Urteil des VG Berlin vom 14.12.2010

VG Berlin: öffentliche ordnung, visum, öffentliche sicherheit, gefahr, einwanderung, tod, verordnung, absicht, schengen, alter

1
2
3
Gericht:
VG Berlin 3. Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
3 K 301.09 V
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
Art 1 Abs 1 EGV 810/2009, Art 2
Nr 3 EGV 810/2009, Art 21 Abs 1
EGV 810/2009, Art 21 Abs 3 EGV
810/2009, Art 21 Abs 9 EGV
810/2009
Visum für Türkin in höherem Lebensalter zum Besuch von
Verwandten
Tenor
Der Remonstrationsbescheid des Generalkonsulats der Beklagten in Istanbul vom 8. Juli
2009 wird aufgehoben.
Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin ein Schengenvisum zum Besuch ihrer im
Bundesgebiet lebenden Kinder zu erteilen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des
aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin zuvor
Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Tatbestand
Die am … Mai 1931 geborene Klägerin ist türkische Staatsangehörige.
Nachdem sie sich bereits im Jahr 1999 zu Besuchszwecken im Bundesgebiet
aufgehalten hatte und am 24. Mai 2006 ihr Ehemann verstorben war, beantragte die
Klägerin am 5. September 2007 bei dem Generalkonsulat der Beklagten in Istanbul die
Erteilung eines Visums, um ihre fünf im Bundesgebiet lebenden Kinder und deren
Enkelkinder besuchen zu können. Das begehrte Visum wurde der Klägerin am 8. Oktober
2007 erteilt, die Klägerin reiste daraufhin ins Bundesgebiet ein. Dort wurde das
ursprünglich mit einer Gültigkeit bis zum 3. Dezember 2007 erteilte Visum von der
örtlich zuständigen Ausländerbehörde bis zum 12. März 2008 verlängert. Der
Verlängerung lag ein ärztliches Attest vom 3. Dezember 2007 zugrunde, nach der die
Klägerin nach dem Tod ihres Mannes depressiv, inaktiv und extrem schmerzempfindlich
geworden sei. Sie sei kaum in der Lage, sich selbst zu versorgen, ihr Essverhalten sei
sehr reduziert. Um die Klägerin wieder zu mobilisieren und in ein normales Alltagsleben
auch in der Türkei zurückführen zu können, sei es erforderlich, dass sie sich vorerst
weiter bei ihrer Familie im Bundesgebiet aufhalte. Die Klägerin reiste vor Ablauf des
verlängerten Visums wieder aus dem Bundesgebiet aus.
Am 12. Februar 2009 beantragte die Klägerin bei dem Generalkonsulat der Beklagten in
Istanbul erneut die Erteilung eines Visums zu Besuchszwecken für den Zeitraum vom
18. Februar 2009 bis zum 15. Mai 2009. Dabei legte sie die Verpflichtungserklärung einer
ihrer im Bundesgebiet lebenden Schwester vor, nach der diese sich verpflichtete, die
Kosten für den Lebensunterhalt und die Ausreise der Klägerin zu tragen. Der Antrag
wurde mit Bescheid des Generalkonsulats vom 16. Februar 2009, der nicht mit einer
Begründung versehen war, abgelehnt. Auf die mit Schreiben ihres
Prozessbevollmächtigten vom 25. Februar 2009 erhobene Remonstration der Klägerin
lehnte das Generalkonsulat ihren Antrag mit der Remonstrationsbescheid vom 8. Juni
2009, dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin zugegangen am 18. Juni 2009, erneut
ab und berief sich zur Begründung im Wesentlichen darauf, dass in Anbetracht des
Alters der Klägerin und der damit verbundenen Erkrankungen, die in ihrem Alter
naturgemäß auftreten würden, und auch vor dem Hintergrund, dass sich nach dem Tod
ihres Ehemannes fast die gesamte Kernfamilie der Klägerin in Deutschland befindet, die
Befürchtung bestehe, dass die Klägerin sich möglicherweise länger als die beantragte
Aufenthaltsdauer im Bundesgehalt aufhalten werde. Dafür spreche auch, dass der
Klägerin bereits bei Beantragung des im Jahr 2007 erteilten Besuchsvisums habe klar
sein müssen, dass sie sich aufgrund ihrer instabilen psychischen Verfassung eigentliche
4
5
6
7
8
9
10
11
12
sein müssen, dass sie sich aufgrund ihrer instabilen psychischen Verfassung eigentliche
längere Zeit zur Erholung bei ihren Kindern in Deutschland habe aufhalten wollen.
