Urteil des VG Berlin vom 20.04.2010

VG Berlin: öffentliche sicherheit, wiederherstellung der aufschiebenden wirkung, überwiegendes öffentliches interesse, veranstaltung, aufzug, aufschiebende wirkung, auflage, versammlungsfreiheit

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Gericht:
VG Berlin 1. Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
1 L 113.10
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 8 GG, § 15 Abs 1
VersammlG, § 80 Abs 4 VwGO, §
99 Abs 1 VwGO, § 99 Abs 2
VwGO
versammlungsrechtliche Auflage
Tenor
Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wird abgelehnt.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Wert des Verfahrensgegenstandes wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.
Gründe
I.
Die Antragstellerin, die Ortsgruppe „DIE LINKE PANKOW“, wendet sich gegen einen
versammlungsrechtlichen Auflagenbescheid.
Am 20. April 2010 meldete sie eine Versammlung für Samstag, den 1. Mai 2010 in der
Zeit von 9.00 Uhr bis 24.00 Uhr auf der Kreuzung Greifswalder Straße/Ostseestraße
unter dem Motto „Kein Naziaufmarsch am 1. Mai“ mit erwarteten 150 Teilnehmern an.
Am 12. August 2009 hatte ein Herr S. einen Aufzug für den 1. Mai 2010 in der Zeit von
11.00 bis 24.00 Uhr mit dem Ort der Auftaktkundgebung Bahnhof Bornholmer Straße
und einem Zug durch Pankow nördlich des S-Bahnrings unter dem Motto „Unserem Volk
eine Zukunft – Den bestehenden Verhältnissen den Kampf ansagen – Nationaler
Sozialismus jetzt“ angemeldet. Nach einem Kooperationsgespräch am 13. April 2010
hatte der Polizeipräsident in Berlin die Anmeldung der Versammlung mit Bescheid vom
27. April 2010 ohne Wegstreckenauflage bestätigt.
In einem Veranstaltergespräch am 21. und 26. April 2010 mit zehn Veranstaltern von
Gegendemonstrationen am 1. Mai in Pankow fragte die Versammlungsbehörde nach, ob
Interesse an einer gemeinsamen Gegenveranstaltung in Hör- und Sehweite des
rechtsextremistischen Aufzugs bestehe. Sodann wurde den Veranstaltern mitgeteilt,
dass alle Versammlungen grundsätzlich nur südlich der S-Bahn-Strecke ermöglicht
werden könnten. Die Antragstellerin wandte sich gegen die vorgeschlagene Verlagerung
der Versammlung, wenn nur dadurch ein Aufzug von Rechtsextremisten ermöglicht
werde.
Mit Bescheid vom 27. April 2010 machte der Polizeipräsident in Berlin die Veranstaltung
u.a. von der Einhaltung folgender, für sofort vollziehbar erklärter Auflage abhängig:
„1. Eine Durchführung der Kundgebung an der angemeldeten Örtlichkeit S-Bhf.
