Urteil des VG Berlin vom 26.08.2010

VG Berlin: aufenthaltserlaubnis, lebensgemeinschaft, familiennachzug, staatsangehörigkeit, anfang, sorgerecht, haushalt, visum, quelle, lebensmittelpunkt

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Gericht:
VG Berlin 3. Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
3 K 1239.09 V
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 5 Abs 1 Nr 1 AufenthG, § 27
AufenthG, § 28 Abs 1 S 1 Nr 1
AufenthG, § 28 Abs 1 S 3
AufenthG
Erteilung eines Visums zur Familienzusammenführung
Tenor
Die Beklagte wird unter Aufhebung der Bescheide des Generalkonsulats der
Bundesrepublik Deutschland in Istanbul vom 13. August und 13. November 2009
verpflichtet, der Klägerin zu 1) ein Visum zur Familienzusammenführung zu dem Kläger
zu 2) zu erteilen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen
Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des
beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung
Sicherheit in gleicher Höhe leisten.
Tatbestand
Die Kläger begehren die Erteilung eines Visums für die Klägerin zu 1) zur
Familienzusammenführung zu dem Kläger zu 2).
Der am 10. September 196.. in der Türkei geborene Kläger zu 2) lebt, seit er im Jahr
1979 als damals 10-Jähriger im Wege der Familienzusammenführung zu seinem Vater
einreiste, in der Bundesrepublik Deutschland. Anfang 2005 erlangte er die deutsche
Staatsangehörigkeit im Wege der Einbürgerung. Eine im Dezember 1991 mit einer
türkischen Staatsangehörigen geschlossene Ehe wurde im August 2000 vom
Amtsgericht Stade geschieden. Der aus dieser Ehe hervorgegangene, am 19. November
1992 geborene Sohn Mehmet lebt im Haushalt des Klägers zu 2), der für ihn -
gemeinsam mit der Kindesmutter - auch das Sorgerecht besitzt. Der Kindesmutter
wurde ein Umgangsrecht eingeräumt. Eine im Februar 2002 mit einer polnischen
Staatsangehörigen geschlossene Ehe des Klägers zu 2) wurde im Oktober 2006
geschieden. Für den aus dieser Ehe hervorgegangenen, am 16. Januar 2001 geborenen
gemeinsamen Sohn Oliver, der derzeit bei der Kindesmutter lebt, üben der Kläger zu 2)
und die Kindesmutter gemeinsam das Sorgerecht aus. Das Kind besitzt die polnische
Staatsangehörigkeit.
Am 8. Januar 2007 heiratete der Kläger zu 2) die Klägerin zu 1), die am 5. September
1972 in der Türkei geboren wurde und aus einer sogenannten Imam-Ehe eine am 23.
November 1992 geborene Tochter hat.
Nachdem die Klägerin zu 1) im Januar 2007 einen Visumsantrag zur
Familienzusammenführung zu dem Kläger zu 2) gestellt hatte, wurde im August 2007
eine Befragung beider Eheleute durchgeführt, als deren Ergebnis die Beigeladene
bestätigte, dass kein Verdacht auf eine nicht schützenswerte Ehe bestehe. Gleichwohl
werde die Zustimmung zur Erteilung des Visums abgelehnt, weil der Kläger zu 2)
öffentliche Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts sowie (für seine Kinder)
Unterhaltsvorschussleistungen in Anspruch nehme. Mit dieser Begründung lehnte das
Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland durch Bescheid vom 19. November
2007 den Visumsantrag ab. Auch ein weiterer, im Juli 2008 gestellter Visumsantrag
wurde abgelehnt.
