Urteil des VG Berlin vom 15.07.2010

VG Berlin: aufschiebende wirkung, vollziehung, aufzucht, wild, alter, hof, gebäude, form, internet, befristung

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Gericht:
VG Berlin 24.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
24 L 266.10
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 39 Abs 5 BNatSchG, § 44 Abs
1 BNatSchG, § 3 Abs 2
BNatSchG, § 80 Abs 5 VwGO, §
80 Abs 2 VwGO
Verbot von Rückschnittarbeiten aus Gründen des Naturschutzes
Leitsatz
Die Untersagung jeglicher Vegetationsbeseitigung in einer Gartenanlage ohne zeitliche
Begrenzung auf einer Fläche von rund 5.000 qm ist nicht durch Regelungen des
Bundesnaturschutzgesetzes gedeckt und auch zum Schutz eines Amselnestes
unverhältnismäßig.
Tenor
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin vom 15. Juli 2010 gegen
den Bescheid des Antragsgegners vom 9. Juli 2010 wird wiederhergestellt.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Wert des Verfahrensgegenstandes wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.
Gründe
Die Antragstellerin ist auf Grund eines Dienstleistungsvertrages mehrmals im Jahr mit
verschiedenen Gartenpflegearbeiten auf dem Gelände des sogenannten „Ulmenhofes“
hinter den geschlossen bebauten Hausreihen in dem Karree Ribbecker Straße /
Kraetkestraße / Rummelsburger Straße / Zachertstraße in 10315 Berlin beschäftigt,
welches mehrere Tausend Quadratmeter groß ist.
Nach einer Anzeige eines Anwohners, wonach Gartenarbeiter der Antragstellerin am 7.
Juli 2010 beim Beschneiden von Sträuchern Igel getötet und den Lebensraum von
Vögeln eingeschränkt bzw. vernichtet hätten, begaben sich Mitarbeiter des Amtes für
Umwelt und Natur des Antragsgegners am 8. Juli 2010 zu dem Gelände und fanden ein
Amselnest vor, welches nach Entfernung von Efeu auf einem Fenstersims eines Hauses
gefunden und aus nicht näher bekannten Gründen zunächst auf einen
Grünschnitthaufen und schließlich in ein Gebüsch versetzt worden war. Nach den
aktenkundigen Feststellungen der mit Artenschutz befassten Sachbearbeiterinnen
waren die drei Jungtiere ca. 2 Wochen alt und wurden von den Eltern versorgt und
gefüttert, sobald sich die anwesenden Personen einige Meter von dem Nest entfernt
hatten. Sie ordneten zunächst mündlich die Einstellung der Pflegearbeiten an und
untersagten um den Bereich des Nestes auch jegliche anderen Tätigkeiten der
Antragstellerin. Durch Bescheid vom 9. Juli 2010 forderte der Antragsgegner die
Antragstellerin im Wesentlichen unter Berufung auf die Rechtsgrundlagen § 17 Abs. 1
ASOG sowie § 39 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 und § 44 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 BNatSchG auf,
unverzüglich die auf dem streitbefangenen Hof begonnenen Vegetationsbeseitigungen
zu beenden und jegliche Tätigkeiten, die die Aufzucht der Jungvögel stören zu
unterlassen. Für den Fall, dass weitere Arbeiten mit Vegetationsbeseitigung innerhalb
des Schutzzeitraumes aus Sicht der Antragstellerin notwendig seien, seien diese nur
unter vorheriger Beteiligung eines Ornithologen vorzunehmen oder erst nach dem
Schutzzeitraum. Zugleich wurde die sofortige Vollziehung des Bescheides angeordnet.
Gegen den Bescheid legte die Antragstellerin mit Schreiben vom 15. Juli 2010
Widerspruch ein. Die Vorsitzende der Kammer hat das streitbefangene Gelände am 13.
August 2010 mit den Parteien in Augenschein genommen und einen Termin zur
Erörterung der Sache durchgeführt.
Der Antrag der Antragstellerin,
die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 15. Juli 2010 gegen den
Bescheid des Antragsgegners vom 9. Juli 2010 wiederherzustellen,
ist zulässig und begründet.
