2003 – 1 WD 2/03 –, juris Rdn. 12 m.w.N.;
Urteil vom 29. Mai 2008 – 2 C 59/07 –, juris Rdn. 30; Oberverwaltungsgericht der Freien
Hansestadt Bremen Disziplinarsenat, Urteil vom 26.05.2010 – DL A 535/08 –, juris Rdn.
68).
Auch soweit vorgetragen wurde, dass bei der Angeschuldigten eine Borderline-
Persönlichkeitsstörung vorgelegen habe, kann dies nicht dafür herhalten, die
disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit in den Tatzeitpunkten erheblich zu mindern. Diese
Störung hat nicht zu einer Zerrüttung des Persönlichkeitsgefüges geführt. Über Jahre
vermochte die Angeschuldigte, wenn auch mit Schwierigkeiten, beruflich tätig zu sein,
und sie hat auch ansonsten noch einigermaßen sozial kompetent gelebt. Damit war zu
dieser Zeit eine Persönlichkeitsstörung jedenfalls noch gut kompensiert. Die
Sachverständige Dr. W... hat ihren anfänglichen Verdacht einer kombinierten
Persönlichkeitsstörung in der Hauptverhandlung sogar dahin korrigiert, dass aus
heutiger Sicht eher eine Persönlichkeitsakzentuierung vorgelegen hat, die keinen
Krankheitswert habe. Es ist nach alldem zwar von inadäquatem Handeln auszugehen,
nicht aber von einer erheblichen Beeinträchtigung einer freien Handlungsentscheidung.
Dagegen spricht nicht etwa die Zurruhesetzung der Angeschuldigten aus Gründen einer
„schweren Erkrankung aus dem psychiatrischen Fachbereich“ im Jahr 2002. Denn dem
liegen ersichtlich nach Entdeckung der Tat eingetretene reaktive Störungen zu Grunde,
wie die Sachverständige in ihrem Gutachten überzeugend dargelegt hat.
Soweit der Angeschuldigten zu Gute zu halten ist, dass sie sich – unabhängig von einer
psychischen Erkrankung – in einer besonders schweren persönlichen Krise befunden hat,
ist die Erwägung zu berücksichtigen, dass bei länger dauernder seelischer Belastung
eher als in einer plötzlich auftretenden (vorübergehenden) Situation erwartet werden
kann, dass sich die Betroffene mit ihrer Situation auseinander setzt und vermeiden
kann, den Ausweg in kriminellen Handlungen zu suchen (vgl. Bundesverwaltungsgericht,
Urteil vom 25. November 1997 - 1 D 77.97 - m.w.N.).
Die erhebliche Gesamtdauer des Disziplinarverfahrens von inzwischen nahezu acht
Jahren seit Einleitung des förmlichen Disziplinarverfahrens führt nicht zur
Unverhältnismäßigkeit dieser Maßnahme. Die Dauer des Disziplinarverfahrens ist für sich
genommen nicht geeignet, von der Entfernung aus dem Beamtenverhältnisses
abzusehen, wenn diese Maßnahme geboten ist (vgl. Bundesverwaltungsgericht,
Beschluss vom 1. September 2009 – 2 B 34.09 –, juris Rdn. 3 m.w.N.;
Bundesverfassungsgericht, Kammerbeschluss vom 9. August 2006 – 2 BvR 1003/05;
OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 18. März 2010 – 80 D 8.08 –).