Dennoch habe sie nicht bereits anfänglich die Erteilung eines Visums für einen längeren
Zeitraum beantragt, sondern sich erst im Bundesgebiet unter Vorlage einer dort
beschafften ärztlichen Bescheinigung das Visum verlängern lassen.
Mit ihrer am Montag, den 20. Juli 2009 beim Verwaltungsgericht eingegangenen Klage
verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter.
Zur Begründung führt sie im Wesentlichen an, dass sie nicht dauerhaft ins Bundesgebiet
einreisen wolle. Dafür spreche vor allem, dass sie auch schon nach dem Tod ihres
Ehemannes ins Bundesgebiet eingereist sei und sich dort zu keinem Zeitpunkt illegal
aufgehalten habe, sondern ordnungsgemäß vor Ablauf des ihr erteilten Visums wieder
ausgereist sei. Dass sie den Besuchsaufenthalt - mit triftigen Gründen und daraufhin
erteilter Genehmigung der zuständigen Ausländerbehörde - verlängert habe, dürfe ihr
nicht entgegen gehalten werden. Gegen ihre Rückkehrbereitschaft spreche auch nicht,
dass fünf ihrer Kinder im Bundesgebiet lebten, denn ihre jüngste Tochter lebe nach wie
vor in der Türkei und kümmere sich dort in ausreichendem Maße um ihre Belange. Zwar
sei ihre in der Türkei lebende Tochter zwischenzeitlich einer hohen Belastung ausgesetzt
gewesen, als sie – die Klägerin – unmittelbar nach dem Tod ihres Ehemannes und
psychisch instabil gewesen sei, weil ihre Tochter daneben ihre eigene, schwer erkrankte
Tochter sowie ihre Schwiegermutter habe betreuen müssen. Dies sei auch der Grund
gewesen, weshalb die Klägerin kurzzeitig zu ihren im Bundesgebiet lebenden Kindern
gereist sei und den dortigen Aufenthalt mit Zustimmung der Ausländerbehörden
verlängert habe. Mittlerweile habe sich aber die psychische Verfassung der Klägerin
deutlich gebessert, so dass sie nicht mehr auf eine umfassende, sondern nur noch auf
eine geringfügige Betreuung angewiesen sei, die aber problemlos durch ihre in der Türkei
lebende Tochter bewerkstelligt werden könne.
Die Klägerin beantragt schriftsätzlich,
den Bescheid des Generalkonsulates der Beklagten in Istanbul vom 8. Juni 2009
aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin ein Visum zu Besuchszwecken
zu erteilen.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Klage abzuweisen.
Sie verteidigt den angefochtenen Remonstrationsbescheid und führt zur Begründung
ergänzend aus, dass nach wie vor erhebliche Bedenken an der Rückkehrbereitschaft der
Klägerin bestünden.