Greifswalder Straße wird untersagt. Stattdessen kann die Kundgebung Greifswalder
Straße, südlich des S-Bahnrings in Höhe der Anton-Saefkow-Straße durchgeführt
werden. Der ungehinderte Zu- und Abgang zu/ vom S-Bhf. Greifswalder Straße ist zu
gewährleisten.“
Zur Begründung führte die Behörde aus, die Auflage sei erforderlich, da die öffentliche
Sicherheit bei Durchführung der Versammlung unmittelbar gefährdet sei. Die
Kundgebung richte sich gegen eine rechtsgerichtete Versammlung, die am 1. Mai 2010
in Pankow stattfinden solle. Hiergegen habe sich ein breites Bündnis unter dem Namen
„1. Mai Nazifrei“ gebildet. Dieses Bündnis könne mehrere Tausend Teilnehmer
mobilisieren und habe bislang 13 Gegenkundgebungen angemeldet. Erklärtes Ziel sei:
„Nazis blockieren“. Offenbar seien Massenblockaden beabsichtigt, wie sich aus
Blockadeplänen auf der Internetseite „1. Mai Nazifrei“ ergebe. Darüber hinaus gebe es
massierte Aufrufe verschiedener Antifa-Gruppen, in denen teilweise offen zur Gewalt
gegen „Nazis“ aufgerufen werde. Die dazu gehörigen Gruppen „Antifaschistische Linke
Berlin“ (ALB) und „Antifaschistische Revolutionäre Aktion Berlin“ (ARAB) gehörten zum
„1. Mai Nazifrei“-Bündnis. Bei rechtsgerichteten Demonstrationen sei es in der
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„1. Mai Nazifrei“-Bündnis. Bei rechtsgerichteten Demonstrationen sei es in der
Vergangenheit u.a. am 1. Mai 2004 und am 6. Dezember 2008 in Berlin zu
Blockadeaktionen von Gegendemonstranten mit erheblichem Gewaltpotential
gekommen. Das „1. Mai Nazifrei“-Bündnis beziehe sich ausdrücklich auf den „Erfolg“
von „Dresden Nazifrei“, wo am 13. Februar 2010 mit Hilfe von Massenblockaden und
gezielten Einzelangriffen ein Aufzug Rechtsextremer verhindert worden sei. Die Vielzahl
der angemeldeten Gegendemonstrationen in der Nähe der rechten Veranstaltung biete
gewaltbereiten Personen einen Aktions- und Rückzugsraum. Die Kundgebung sei von der
Gefahrenprognose her als störanfällig einzustufen. Die angemeldete Örtlichkeit befinde
sich im Nahbereich einer zeitlich früher angemeldeten Veranstaltung politisch rechter
Personen. Eigentlicher Zweck der Veranstaltung sei eine „Verhinderungsversammlung“.
Diese Vorgehensweise sei zwar noch vom Zweck der Versammlungsfreiheit gedeckt,
müsse sich aber dem Prioritätsgrundsatz unterordnen. Die rechte Veranstaltung werde
in einem Bericht stattfinden, der westlich durch die Bornholmer Brücke, östlich durch die
Landsberger Allee, südlich durch die S-Bahntrasse der Ringbahn und nördlich von einer
Linie etwa einen Kilometer oberhalb der Ringbahntrasse begrenzt sei. Diese Fläche sei
notwendig, um die Versammlungsfreiheit der Teilnehmer der rechten Veranstaltung zu
ermöglichen. Sie biete gleichzeitig den Aktionsraum, den die Polizei zum Schutz aller
angemeldeten Versammlungen benötige. Die erheblichen Ausschreitungen bei
vergleichbaren Versammlungslagen in den letzten Jahren seien auch darauf
zurückzuführen gewesen, dass die Routenführung der rechten Versammlung im Vorfeld
bekannt gewesen sei. Wegen der Gefahrenprognose könne nur der für polizeiliche
Maßnahmen notwendige Raum, nicht aber die genaue Wegstrecke bezeichnet werden.
Bei den Kooperationsgesprächen habe der Antragsgegner die Durchführung von zwei
oder drei Versammlungen angeboten, die in garantierter Sicht- oder Hörweite der
rechten Veranstaltung hätten liegen sollen. Um die drohenden Gefahren abzuwehren,
sei eine strikte räumliche Trennung von Personen beider Lager zu gewährleisten.
Darüber hinaus dürften die Teilnehmer der rechten Veranstaltung und die Polizei nicht
vollständig von Gegenveranstaltungen eingeschlossen werden.