Die neuere Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR),
nach welcher der eine Entscheidung in angemessener Frist gebietende Art. 6 der
Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
auch auf Disziplinarverfahren anzuwenden ist, die die Entfernung eines Beamten aus
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auch auf Disziplinarverfahren anzuwenden ist, die die Entfernung eines Beamten aus
dem Dienst zum Gegenstand haben (vgl. EGMR, Urteil vom 16. Juli 2009 – 8453/04 – bei
juris Abs. 37ff), gibt keinen Anlass zu einer abweichenden Beurteilung. Der Gerichtshof
hat sich in der zitierten Entscheidung darauf beschränkt, der verletzten Partei einen
Ersatz des durch die lange Verfahrensdauer bewirkten immateriellen Schadens
zuzusprechen – im konkreten Fall 3.500 € –, ohne dabei die Zulässigkeit der von den
Disziplinargerichten ausgesprochenen Entfernung aus dem Dienst in Frage zu stellen
(a.a.O. Abs. 57ff; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 18. März 2010 – 80 D 8.08 –, Seite
38 des amtlichen Abdrucks). Eine Übertragung der neueren Rechtsprechung des BGH in
Strafsachen (vgl. Beschluss vom 17. Januar 2008 – GSSt 1/07 –, juris Rdn. 15) auf das
Disziplinarrecht ist wegen der grundlegend unterschiedlichen Funktion des
Disziplinarrechts einerseits und des Strafrechts andererseits nicht möglich. Dem
Disziplinarrecht liegt das öffentliche Interesse zu Grunde, die Funktionsfähigkeit des
öffentlichen Dienstes und dessen hierfür erforderliches Ansehen zu wahren. Aufgrund
dessen ist es dem Dienstherrn nicht von vornherein verwehrt, das grundsätzlich auf
Lebenszeit angelegte Dienstverhältnis einseitig zu beenden, wenn der Beamte durch
eigene Schuld vertrauensunwürdig und damit für den öffentlichen Dienst untragbar
geworden ist. Ziel des Disziplinarverfahrens ist es, die Ordnung und Integrität des
Beamtentums, mithin das für seine Funktion unabdingbare Ansehen des öffentlichen
Dienstes zu erhalten und - öffentlich erkennbar - zu schützen (st.Rspr., vgl.
Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 24. September 2009 – 2 C 80.08 –, juris Rdn. 16).
Es scheidet danach die Möglichkeit einer Kompensation langer Verfahrensdauer durch
Absehen von einer Entfernung aus dem Dienst aus.
Die Aberkennung des Ruhegehalts verstößt auch im Übrigen nicht gegen den Grundsatz
der Verhältnismäßigkeit. Das Vertrauensverhältnis zur Angeschuldigten ist – wie
dargelegt – unwiederbringlich zerstört. Daher erweist sich die Aberkennung des
Ruhegehalts als angemessene Reaktion auf das Dienstvergehen. Sie beruht auf den
schuldhaften Pflichtverletzungen während der aktiven Dienstzeit und ist der
Angeschuldigten als vorhersehbare Rechtsfolge bei derartigen Pflichtverletzungen
zuzurechnen. Bei der getroffenen Abwägung war auch zu berücksichtigen, dass die
Ruhestandsbeamtin mit der Aberkennung des Ruhegehalts nicht ohne Versorgung
dasteht, denn sie ist in der Rentenversicherung nachversichern (vgl.
Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 18. Februar 2010 – 80 D 9.09 –
m.w.N.).
V.
Die Kammer hat der Ruhestandsbeamtin gemäß § 70 Abs. 1 LDO einen
Unterhaltsbeitrag von 75 v.H. des Ruhegehalts für die Dauer von neun Monaten bewilligt,
weil sie dessen auch unter Berücksichtigung der Schwere des Dienstvergehens nicht
unwürdig sowie wegen des künftigen Wegfalls der Ruhegehaltsbezüge bedürftig
erscheint.
Nach Ablauf des Bewilligungszeitraums käme eine erneute Bewilligung des
Unterhaltsbeitrags nur dann in Betracht, wenn trotz unverzüglichen und nachhaltigen, im
einzelnen nachzuweisenden Bemühens der Ruhestandsbeamtin bis dahin das
Rentenverfahren noch nicht abgeschlossen sein sollte. Dies setzt allerdings die von
ihrem Dienstherrn vorzunehmende Nachversicherung voraus. Mit Rücksicht auf den
dafür erforderlichen Zeitablauf hat die Disziplinarkammer den Unterhaltsbeitrag von
vornherein auf neun Monate (ab Rechtskraft dieser Entscheidung) gewährt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 106 Abs. 1 LDO, die Entscheidung über die
Auslagen auf § 108 LDO.
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