Zwar sei ihr Lebensunterhalt in der Türkei durch ihre monatliche Rente und eine eigene
Wohnung ausreichend gesichert sei. Es bestünden jedoch erhebliche Bedenken
hinsichtlich der familiären Verwurzelung der Klägerin in der Türkei, weil dort nach dem
Tod ihres Ehemannes im Jahr 2006 nur noch eine ihrer Töchter lebe, die bereits mit der
Betreuung ihrer Schwiegermutter und ihrer Tochter weitgehend belastet sei. Angesichts
der Bedeutung der familiären Bindungen in der türkischen Kultur und angesichts der
strukturellen Mängel der Altenpflege in der Türkei sei daher davon auszugehen, dass
andere Familienangehörige die Betreuung und Pflege der Klägerin übernehmen würden,
die aufgrund ihres zunehmenden Alters in Zukunft voraussichtlich in immer größerem
Umfang erforderlich werde. Da sich keine nahen Verwandten der Klägerin in der Türkei
befänden, sei es auch naheliegend, dass langfristig ein Daueraufenthalt der Klägerin in
Deutschland angestrebt werde, damit die Pflege der Klägerin durch ihre hier lebenden
Kinder erfolgen könne.
Hinzu komme, dass die Klägerin bei im Wesentlichen vergleichbarer Sachlage zwar
bereits einmal aus dem Bundesgebiet, wo sie sich ebenfalls zu Besuchszwecken
aufgehalten habe, wieder in die Türkei zurückgekehrt sei, jedoch die Gültigkeitsdauer des
betreffenden Visums habe verlängern lassen. Damit sei das erteilte Visum nicht so
genutzt worden, wie es ursprünglich erteilt worden sei, obwohl der Klägerin bereits bei
Antragstellung habe klar sein müssen, dass sie das begehrte Visum eigentlich für einen
längeren Zeitraum benötigte. Angesichts dessen bestünde die berechtigte Vermutung,
dass die Klägerin auch dieses Mal bereits bei der Beantragung des
streitgegenständlichen Visums dessen Verlängerung einkalkuliert habe und sich länger
als für die beantragte Aufenthaltsdauer im Bundesgebiet aufhalten werde. Es bestünden
daher auch unter diesem Gesichtspunkt hinreichende Bedenken im Hinblick auf die
Rückkehrbereitschaft der Klägerin, jedenfalls aber eine Gefahr für die öffentliche
Sicherheit und Ordnung, da die Gefahr eines längerfristigen Aufenthaltes unter
13
14
15
16
17
18
19
20
21
Sicherheit und Ordnung, da die Gefahr eines längerfristigen Aufenthaltes unter
Umgehung der Einreisebestimmungen bestünde, weil die Klägerin für einen Aufenthalt
über 90 Tage hinaus einen entsprechenden nationalen Aufenthaltstitel und nicht nur ein
Schengenvisum benötige.
Die bereits erfolgte Rückkehr anlässlich ihrer vorherigen Besuchsaufenthalte könne
daher nicht als Garantie für eine zukünftige Rückkehr gesehen werden.
Mit Beschluss vom 17. August 2010 hat die Kammer den Rechtsstreit dem
Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
Mit Schreiben vom 11. September 2009 hat die Beklagte, mit Schreiben vom 25. August
2010 auch die Klägerin einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte
sowie die Verwaltungsvorgänge der Beklagten (3 Bände) Bezug genommen, die
vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Über die Klage konnte der gem. § 6 Abs. 1 VwGO aufgrund der Übertragung durch die
Kammer zur Entscheidung berufene Einzelrichter gem. § 101 Abs. 2 VwGO ohne
mündliche Verhandlung entscheiden, da sich die Beteiligten mit dieser Vorgehensweise
ausdrücklich einverstanden erklärt haben.
Die Klage ist trotz Ablaufs des im Visumsantrags angegeben Besuchszeitraums als
Verpflichtungsklage gem. § 42 Abs. 1 Alternative 2 VwGO statthaft und auch sonst
zulässig, insbesondere gem. § 74 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 S. 2 i.V.m. § § 68 Abs. 1 S. 2 Nr. 1
VwGO fristgerecht erhoben. Das Begehren der Klägerin ist erkennbar nicht an ein
bestimmtes terminliches Ereignis gebunden. Vielmehr wollte sie – unabhängig von
einem konkreten Anlass und daher unabhängig davon, ob sich ihr Besuchswunsch
bereits kurzfristig zu den bezeichneten Reisedaten oder erst zu einem späteren
Zeitpunkt realisieren lassen würde – ihre im Bundesgebiet lebende Familie besuchen, so
dass sich das Klagebegehren nicht durch Zeitablauf erledigt hat (vgl. OVG Berlin-
Brandenburg, Urteil vom 24. Juni 2010, 2 B 16.09 ; a.A. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil
vom 18. Dezember 2009, OVG 3 B 6.09, jew. zit. n. Juris).