Hiergegen wendet sich die Antragstellerin mit dem unter dem 28. April 2010 eingelegten
Widerspruch, über den noch nicht entschieden ist. Mit dem am selben Tag
eingegangenen Eilantrag begehrt sie die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung
des Widerspruchs hinsichtlich der ersten Auflage des Bescheides. Sie betont, dass ihr die
kommunikative Beziehung zu den Teilnehmern des rechtsextremen Aufmarsches und
der in deren Nähe betroffenen Anwohner wichtig sei. Es gehe ihr nicht um eine
„Verhinderungsversammlung.“ Zu der von der Antragstellerin vermuteten Route des
rechtsextremen Aufmarsches in der Ostseestraße sei der zugewiesene
Versammlungsort an der Anton-Saefkow-Straße ca. 600m entfernt. Eine kommunikative
Beziehung – in der Form des akustischen und visuellen Kontaktes – zum rechtsextremen
Aufmarsch herzustellen, sei so nicht möglich. Eine automatische Priorität der zuerst
angemeldeten Versammlung gebe es nicht. Darüber hinaus sei der durch den
Antragsgegner behauptete und angeblich benötigte Aktionsraum in Form eines 1 km
breiten Korridors nicht erforderlich. Diesbezügliche Behauptungen seien zu
unsubstantiiert. Die Gefahr einer Einschließung von Polizei und rechtsextremer
Versammlung sei angesichts einer Teilnehmerzahl von 150 Personen nicht gegeben.
Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,
die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs gegen den Bescheid des
Polizeipräsidenten in Berlin vom 27. April 2010 hinsichtlich der ersten Auflage
wiederherzustellen.
Der Antragsgegner beantragt sinngemäß,
den Antrag abzulehnen.
Der Antragsgegner nimmt Bezug auf seine Gefahrenprognose im angegriffenen
Bescheid. Zur Verhinderung eines rechtsextremistischen Aufzugs mittels Sitzblockaden
sei es auch am 1. Mai 2005 gekommen. Regelmäßig würden Sitzblockaden von
gewaltsamen Aktionen durchmischt. Dies werde nunmehr als „erfolgreiches Konzept“
gepriesen. Die Polizei sei Garant der Versammlungsfreiheit auch bezüglich eines
rechtsextremistischen Aufzugs. Damit sei es im vorliegenden Fall unvereinbar, die
Aufzugsstrecke bekannt zu geben. Deshalb habe die Route auf der Anmeldung des
rechtsextremen Aufzugs und auf der Anmeldebestätigung geschwärzt werden müssen.
Es werde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu Ausschreitungen kommen,
wenn sich dem Störerpotential auch nur die geringste Möglichkeit eröffne. Deshalb sei
die Verlegung der Versammlung der Antragstellerin in den Bereich südlich der S-
Bahntrasse nicht zu beanstanden. Demgegenüber seien die Interessen der
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Bahntrasse nicht zu beanstanden. Demgegenüber seien die Interessen der
Antragstellerin nachrangig. Sie müsse sich die im Vorfeld propagierten
Verhinderungsabsichten zurechnen lassen. Die Durchführung der Versammlung in
angemeldeten Bereich würde von gewaltbereiten und zu illegalen Angriffen
entschlossenen Personen missbraucht werden. Dass eine Gegenveranstaltung in Sicht-
und Hörweite ermöglicht werden solle, gelte nur nach Maßgabe dessen, was unter den
konkreten Umständen des Einzelfalls leistbar sei. Südlich der S-Bahntrasse habe sich
zunächst nur die Einmündung Anton-Saefkow-Straße angeboten, da im Bereich der
näher an der S-Bahntrasse gelegenen Lilli-Henoch-Straße eine andere
Gegendemonstration stattfinde. Da beide Veranstaltungen von derselben Anmelderin
betrieben würden, könnten aus Sicht des Antragsgegners beide Veranstaltungen dort
abgehalten werden. Von dort aus sei die Kreuzung Greifswalder
Straße/Grellstraße/Storkower Straße etwa 150 Meter entfernt, so dass die Sicht- und
Hörweite zur Demonstration hergestellt werde. In Erwiderung auf das Vorbringen der
Antragstellerin hat der Antragsgegner telefonisch zugesichert, dass die beiden
Versammlungen der Antragstellerin auf der Greifswalder Straße bis zum südlichen
Beginn der Unterführung am S-Bahnhof Greifswalder Straße vorrücken dürften.
II.
Der Antrag ist zulässig, aber unbegründet. Es besteht ein überwiegendes öffentliches
Interesse an der sofortigen Vollziehung des Bescheides, da die Rechtmäßigkeit der
angefochtenen Auflage Nr. 1 keinen ernstlichen Zweifeln unterliegt (vgl. § 80 Abs. 4 Satz
3 VwGO).
Nach § 15 Abs. 1 VersG kann eine Versammlung oder ein Aufzug von der zuständigen
Behörde verboten oder von bestimmten Auflagen abhängig gemacht werden, wenn nach
den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche
Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Veranstaltung unmittelbar gefährdet ist.
Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
Wegen der besonderen Bedeutung der grundrechtlich verbürgten Versammlungsfreiheit
(Art. 8 GG) für die Funktionsfähigkeit der Demokratie darf ihre Ausübung nur zum Schutz
gleichwertiger anderer Rechtsgüter unter strikter Wahrung des Grundsatzes der
Verhältnismäßigkeit begrenzt werden (BVerfG, Beschluss vom 14. Mai 1985 – 1 BvR
233/81 und 341/81, BVerfGE 69, 315, 348 f. - Brokdorf). Die Versammlungsfreiheit hat
nur dann zurückzutreten, wenn eine Güterabwägung unter Berücksichtigung des
Freiheitsrechts ergibt, dass dies zum Schutz anderer gleichwertiger Rechtsgüter
notwendig ist (BVerfG, a. a. O., S. 353). Dabei ist grundsätzlich das Recht der
Veranstalter zu berücksichtigen, selbst über Art und Umstände der Ausübung ihres
Grundrechts zu bestimmen, also zu entscheiden, welche Mittel sie zur Erregung der
öffentlichen Aufmerksamkeit für ihr Anliegen einsetzen wollen.
Die von der Antragstellerin angemeldete Kundgebung fällt, wie auch der Antragsgegner
fraglos anerkennt, unter den Schutzbereich des Art. 8 GG. Dass sie in ausgesprochenem
Gegensatz zur Versammlung des Anmelders S. steht, ändert daran zunächst nichts.
Solange eine Gegendemonstration friedlich und mit kommunikativen Mitteln tatsächlich
durchgeführt werden soll (und nicht zum Schein angemeldet wurde), hat die zuständige
Versammlungsbehörde den möglichen Konflikt mit dem Grundrecht der
Versammlungsfreiheit der Teilnehmer der von den Gegendemonstranten abgelehnten
Versammlung im Wege der praktischen Konkordanz zu lösen, wobei die zeitliche Priorität
der Anmeldungen eine wichtige, aber nicht allein ausschlaggebende Rolle spielt. Im
Rahmen dieses Interessenausgleichs kann auch berücksichtigt werden, dass eine
größere Zahl von Gegendemonstrationen an strategischen Orten auch mit dem Ziel
angemeldet worden ist, den Streckenverlauf eines bekämpften Aufzuges zu
durchkreuzen (Urteil der Kammer vom 23. Februar 2005, - VG 1 A 188.02 -, S. 8 des
Urteilsabdrucks).
Ausgehend hiervon hatte die Versammlungsbehörde zunächst zu beurteilen, ob die
gleichzeitige Abhaltung der Gegenkundgebung der Antragstellerin im Nahbereich der
Aufzugsroute des Anmelders S. mit Gefahren für die öffentliche Sicherheit i.S. von § 15
Abs. 1 VersG verbunden ist, die ein versammlungsbehördliches Einschreiten erforderlich
macht. Dies ist nach Auffassung der Kammer zu bejahen.
Bei Durchführung des rechtsextremistischen Aufzugs in Pankow ist mit gewalttätigen
Zusammenstößen zwischen gewaltbereiten Gegnern des Aufzugs und dessen
Teilnehmern zu rechnen. Dies belegen die vom Antragsgegner zitierten Internetaufrufe
einschließlich des Internetauftritts des Bündnisses „1. Mai Nazifrei“, dem die
Antragstellerin zugehört. In den Jahren 2004, 2005 und 2008 ist es zu massiven
Zusammenstößen und Blockaden anlässlich vergleichbarer rechter Aufmärsche
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Zusammenstößen und Blockaden anlässlich vergleichbarer rechter Aufmärsche
gekommen, wobei sich schnell bewegliche gewaltbereite Störergruppen häufig unter
friedliche Demonstranten gemischt haben. Je nach Lage könnte deshalb die von der
Antragstellerin geschätzte Zahl der Teilnehmer ihrer Versammlung von 150 auf mehrere
Tausend anwachsen. Dass ein Vorgehen mit einer Kombination aus friedlichen
Sitzblockaden, der illegalen Errichtung von Hindernissen und gewalttätigen Angriffen aus
der Sicht der Blockierer erfolgversprechend ist, betont auch das Bündnis „1. Mai
Nazifrei“ unter Bezug auf die Ausschreitungen am 13. Februar 2010 in Dresden. Das
erklärte Ziel „Nazis blockieren“ ist vor dem Hintergrund der bisherigen Erfahrungen nicht
allegorisch oder symbolisch gemeint, sondern wörtlich zu nehmen.