Anfang Juni 2009 stellte die Klägerin zu 1) einen abermaligen Visumsantrag und wies in
diesem Zusammenhang durch ein Zertifikat des Goethe-Instituts die erforderlichen
Deutschkenntnisse nach. Der Kläger zu 2) wies nach, dass er sich seit Anfang November
2008 in einem Beschäftigungsverhältnis als Montagehelfer befindet. Die Beigeladene
lehnte die Zustimmung zur Erteilung des beantragten Visums mit der Begründung ab,
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lehnte die Zustimmung zur Erteilung des beantragten Visums mit der Begründung ab,
dass hier besondere Umstände vorlägen, die es rechtfertigten, trotz der deutschen
Staatsangehörigkeit des Klägers zu 2) nicht von einem Nachweis der Sicherung des
Lebensunterhalts abzusehen. Das Einkommen des Klägers zu 2) reiche zur Deckung des
Lebensunterhalts für ihn, den in seinem Haushalt lebenden Sohn, die Klägerin zu 1) und
für die seinem Sohn Oliver geschuldeten Unterhaltsleistungen nicht aus. Der Kläger zu
2) könne darauf verwiesen werden, die eheliche Lebensgemeinschaft mit der Klägerin zu
1) in der Türkei zu führen, da er selbst bis zu seinem 10. Lebensjahr dort gelebt habe, da
er erst im Jahr 2005 eingebürgert worden sei und da er sich mit der Klägerin zu 1) in
türkischer Sprache verständige. Mit Bescheid vom 13. August 2009 und - nach
Remonstration der Klägerin zu 1) - mit weiterem Bescheid vom 13. November 2009
lehnte das Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland in Istanbul den
Visumsantrag ab und folgte dabei im Wesentlichen der Begründung der Beigeladenen.
Ergänzend wurde darauf hingewiesen, dass der Kläger zu 2) kulturell und sprachlich in
der Türkei sozialisiert sei, was sich auch in seinen zahlreichen Aufenthalten in der Türkei
zeige. Durch die ablehnende Entscheidung würden die Rechte des Kindes des Klägers zu
2) nicht angetastet, da ein Zuzug der Klägerin zu 1) ins Bundesgebiet die finanzielle
Situation des Klägers zu 2) noch negativer erscheinen lasse und Unterhaltszahlungen
wahrscheinlich nicht mehr zu leisten wären.
Mit der am 3. Dezember 2009 bei Gericht eingegangenen Klage verfolgen die Kläger das
auf Erteilung eines Visums für die Klägerin zu 1) gerichtete Begehren weiter. Sie machen
im Wesentlichen geltend, dass ihnen allein deshalb, weil das Einkommen des Klägers zu
2) nicht ausreiche, den Lebensunterhalt vollständig sicherzustellen, nicht angesonnen
werden dürfe, die eheliche Lebensgemeinschaft in der Türkei zu führen. Die
Verweigerung des Visums verletze auch die gegenüber seinen in Deutschland lebenden
Kindern bestehenden Rechte des Klägers zu 2). Mit seinem Sohn Mehmet lebe der
Kläger zu 2) zusammen und zu seinem Sohn Oliver pflege er regelmäßigen Kontakt.
Oliver verbringe regelmäßig die Hälfte der Schulferien bei ihm sowie auch schulfreie Tage
und sogenannte Brückentage. Seinen Unterhaltsverpflichtungen gegenüber dem Sohn
Oliver komme der Kläger zu 2) nach. Die noch verbliebenen Unterhaltsrückstände allein
könnten dem geltend gemachten Anspruch auf Familiennachzug nicht
entgegengehalten werden. Er, der Kläger zu 2), habe sich, da er seit dem 10. Lebensjahr
in Deutschland lebe, in die hiesigen Lebensverhältnisse vollständig integriert und
spreche die deutsche Sprache perfekt. Seine beiden Kinder seien in Deutschland
aufgewachsen. Zu berücksichtigen sei auch, dass er erwerbstätig sei und
angemessenes Einkommen erziele und dass, insbesondere unter Berücksichtigung der
neuesten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs eine Bedarfsberechnung
vorzunehmen sei, bei der allenfalls ein geringfügiger Deckungsbedarf verbleibe.
Die Kläger haben schriftsätzlich sinngemäß beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung der Bescheide des Generalkonsulats der
Bundesrepublik Deutschland in Istanbul vom 13. August und 13. November 2009 zu
verpflichten, der Klägerin zu 1) ein Visum zur Familienzusammenführung zu dem Kläger
zu 2) zu erteilen.
Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung wiederholt und vertieft sie die Gründe der angefochtenen Bescheide
und führt ergänzend aus, dass die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 4.
März 2010 - C-578/09 - auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar sei.
Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt, tritt aber dem Klagebegehren aus den
bereits im Visumsverfahren für die Ablehnung der Zustimmung zur Visumserteilung
vorgetragenen Gründen entgegen. Ergänzend wird ausgeführt, dass auch unter
Berücksichtigung der aktuellen Einkommensnachweise des Klägers zu 2) für die Deckung
des Lebensunterhalts ein Fehlbetrag in Höhe von 222,90 € bestehe. Im Falle eines
Familiennachzugs der Klägerin zu 1) seien die Unterhaltsverpflichtungen des Klägers zu
2) gegenüber seinem Sohn Oliver gänzlich gefährdet.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte sowie der Verwaltungsvorgänge der Beklagten und der Beigeladenen, die
vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist als Verpflichtungsklage zulässig. Der Berichterstatter, dem die Kammer
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Die Klage ist als Verpflichtungsklage zulässig. Der Berichterstatter, dem die Kammer
den Rechtsstreit zur Entscheidung übertragen hat, konnte als Einzelrichter ohne
mündliche Verhandlung über die Klage entscheiden, da die Beteiligten sich hiermit
einverstanden erklärt haben (§ 101 Abs. 2 VwGO).
Die Klage ist auch begründet. Die Ablehnung des Antrags auf Erteilung einer
Aufenthaltserlaubnis in Form eines Visums zum Familiennachzug ist rechtswidrig und
verletzt die Kläger in ihren Rechten. Die Kläger haben einen Anspruch auf Erteilung des
von der Klägerin zu 1) beantragten Visums (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Rechtsgrundlage für das begehrte Visum ist § 6 Abs. 4 Satz 1 und 2 i.V.m. den §§ 5, 27
und 28 des Aufenthaltsgesetzes in der maßgeblichen Neufassung vom 25. Februar 2008
(BGBl. I S. 162), zuletzt geändert durch Gesetz vom 22. Dezember 2008 (BGBl. I S.
2965) - AufenthG -.
Nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG ist dem Ehegatten eines Deutschen eine
Aufenthaltserlaubnis zur Herstellung und Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft
im Bundesgebiet zu erteilen, wenn der Deutsche seinen gewöhnlichen Aufenthalt im
Bundesgebiet hat. Nach Satz 3 der Vorschrift soll die Aufenthaltserlaubnis in der Regel
abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG erteilt werden; nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG
ist allgemeine Erteilungsvoraussetzung für eine Aufenthaltserlaubnis in der Regel, dass
der Lebensunterhalt gesichert ist. Nach § 27 Abs. 3 Satz 1 AufenthG kann die Erteilung
der Aufenthaltserlaubnis zum Zweck des Familiennachzugs versagt, werden, wenn
derjenige, zu dem der Familiennachzug stattfindet, für den Unterhalt von anderen
Familienangehörigen oder anderen Haushaltsangehörigen auf Leistungen nach dem
Zweiten oder Zwölften Buch des Sozialgesetzbuches angewiesen ist.
Es liegen keine auf Tatsachen gründenden Anhaltspunkte dafür vor, dass die Kläger die
Aufenthaltserlaubnis nicht zur Herstellung und Wahrung der familiären
Lebensgemeinschaft in Deutschland begehren. Insbesondere haben sich aus der im
Zusammenhang mit dem im Januar 2007 gestellten ersten Visumsantrag der Klägerin
zu 1) durchgeführten Befragung beider Kläger durch die deutsche Auslandsvertretung
und die Beigeladene keine gravierenden Zweifel daran ergeben, dass die Kläger das
ernsthafte Anliegen verfolgen, in Deutschland eine eheliche Lebensgemeinschaft
miteinander zu führen. Die Beigeladene hat im Oktober 2007 ausdrücklich bestätigt,
dass aus ihrer Sicht von einer schützenswerten Ehe auszugehen sei. Ferner hat die
Klägerin zu 1) durch ein Zeugnis des Goethe-Instituts in Istanbul vom 5. Mai 2009
nachgewiesen, dass sie die nach § 28 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2
AufenthG erforderlichen deutschen Sprachkenntnisse besitzt.