Die Klage ist auch begründet, denn der ablehnende Remonstrationsbescheid des
Generalkonsulats der Beklagten in Istanbul vom 08. Juni 2009 ist rechtswidrig und
verletzt die Klägerin daher in ihren Rechten (vgl. § 113 Abs. 5 S. 1 VwGO), weil sie einen
Anspruch auf Erteilung des begehrten Visums hat.
Rechtsgrundlage für die Erteilung des streitgegenständlichen Schengen-Visums ist
nunmehr ausschließlich die Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments
und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft (ABl. EU L 243
S. 1, Visakodex, im Folgenden: VK), die in den hier maßgeblichen Teilen seit dem 5. April
2010 gilt (Art. 58 Abs. 2 VK). Die in § 6 AufenthG getroffenen Regelungen sind
demgegenüber nicht mehr anwendbar, soweit sie die Erteilung von Schengen-Visa
betreffen (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 24. Juni 2010, 2 B 16.09, a.a.O.).
Des Weiteren ist die Entscheidung über die Erteilung eines Visums für einen Aufenthalt
im Schengen-Raum von höchstens drei Monaten je Sechsmonatszeitraum (vgl. Art. 1
Abs. 1 Alternative 1, Art. 2 Nr. 2 Buchstabe a Alternative 1 VK), das – wie das vorliegend
begehrte Visum – für das gesamte Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten gültig sein soll
(sog. „einheitliches Visum“, vgl. Art. 2 Nr. 3 VK), im Visakodex nunmehr als gebundene
Entscheidung ausgestaltet. Ergibt sich nach Abschluss der in Art. 18 und 19 VK
vorgesehenen Zuständigkeits- und Zulässigkeitsprüfung, dass die in Art. 21 VK
niedergelegten materiellen Voraussetzungen für die Visumserteilung vorliegen, so ist –
vorbehaltlich einer ggf. nach Art. 22 VK notwendigen Konsultation eines anderen
Mitgliedsstaats – nach Art. 23 Abs. 4 Buchstabe a VK ein einheitliches Visum zu erteilen.
Zu verweigern ist das Visum grundsätzlich nur dann, wenn die in Art. 32 VK
spiegelbildlich zu Art. 21 VK normierten Versagungsgründe vorliegen (Art. 23 Abs. 4
Buchstabe c VK). Der zuständigen Auslandsvertretung (im Visakodex einheitlich als
„Konsulat“ bezeichnet, vgl. Art. 2 Nr. 9 VK) verbleibt danach bei Vorliegen der formellen
und materiellen Voraussetzungen für die Visumserteilung kein Ermessensspielraum. Der
Antragsteller hat in diesen Fällen vielmehr einen Anspruch auf Visumserteilung. Dabei
unterliegen die nach Art. 21 bzw. Art. 32 VK zu prüfenden materiellen
Erteilungsvoraussetzungen bzw. Versagungsgründe in vollem Umfang der gerichtlichen
Kontrolle (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 24. Juni 2010, 2 B 16.09, a.a.O.).
22
23
24
25
26
27
28
Der Klägerin ist vor diesem Hintergrund das begehrte Visum zu erteilen, da die
Voraussetzungen des Art. 21 VK vorliegend erfüllt sind und daher keine
Versagungsgründe nach Art. 32 VK bestehen.
Nach Art. 21 Abs. 1 Halbsatz 1 VK ist bei der Prüfung eines Antrages auf ein einheitliches
Visum zunächst festzustellen, ob der Antragsteller die Einreisevoraussetzungen nach
Art. 5 Absatz 1 Buchstaben a, c, d und e des Schengener Grenzkodexes (Verordnung
[EG] Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über
einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen, ABl. EU
L 105 S. 1, zuletzt geändert durch Art. 2 der Verordnung [EG] Nr. 265/2010 vom 25.