Die Kundgebung der Antragstellerin an der Kreuzung Greifswalder
Straße/Ostseestraße/Michelangelostraße befindet sich in unmittelbarer Nähe zur
Aufzugstrecke des gleichzeitig stattfindenden rechtsextremen Aufzugs. Zwar ist auch
der Kammer die Route dieses Aufmarsches nicht in Einzelheiten bekannt. Denn der
Antragsgegner hat die entsprechenden Passagen des Anmeldeformulars und der
Anmeldebestätigung des rechtsextremen Aufzugs unter Berufung auf die Erfahrungen in
der Vergangenheit und seine Schutzpflicht auch für eine derartige Versammlung
geschwärzt. Die Kammer hat keine Möglichkeit, die Vorlage dieser Information in einem
Eilverfahren kurzfristig durch Beweisbeschluss zu erzwingen und im Fall der Abgabe einer
Sperrerklärung von Seiten der Behörde ein In-Camera-Verfahren durchzuführen (vgl. §
99 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 VwGO). Im vorliegenden Fall hat der Antragsgegner aber
sinngemäß mitgeteilt, dass der rechtsextreme Aufzug die Kreuzung Greifswalder Straße/
Grellstraße/Storkower Straße passieren und damit dicht an dem von Antragstellerin
angemeldeten Standort vorbeiführen wird. Bereits dies könnte von gewaltbereiten
Teilnehmern für eine direkte Konfrontation mit dem rechten Aufzug oder für eine
Blockade genutzt werden. Diese Gefahr ließe sich nördlich des S-Bahnrings auch durch
entsprechende Absperrungen und einen räumliche Trennung der beiden Gruppen nicht
mit vertretbarem Aufwand beherrschen.
Bei dieser Sachlage ist es auch nicht zu beanstanden, dass die Versammlungsbehörde
mit einer versammlungsrechtlichen Auflage gegen die Antragstellerin und nicht gegen
den Versammlungsveranstalter S. vorgegangen ist. Das Bundesverfassungsgericht hat
Grundsätze dazu entwickelt, wie bei konkurrierenden Anmeldungen im Konflikt zwischen
(zuerst angemeldeter) Demonstration und einer Gegendemonstration, von der Gewalt
droht, vorzugehen ist. Drohen Gewalttaten als Gegenreaktion auf Versammlungen, so
besteht eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit. Die behördlichen Maßnahmen müssen
sich primär gegen den Störer richten. Grundsätzlich kann der Erstanmelder, der im
Regelfall bei kollidierenden Versammlungen Vorrang genießt, nicht als Zweckveranlasser
und Störer, sondern nur unter den engen Voraussetzungen des polizeilichen Notstandes
in Anspruch genommen werden. Es ist Aufgabe der zum Schutz der rechtsstaatlichen
Ordnung berufenen Versammlungsbehörde, in unparteilicher Weise auf die
Verwirklichung des Versammlungsrechts des Erstanmelders hinzuwirken (BVerfG,
Beschluss vom 1. September 2000 – 1 BvQ 24/00 –, NVwZ 2000, 1406). Für diese
Verpflichtung ist es nicht entscheidend, ob Störungen des Versammlungsablaufs nur
durch gewaltbereite Personen zu erwarten sind oder zusätzlich durch weitgehend
gewaltfreie Protestformen wie Sitzblockaden; letztere sind zwar nicht als strafbare
Nötigung zu werten, dürfen aber als Mittel zur Hinderung Dritter an der Abhaltung einer
angemeldeten und bestätigten Versammlung auch unter Berufung auf das
Versammlungsgrundrecht nicht eingesetzt werden (OVG Berlin, Urteil vom 20.