Beklagte und Beigeladene haben dem Visumsbegehren jedoch zu Unrecht
entgegengehalten, dass durch das Einkommen des Klägers zu 2) der Lebensunterhalt
nicht gesichert sei. Zwar ergibt sich aus der von der Beigeladenen vorgenommenen und
mit Schriftsatz vom 5. August 2010 übersandten zutreffend ermittelten
Gegenüberstellung des voraussichtlichen Unterhaltsbedarfs und des durchschnittlichen
monatlichen Arbeitseinkommens des Klägers zu 2), auch unter Berücksichtigung des für
das Kind Oliver zu zahlenden laufenden Unterhalts sowie Ratenzahlungen auf den
Unterhaltsrückstand, ferner unter Berücksichtigung der Abschläge gemäß §§ 11 Abs. 2
Satz 1 Nr. 6, Abs. 2 Satz 2 und § 30 SGB II eine Unterdeckung von etwa 222,90 €. Bei
einem Fehlbetrag bliebe es auch, wenn man dem Urteil des EuGH vom 4. März 2010 (C--
578/08) entnehmen wollte, dass die genannten Abschläge unberücksichtigt zu bleiben
hätten).
Die Entscheidung der Beklagten, den Visumsanspruch entgegen § 28 Abs. 1 Satz 3
AufenthG daran scheitern zu lassen, dass die Erteilungsvoraussetzung der Sicherung
der Lebensunterhalts nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG nicht erfüllt ist, ist jedoch
rechtswidrig, weil nach § 28 Abs. 1 Satz 3 AufenthG die Aufenthaltserlaubnis beim
Ehegattennachzug zu Deutschen in der Regel unter Absehen von der Voraussetzung der
Sicherung des Lebensunterhalts erteilt werden soll und die Voraussetzungen einer
Ausnahme von dieser Rechtsfolge hier nicht vorliegen.
Diese mit dem Richtlinienumsetzungsgesetz vom 19. August 2007 eingeführte und am
28. August 2007 in Kraft getretene Regelung gibt der Behörde die Möglichkeit, beim
Vorliegen besonderer Umstände die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis für den
Ehegatten eines Deutschen gleichwohl von der Sicherung des Lebensunterhalts
abhängig zu machen. In der amtlichen Begründung hierzu heißt es (BT-Drs. 16/5065, S.
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„Durch den neu eingefügten Satz 3 kann der Ehegattennachzug zu Deutschen
bei Vorliegen besonderer Umstände von der Sicherung des Lebensunterhalts abhängig
gemacht werden. Besondere Umstände liegen bei Personen vor, denen die Begründung
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gemacht werden. Besondere Umstände liegen bei Personen vor, denen die Begründung
der ehelichen Lebensgemeinschaft im Ausland zumutbar ist. Dies kommt insbesondere
bei Doppelstaatlern in Bezug auf das Land in Betracht, dessen Staatsangehörigkeit sie
neben der deutschen besitzen, oder bei Deutschen, die geraume Zeit im Herkunftsland
des Ehegatten gelebt und gearbeitet haben und die Sprache dieses Staates sprechen.“
Allein der Umstand, dass der Kläger zu 2) bis zum Erreichen seines 10. Lebensjahres in
der Türkei gelebt hat, dass er auch die türkische Sprache beherrscht und sich mit der
Klägerin zu 1) auf Türkisch verständigt, ergibt nicht, dass ein solcher Ausnahmefall
gegeben wäre.