März 2010, ABl. L 85 S. 1, im Folgenden: SGK) erfüllt; insbesondere ist gem. Art. 21 Abs.
1 Halbsatz 2 VK zu beurteilen, ob bei dem Antragsteller das Risiko der rechtswidrigen
Einwanderung besteht, ob er eine Gefahr für die Sicherheit der Mitgliedstaaten darstellt
und ob er beabsichtigt, vor Ablauf der Gültigkeitsdauer des beantragten Visums das
Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu verlassen. Nach Art. 32 Abs. 1 VK wird das Visum
dementsprechend verweigert, wenn der Antragsteller als eine Gefahr für die öffentliche
Ordnung eingestuft wird (Buchstabe a Ziff. vi), oder begründete Zweifel an der an der
Echtheit der von dem Antragsteller vorgelegten Belege oder am Wahrheitsgehalt ihres
Inhalts, an der Glaubwürdigkeit seiner Aussagen oder an der von ihm bekundeten
Absicht bestehen, das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vor Ablauf der Gültigkeit des
beantragten Visums zu verlassen (Buchstabe b).
Ausgehend von den in Art. 21 Abs. 1 und 32 Abs. 1 VK getroffenen Regelungen fehlt es
an den tatbestandlichen Voraussetzungen für die Visumserteilung, wenn nach dem
Ergebnis einer umfassenden Risikobewertung begründete Zweifel an der Absicht des
Antragstellers bestehen, das Visum zum angegebenen Aufenthaltszweck zu nutzen und
fristgemäß den Schengen-Raum zu verlassen. Im Rahmen einer einzelfallbezogenen
Gesamtbetrachtung ist unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auf
der Grundlage aller verfügbaren Informationen (vgl. Art. 21 Abs. 9 Satz 2 VK) eine
Prognoseentscheidung zur Wahrscheinlichkeit einer nicht rechtzeitigen Ausreise oder
rechtswidrigen Einwanderung zu treffen, die Schwere der mit einer illegalen Migration
verbundenen Gefahr in den Blick zu nehmen und dabei – soweit einschlägig – der
besondere Schutz zu beachten, den Ehe und Familie nach Art. 6 GG, Art. 8 der
Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte (EMRK) und Art. 7 der
Grundrechte-Charta genießen (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 24. Juni 2010, 2
B 16.09, a.a.O.).
Vorliegend besteht nach dem vorgenannten Maßstab nicht das Risiko der rechtswidrigen
Einwanderung der Klägerin und (damit) auch keine Gefahr für die öffentliche Ordnung
i.S.v. Art. 5 Abs. 1 Buchstabe e SGK.
Für eine solche Sichtweise spricht zunächst, dass die Klägerin zusammen mit ihrem
zwischenzeitlich verstorbenen Ehemann den Großteil ihres langjährigen Lebens in der
Türkei verbracht hat, daher an die dortigen Verhältnisse anders als an die im
Bundesgebiet gewöhnt ist und bereits aus diesem Grund über eine starke Bindung an ihr
Heimatland verfügt. Dafür spricht weiter, dass die Klägerin dort unstreitig über ein zur
Sicherung ihres Lebensunterhaltes ausreichendes Einkommen aus der ihr zustehenden
Rente sowie über ausreichendes, selbst genutztes Wohneigentum verfügt und daher ihre
finanziellen Verhältnisse geregelt erscheinen. Außerdem spricht dafür, dass sie in der
Türkei offenbar eine ihrem Alter angemessene Betreuung durch ihre in der Türkei
lebende jüngste Tochter erfährt und daher auch ihre persönliche Situation dort
abgesichert erscheint. Nach dem Sprachgebrauch der Beklagten ist daher von der
„Verwurzelung“ der Klägerin in der Türkei auszugehen, die deutlich gegen die Absicht
einer dauerhaften Einreise in das Bundesgebiet spricht.