November 2008 – OVG 1 B 5.06, S. 20 ff., 21 des Urteilsabdrucks). Auch zu erwartende
Formen des gewaltfreien Protests gegen eine Versammlung können deshalb den
maßvollen Einsatz präventiver Maßnahmen wie z.B. Absperrungen und Kontrollen
rechtfertigen, auch wenn sie die Bewegungsfreiheit unbeteiligter Personen im
öffentlichen Raum beschränken; dies gilt insbesondere dann, wenn gewaltbereite von
friedlichen Veranstaltungsgegnern nicht oder nur schwer zu trennen sind und eine
Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass Unbeteiligte und friedliche Veranstaltungsgegner
als Schutzschirm für die Ausübung von Gewalt missbraucht werden sollen (OVG Berlin,
a.a.O. S. 22). Ergreift die Versammlungsbehörde die danach erforderlichen präventiven
Maßnahmen nicht und führt dies dazu, dass der angemeldete und bestätigte Aufzug
tatsächlich wegen nicht anders zu bewältigender, von Gegendemonstranten
ausgehender Gefahren abgebrochen werden muss, kann sich die
Versammlungsbehörde auf das Vorliegen eines polizeilichen Notstandes nicht berufen;
dies führt zur Rechtswidrigkeit der von ihr gegen die bestätigte Versammlung
getroffenen Maßnahmen.
Ausgehend hiervon hat die Versammlungsbehörde zu Recht die Antragstellerin zur
Vermeidung der drohenden Gefahr herangezogen und gegen sie eine
versammlungsrechtliche Auflage erlassen.
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Der Veranstalter S. hat seinen Aufzug zeitlich deutlich vor der Antragstellerin
angemeldet. Schon deshalb waren versammlungsbehördliche Maßnahmen gegen die
Antragstellerin zu richten. Denn besondere Gründe, die es vertretbar erscheinen ließen,
abweichend vom Prioritätsgrundsatz auf die Versammlungsanmeldung der
Antragstellerin hin zur Abwehr der mit ihr verbundenen Gefahr eine (Wegstrecken-
)Auflage gegen den Veranstalter S. zu erlassen, kann das Gericht nicht erkennen.
Angesichts der dargelegten Verpflichtung der Versammlungsbehörde, eine von ihr
bestätigte Versammlung zu schützen und ihre Durchführung aktiv zu ermöglichen,
einerseits, und andererseits der dargelegten Gefahren gewalttätiger
Auseinandersetzungen ist es nicht zu beanstanden, dass die Antragstellerin hinsichtlich
der Wahl ihres Veranstaltungsortes zurückstehen muss. Angesichts der mit hoher
Wahrscheinlichkeit drohenden massiven Blockaden und gewalttätigen Angriffe auf den
rechtsextremen Aufzug ist es nicht zu beanstanden, dass die Polizei eine räumliche
Trennung zwischen beiden Gruppen diesseits und jenseits der S-Bahntrasse vornimmt.
Im Rahmen dieses Konzepts wird der Antragstellerin ein Agieren in Seh- und Hörweite
der rechtextremen Demonstration ermöglicht, soweit sie die streitbefangene
Versammlung mit der ebenfalls von ihr angemeldeten weiteren Versammlung auf der
Greifswalder Straße in Höhe der Lilli-Henoch-Straße zusammenlegt und beide
Versammlungen bis ans südliche Ende der Bahnunterführung heranführt. Die Entfernung
zur Kreuzung Greifswalder Straße/Grellstraße/Storkower Straße beträgt von dort aus
lediglich circa 100 Meter (Entfernungsmessung nach ).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Wertfestsetzung auf den §§
39 ff., 52 f. GKG. Es wurde gemäß ständiger Spruchpraxis der Kammer und des 1.
Senats des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg der volle Auffangstreitwert
angesetzt, da es inhaltlich um eine Vorwegnahme der Hauptsache geht.
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