Der Grund dafür, dass gemäß § 28 Abs. 1 Satz 3 AufenthG der Familiennachzug zu
Deutschen in der Regel nicht vom Nachweis der Sicherung des Lebensunterhalts
abhängig gemacht werden soll, besteht darin, dass das durch Art. 6 Abs. 1 GG
geschützte Recht auf eheliches und familiäres Zusammenleben in räumlich ganz
bestimmter Hinsicht, nämlich in der Bundesrepublik Deutschland, beeinträchtigt wäre,
wenn den Eheleuten die Herstellung einer familiären Gemeinschaft in Deutschland
unmöglich gemacht und damit der deutsche Ehegatte gezwungen werden würde,
entweder auf die Herstellung eines ehelichen und familiären Zusammenlebens zu
verzichten oder seine aus den deutschen Lebensverhältnissen und der hier erreichten
wirtschaftlichen und sozialen Stellung sowie den hier entstandenen und eingegangenen
persönlichen Bindungen erwachsene Position aufzugeben (vgl. BVerwGE 42, 133 und
BVerfGE 76, 1). Der Beklagten und der Beigeladenen kann nicht darin zugestimmt
werden, dass dieser Schutzgedanke auf den Kläger zu 2) nicht zutreffen sollte. Von
seinen knapp 40 Lebensjahren hat er lediglich die ersten zehn Jahre in der Türkei
verbracht und damit offensichtlich seine überwiegende kulturelle und soziale Prägung
durch die in der Bundesrepublik Deutschland vorgefundenen Verhältnisse erhalten. Der
von der Beigeladenen herangezogene Umstand, dass sich der Kläger „vom 22.9.2006
bis 16.1.2007 für einen längeren Zeitraum in der Türkei aufgehalten“ habe, steht diesem
Befund in keiner Weise entgegen, zumal die Beigeladene während des Visumsverfahrens
mit Schriftsatz vom 31. Juli 2007 gegenüber dem Deutschen Generalkonsulat in Istanbul
einräumen musste, dass der Kläger zu 2) während dieses Zeitraums mehrfach bei der
hiesigen Arbeitsverwaltung vorgesprochen habe. Von daher kann entgegen der Ansicht
der Beklagten und der Beigeladenen nicht davon ausgegangen werden, dass es dem
Kläger zu 2) nach etwa 30 Jahren Aufenthalt in Deutschland ohne nennenswerte
Schwierigkeiten gelingen könnte, in der Türkei, deren Lebensverhältnisse er lediglich als
Kind kennen gelernt hatte und die ihm seither allenfalls durch mehr oder weniger
regelmäßige Besuche vertraut sein dürften, eine Lebensstellung aufzubauen, die es
zumutbar erscheinen lassen würde, die Position aufzugeben, die er sich durch
jahrzehntelangen Aufenthalt und Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse in
Deutschland erworben hat.
Hinzu kommt, dass der Kläger zu 2), wenn er im Falle der Verweigerung des von der
Klägerin zu 1) benötigten Visums seinen Lebensmittelpunkt in der Türkei nehmen
müsste, um mit ihr eine eheliche Lebensgemeinschaft führen zu können, den Kontakt zu
seinen beiden in Deutschland lebenden Söhnen, so wie er derzeit besteht, aufgeben
müsste. Auch dies wäre ihm nicht zuzumuten. Der aus seiner ersten Ehe stammende
heranwachsende Sohn Mehmet lebt im Haushalt des Klägers zu 2) und diese familiäre
Bindung würde durch einen Wegzug des Klägers zu 2) in die Türkei aufgehoben werden.