Gegen das Risiko einer rechtswidrigen Einwanderung der Klägerin in das Bundesgebiet
spricht aber vor allem, dass sie bei im Wesentlichen gleicher Sachlage – die Klägerin war
bereits fortgeschrittenen Alters und ihr Mann war bereits verstorben, woraus sich jeweils
eine gewisse Pflege- und Betreuungsbedürftigkeit der Klägerin ergab – bereits im Jahr
2007 ins Bundesgebiet eingereist und von dort aus, ihren „Wurzeln“ folgend, wieder in
die Türkei zurückgekehrt ist.
Der Umstand, dass die Klägerin den Gültigkeitszeitraum des für diese Besuchsreise
durch das Generalkonsulat der Beklagten erteilten Visums durch die im Bundesgebiet
örtlich zuständige Ausländerbehörde hat verlängern lassen, rechtfertigt demgegenüber
nicht die Annahme, dass die Klägerin rechtswidrig ins Bundesgebiet einwandern, sich
also zukünftig dauerhaft illegal hier aufhalten will, sondern begründet vielmehr
umgekehrt die Vermutung, dass die Klägerin auch bei zukünftigen Besuchsaufenthalten
29
30
31
32
umgekehrt die Vermutung, dass die Klägerin auch bei zukünftigen Besuchsaufenthalten
– wenn auch nach ggf. erfolgter Verlängerung des Gültigkeitszeitraumes des Visums –
das Bundesgebiet wieder verlassen wird. Art. 21 Abs. 1 Halbsatz 2 VK und Art. 32 Abs. 1
Buchstabe b VK sprechen in diesem Zusammenhang zwar nicht nur von dem Risiko der
rechtswidrigen Einwanderung, sondern auch von der (fehlenden) Absicht, das
Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten „vor Ablauf der Gültigkeitsdauer des beantragten
Visums“ zu verlassen. Damit ist jedoch erkennbar nicht die Situation gemeint, in der
zwar der Zeitraum abgelaufen ist, für den das Visum ursprünglich erteilt wurde, dieses
aber gem. § 39 Nr. 3 der Aufenthaltsverordnung vom 25. November 2004 (BGBl. I S.
2945, zuletzt geändert durch Verordnung vom 2. August 2010, BGBl. I S. 1134, im
Folgenden: AufenthV) durch den Betroffenen vor Ablauf der Gültigkeitsdauer verlängert
wurde, weil die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung eines Aufenthaltstitels
erst nach der Einreise entstanden sind. Der Betroffene hält sich damit nicht unter
Umgehung aufenthaltsrechtlicher Bestimmungen unerlaubt länger als genehmigt im
Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten auf, sondern macht unter Einhaltung der betreffenden
Regelungen lediglich von der ihm danach zustehenden Möglichkeit der Verlängerung des
ihm erteilten Aufenthaltstitels Gebrauch. Selbst wenn also bereits aufgrund der
wiederholten Inanspruchnahme der Verlängerungsmöglichkeit durch die Klägerin in der
Vergangenheit davon ausgehen sollte, dass diese voraussichtlich auch zukünftig diese
Möglichkeit in Anspruch nehmen wird, handelte es sich insoweit lediglich um eine
zulässige Rechtsausübung, der schon dadurch Grenzen gesetzt wären, dass die
zuständige Ausländerbehörde im Bundesgebiet die Voraussetzungen der Verlängerung
im Einzelfall näher prüfen und die Verlängerung bei deren Nichtvorliegen ggf. versagen
würde.