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Gemäß § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht die aufschiebende Wirkung eines
Rechtsbehelfs, die wegen einer Vollzugsanordnung nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO
entfallen ist, ganz oder teilweise wiederherstellen. Bei dieser Entscheidung ist
entsprechend § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 und Abs. 3 Satz 1 VwGO das Interesse des
Antragstellers an der Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Bescheides bis zu
einer Entscheidung über seinen Rechtsbehelf gegen das öffentliche Interesse an der
sofortigen Vollziehung abzuwägen. Dabei sind auch die überschaubaren
Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs zu berücksichtigen. Das Aussetzungsinteresse der
Antragstellerin überwiegt das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des
Bescheides vom 9. Juli 2010, weil dieser nach summarischer Prüfung rechtswidrig
erscheint. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage im
vorliegenden Verfahren ist der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.
Gemäß §3 Abs. 2 des Bundesnaturschutzgesetzes in der Fassung vom 29. Juli 2009
(BGBl. S. 2542) - BNatSchG - überwachen die für Naturschutz und Landschaftspflege
zuständigen Behörden die Einhaltung der Vorschriften dieses Gesetzes und der auf
Grund dieses Gesetzes erlassenen Vorschriften und treffen nach pflichtgemäßem
Ermessen die im Einzelfall erforderlichen Maßnahmen, um deren Einhaltung
sicherzustellen, soweit nichts anderes bestimmt ist. Hiernach sind Maßnahmen, die der
Einhaltung der im Kapitel 5 des Bundesnaturschutzgesetzes enthaltenen Vorschriften
über den allgemeinen oder besonderen Schutz von Tieren und Pflanzen dienen,
grundsätzlich zulässig. Diese Vorschriften geben indessen keine Grundlage dafür, in
einem nicht begrenzten Zeitraum auf einem mehrere Tausend Quadratmeter großen
Areal jegliche Betätigung zu unterbinden, die zur Beseitigung irgendwelcher Vegetation
führt.
So ist es zwar gemäß § 39 Abs. 5 Nr. 2 BNatSchG verboten, Bäume, die außerhalb des
Waldes, von Kurzumtriebsplantagen oder gärtnerisch genutzten Grundflächen stehen,
Hecken, lebende Zäune, Gebüsche und andere Gehölze in der Zeit vom 1. März bis zum
30. September abzuschneiden oder auf den Stock zu setzen. Zulässig sind hiernach
aber schonende Form- und Pflegeschnitte zur Beseitigung des Zuwachses der Pflanzen
oder zur Gesunderhaltung von Bäumen. Diesen Teil der Regelung hat der Antragsgegner
mit seinem Bescheid vom 9. Juli 2010 ebenso wenig beachtet wie den Umstand, dass die
Regelung auch nicht die Beseitigung anderer Grünpflanzen oder das Rasenmähen
verbietet.
Gemäß § 44 Abs. 1 BNatSchG ist es u. a. verboten,
1. wild lebenden Tieren der besonders geschützten Arten nachzustellen, sie zu
fangen, zu verletzen oder zu töten oder ihre Entwicklungsformen aus der Natur zu
entnehmen, zu beschädigen oder zu zerstören,
2. wild lebende Tiere der streng geschützten Arten und der europäischen
Vogelarten während der Fortpflanzungs-, Aufzucht-, Mauser-, Überwinterungs- und
Wanderungszeiten erheblich zu stören; eine erhebliche Störung liegt vor, wenn sich
durch die Störung der Erhaltungszustand der lokalen Population einer Art verschlechtert,
oder
3. Fortpflanzungs- oder Ruhestätten der wild lebenden Tiere der besonders
geschützten Arten aus der Natur zu entnehmen, zu beschädigen oder zu zerstören.