Der damit einhergehende durchaus schwerwiegende Eingriff in die grundrechtlich und
konventionsrechtlich (Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK) geschützte Vater-Sohn-
Beziehung wird für den Kläger zu 2) nicht dadurch hinnehmbar, dass die Beklagte auf die
in absehbarer Zeit bevorstehende Volljährigkeit des Sohnes Mehmet und die Möglichkeit
verweist, dass die geschiedene Ehefrau des Klägers zu 2) sich (statt seiner) um den
Sohn kümmern könne. Auch das in gleicher Weise geschützte Umgangsrecht des
Klägers zu 2) mit dem aus seiner zweiten Ehe stammenden, neunjährigen Sohn Oliver,
das er nach substantiiertem eigenen Vortrag und schriftlicher Bestätigung der
Kindesmutter regelmäßig wahrnimmt, wäre erheblich beeinträchtigt, wenn der Kläger zu
2) darauf angewiesen wäre, seinen Sohn nur noch anlässlich von Besuchsreisen nach
Deutschland zu sehen. Das Bundesverfassungsgericht hat durch Beschluss vom 23.
Januar 2006 (NVwZ 2006, 682) entschieden, dass die Pflicht des Staates, die Familie zu
schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurückdrängt, wenn die
Lebensgemeinschaft zwischen einem Ausländer und seinem Kind nur in der
Bundesrepublik Deutschland stattfinden kann, etwa weil das Kind deutscher
Staatsangehöriger ist und ihm wegen der Beziehungen zu seiner Mutter das Verlassen
der Bundesrepublik nicht zumutbar ist. Im vorliegenden Fall kann nichts grundsätzlich
Anderes gelten, auch wenn die beiden Söhne des Klägers zu 2) nicht die deutsche
Staatsangehörigkeit besitzen; denn sie sind in Deutschland aufgewachsen und -
mangels gegenteiliger Anhaltspunkte - in die hiesigen Lebensverhältnisse integriert, sie
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mangels gegenteiliger Anhaltspunkte - in die hiesigen Lebensverhältnisse integriert, sie
haben erkennbar enge Bindungen zu ihren jeweiligen Müttern, die gemeinsam mit dem
Kläger zu 2) das Sorgerecht innehaben, so dass ihnen nicht zuzumuten ist, die
Bundesrepublik Deutschland zu verlassen, um die mit dem Kläger zu 2) bisher gelebten
Bindungen nicht aufgeben zu müssen. Es kommt nicht darauf an, ob die gegenüber
diesen beiden Kindern bisher vom Kläger zu 2) erbrachte Lebenshilfe auch von anderen
Personen erbracht werden könnte, da die bisher bestehende Vater-Kind-Beziehung eine
eigenständige Bedeutung für die Entwicklung des jeweiligen Kindes hat (BverfG a.a.O.).
Das Gericht geht, insoweit der durch Urteil vom 25. März 2010 getroffenen Entscheidung
der 16. Kammer des Verwaltungsgerichts Berlin (VG 16 K 159.09 V) folgend, davon aus,
dass die Annahme eines Ausnahmefalles nach § 28 Abs. 1 Satz 3 AufenthG auf wenige,
eindeutige Fälle zu beschränken ist. Ein solcher besonderer Ausnahmefall liegt hier aus
den oben genannten Gründen nicht vor. Dabei kann auch nicht unberücksichtigt bleiben,
dass der Kläger zu 2) durch ein seit Anfang November 2008 bestehendes festes
Arbeitsverhältnis immerhin bemüht ist, die erforderliche Sicherung des Lebensunterhalts
für sich und seine Familie zu gewährleisten und dass ihm dies weitgehend auch gelingt.
Die von der Beigeladenen bei einem Familiennachzug der Klägerin zu 1) gesehene
Gefährdung der Unterhaltsleistungen des Klägers zu 2) gegenüber seinen Kindern dürfte
größer sein, wenn er gezwungen wäre, seinen Lebensmittelpunkt in die Türkei zu
verlegen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 und § 162 Abs. 2 VwGO. Da die
Beigeladene keinen ausdrücklichen Antrag gestellt hat, entsprach es der Billigkeit, dass
sie ihre außergerichtlichen Kosten selbst trägt. Die Entscheidung über die vorläufige
Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 1 und 2 VwGO und §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Beschluss
Der Wert des Streitgegenstandes wird gemäß §§ 39 ff., 52 f. des Gerichtskostengesetzes
auf 5.000,-- Euro festgesetzt.
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