Die bloße Vermutung der Beklagten, dass die Gründe für die Verlängerung des der
Klägerin im Jahr 2007 erteilten Visums bereits im Zeitpunkt seiner Beantragung
vorgelegen hätten, daher die Voraussetzungen nach § 39 Nr. 3 AufenthV nicht erfüllt
gewesen seien und dies der Klägerin auch habe bewusst sein müssen, so dass sie die
Einreisevorschriften umgangen habe und daher bei ihrer Einreise jedenfalls eine Gefahr
für die öffentliche Ordnung i.S.v. Art. 5 Abs. 1 Buchstabe e SGK bestehe, ist
demgegenüber rein spekulativ, da auch (dem oben Gesagten entsprechend) die für die
Verlängerung zuständige, sachnähere Ausländerbehörde nach Prüfung des
Sachverhaltes offenbar vom Gegenteil ausging.
Letztlich ist auch nicht allein aufgrund des Umstandes, dass nur eines der Kinder der
Klägerin in der Türkei, fünf ihrer Kinder aber im Bundesgebiet leben, vom Risiko einer
rechtwidrigen Einwanderung der Klägerin auszugehen. Die Beklagte bejaht dieses Risiko
scheinbar allein aufgrund des Umstandes, dass die Mehrzahl der zur Betreuung bereiten
Kinder der Klägerin im Bundesgebiet lebt und daher die Versorgung der mit
zunehmenden Alter naturgemäß bedürftiger werdenden Klägerin hier einfacher erscheint
als in der Türkei. Die Beklagte lässt dabei jedoch außer Acht, dass die Klägerin nach dem
oben Gesagten in der Türkei fest verwurzelt ist, u.a. weil sie dort eine offenbar
ausreichende Betreuung durch ihre jüngste Tochter erfährt, was auch und gerade unter
Berücksichtigung der von der Beklagten angeführten familiären Gepflogenheiten in der
Türkei deutlich gegen eine „Entwurzelung“ der Klägerin und ihre Übersiedelung ins
Bundesgebiet aus den rein pragmatischen Erwägungen der Beklagten heraus spricht.
Dass die in der Türkei lebende jüngste Tochter der Klägerin mit deren Betreuung, die sie
neben der Pflege ihrer Schwiegermutter und ihrer eigenen Tochter zu bewerkstelligen
hat, zeitweilig überfordert gewesen sein mag, weshalb die Klägerin sich wohl auch zur
Entlastung ihrer Tochter im Jahr 2007 vorübergehend zu ihren im Bundesgebiet
lebenden Kindern begab, rechtfertigt keine andere Beurteilung der aktuellen
Rückkehrbereitschaft der Klägerin, da diese sich zum einen trotz dieses Umstandes –
wenn auch nach durch die zuständige Ausländerbehörde genehmigter Verlängerung
ihres Aufenthaltes – wieder zurück zu ihrer Tochter in die Türkei begab und sich zum
anderen die vorübergehende Überbelastung der Tochter der Klägerin v.a. aus deren
psychischer Verfassung ergab, die sich aber nach ihrem (aufgrund ihrer Rückkehr in die
Türkei glaubhaften) Vortrag zwischenzeitlich deutlich gebessert hat.
Die nach der gebotenen einzelfallbezogenen Gesamtbetrachtung vorgenommene
Prognoseentscheidung zur Wahrscheinlichkeit einer rechtswidrigen Einwanderung der
Klägerin fällt daher auch unter Berücksichtigung des durch Art. 6 GG, Art. 8 EMRK und
Art. 7 GRCh gewährte Schutzes zu ihren Gunsten aus.
Gem. Art. 21 Abs. 3 Buchstabe e VK ist vor der Visumserteilung außerdem zu prüfen, ob
der Antragsteller, soweit erforderlich, im Besitz einer angemessenen und gültigen
Reisekrankenversicherung ist; gem. Art. 32 Abs. 1 Buchstabe a Ziff. vii VK wird das
Visum dementsprechend verweigert, wenn der Antragsteller nicht nachweist, dass er,
soweit erforderlich, über eine angemessene und gültige Reisekrankenversicherung
33
34
35
36
37
38
soweit erforderlich, über eine angemessene und gültige Reisekrankenversicherung
verfügt. Der Gültigkeitszeitraum der im Rahmen der Antragstellung für die Zeit vom 10.