Diese Regelung hätte gemäß § 3 BNatSchG ermessensfehlerfrei zu treffende (§ 114
VwGO) behördliche Maßnahmen ermöglicht, die dazu dienten, die Aufzucht der nach
Entfernung von Efeu an einem Gebäude vorgefundenen Amseljungen in ihrem Nest auf
dem Gelände sicherzustellen. Die getroffene Entscheidung, jegliche
Vegetationsbeseitigung auf dem gesamten Hof zu verbieten, war indessen nicht mehr
durch den Zweck, das geortete Amselnest zu schützen, gedeckt und unverhältnismäßig.
Dabei kann offenbleiben, ob ein einzelnes Amselnest im Rahmen von § 44 Abs. 1 Nr. 2
BNatSchG gegen erhebliche Störungen geschützt wird. Denn es kann - wie auch in der
Antragserwiderung mit dem Hinweis angedeutet wird, es seien alle Arbeiten im Umfeld
des Nestes untersagt worden - nicht davon ausgegangen werden, dass dieser Schutz -
etwa angesichts besonderer Empfindlichkeit der Vogelbrut - die Untersagung jeglicher
Pflanzenpflege auf dem Ulmenhof geboten hätte. Dies zeigt sich bereits darin, dass die
Brutpflege selbst nach dem zweimaligen Umsetzen des Vogelnests an anderer Stelle
wieder aufgenommen wurde, obwohl sich noch Menschen in wenigen Metern Entfernung
befanden.
Insbesondere aber zum hier maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung
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Insbesondere aber zum hier maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung
erscheinen Maßnahmen, die die ungestörte Brutpflege in der am 8. Juli 2010
vorgefundenen Amselfamilie sicherstellen, nicht mehr geboten. Das bei der
Ortsbesichtigung vorgefundene Nest war leer; Vögel waren nicht zu bemerken. Wie sich
aus insoweit weitgehend übereinstimmenden verschiedenen Quellen im Internet ergibt,
haben Amseln eine relativ kurze Brut- und Aufzuchtzeit, weshalb pro Jahr bis zu drei
Bruten möglich sind. Sie verlassen im Alter von 13 bis 15 Tagen noch flugunfähig das
Nest und werden danach noch bis zu drei Wochen gefüttert. Flugfähig sind sie nach 18
Tagen. Die Dismigration (Zerstreuungswanderung) beginnt im Alter von sieben bis acht
Wochen. Da die am 8. Juli 2010 vorgefundenen Jungvögel bereits etwa zwei Wochen alt
waren, ist davon auszugehen, dass sie spätestens seit Ende Juli 2010 vollkommen
selbständig sind, so dass besondere Maßnahmen zur Sicherung der Einhaltung der
Regelungen von § 44 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 BNatSchG im Hinblick auf diese Vogeljungen
nicht mehr in Frage kommen. Der angefochtene Bescheid, der keine auf den
absehbaren Ablauf der Brutpflege von Amseln bezogene Befristung der getroffenen
Regelungen vorsieht, entspricht auch insoweit nicht dem Gebot der Verhältnismäßigkeit.
Der Umstand, dass der Antragstellerin in dem Bescheid nachgelassen wird, notwendige
Arbeiten mit Vegetationsbeseitigung innerhalb des Schutzzeitraumes von § 39 Abs. 5
Satz 1 Nr. 2 BNatSchG durchzuführen, wenn sie zuvor einen Ornithologen beteiligt, gibt
keinen Anlass zu einer abweichenden Interessenabwägung. Diese Regelung mildert das
ausgesprochene Verbot nicht für alle Fallgestaltungen ausreichend ab und ist durch die
im Bescheid aufgeführten gesetzlichen Verbotsregelungen jedenfalls insoweit nicht
gedeckt, wie diese Vorschriften Pflegemaßnahmen ohne Weiteres zulassen. Im Übrigen
genügt dieser Hinweis nicht dem Gebot ausreichender Bestimmtheit von
Verwaltungsakten, denn er lässt offen, nach welcher Art der Beteiligung eines
Ornithologen Pflegemaßnahmen erlaubt sein sollen.
Vorsorglich sei darauf hingewiesen, dass auch bei der Abfassung eines
Widerspruchsbescheides auf die aktuelle Sachlage abzustellen ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung folgt
aus den §§ 39 ff., 52 f. GKG.
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