Februar 2009 bis zum 11. Mai 2009 abgeschlossenen Reisekrankenversicherung der
Klägerin ist zwar mittlerweile abgelaufen. Abgesehen davon, dass keine Anhaltspunkte
dafür vorliegen, dass die Klägerin außerstande wäre, jederzeit eine gleichlautende,
zeitlich aktualisierte Versicherungsbescheinigung vorzulegen (vgl. zu dieser Möglichkeit
stattgebende Urteile des VG Berlin vom 4. November 2010, VG 13 K 189.09 V und vom
22. April 2010, 4 K 132.09 V; letzteres zit. n. Juris) ist eine Reisekrankenversicherung
vorliegend nicht i.S.d. Art. 21 Abs. 3 Buchstabe e VK i.V.m. Art. 32 Abs. 1 Buchstabe a
Ziff. vii VK „erforderlich“, da sich eine der im Bundesgebiet lebenden Töchter der
Klägerin durch eine – zeitlich unbegrenzte – Erklärung nach § 68 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1
AufenthG verpflichtet hat, die Kosten für den Lebensunterhalt der Klägerin zu tragen, so
dass sie ggf. sämtliche öffentlichen Mittel zu erstatten hat, die für den Lebensunterhalt
der Klägerin einschließlich der Versorgung im Krankheitsfalle und bei Pflegebedürftigkeit
aufgewendet werden; die Verpflichtungserklärung ist gem. § 68 Abs. 2 S. 2 AufenthG
i.V.m. § 5 Abs. 1 VwVG i.V.m. § 319 AO i.V.m. den §§ 850 ff. ZPO vollstreckbar.
Aus diesem Grund ist auch die weitere Voraussetzung gem. Art. 21 Abs. 3 Buchstabe b
VK i.V.m. Art. 32 Abs. 1 Buchstabe a Ziff. iii VK erfüllt, nach der die Klägerin über
ausreichende Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts sowohl für die Dauer des
beabsichtigten Aufenthalts als auch für die Rückreise in den Herkunfts- oder
Wohnsitzstaat verfügen muss; da das Vorhandensein ausreichender Mittel zur
Bestreitung des Lebensunterhalts gem. Art. 21 Abs. Abs. 5 S. 2 VK auch durch den
Nachweis einer Kostenübernahme belegt werden kann.
Die weiteren Erteilungsvoraussetzungen liegen ebenfalls vor, da keine Anhaltspunkte
dafür erkennbar sind, dass das durch die Klägerin vorgelegte Reisedokument falsch,
verfälscht oder gefälscht ist (Art. 21 Abs. 3 Buchstabe a i.V.m. Art. 32 Abs. 1 Buchstabe
a Ziff. i VK); und die Klägerin nach der Abfrage der Botschaft der Beklagten im
Visumsverfahren auch nicht im Schengener Informationssystem (SIS) zur
Einreiseverweigerung ausgeschrieben ist (Art. 21 Abs. 3 Buchstabe c i.V.m. Art. 32 Abs.
1 Buchstabe a Ziff. v VK).
Auf die unter den Beteiligten ebenfalls diskutierte Frage, ob die Klägerin im Hinblick auf
die sog. Stillhalteklausel in Art. 41 des Zusatzprotokolls zum Abkommen vom 12.
September 1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen
Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei für die Übergangsphase der Assoziation (BGBl
1972 II S. 385) visumsfrei ins Bundesgebiet einreisen könnte, kommt es vor diesem
Hintergrund nicht mehr streitentscheidend an.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO; die Entscheidungen über die
vorläufige Vollstreckbarkeit und die Abwendungsbefugnis beruhen auf § 167 VwGO, §§
708 Nr. 11, 711 Satz 1 und 2 i.V.m. § 709 Satz 2 ZPO.
Beschluss
Der Wert des Streitgegenstandes wird gemäß §§ 39 ff., 52 f. des Gerichtskostengesetzes
auf 5.000,00 Euro festgesetzt.
Datenschutzerklärung Kontakt Impressum