Urteil des VG Berlin vom 18.11.2010

VG Berlin: besondere härte, eltern, ukraine, botschaft, sorgerecht, kiew, visum, merkblatt, ausreise, tante

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Gericht:
VG Berlin 15.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
15 K 241.09 V
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 32 Abs 3 AufenthG, § 32 Abs 4
AufenthG, § 82 Abs 3 AufenthG
Ablehnung eines Visumantrages eines ukrainischen Kindes zum
Zwecke des Familiennachzuges zur Mutter
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen
Kosten des Beigeladenen, der diese selbst trägt.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Die Kläger dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des aus dem Urteil
vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte zuvor Sicherheit in Höhe
des beizutreibenden Betrages leistet.
Tatbestand
Die Klägerinnen begehren die Feststellung, dass die Ablehnung des Visumantrages der
Klägerin zu 2) zum Zwecke des Familiennachzuges zu ihrer Mutter, der Klägerin zu 1),
rechtswidrig war.
Die am 22. April 1999 geborene Klägerin zu 2) beantragte am 15. April 2009 ein Visum
zum Zwecke des Kindernachzuges zu ihrer in Deutschland lebenden Mutter. Bei der
anlässlich der Visumbeantragung durchgeführten Befragung gaben die Klägerinnen an,
die Klägerin zu 2) lebe mit den Großeltern mütterlicherseits zusammen in S_____. In der
Stadt lebten auch noch Onkel, Tante und Cousine. Der Vater wohne ebenfalls in S____
und habe eine eigene Familie. Sie fügten eine notariell beglaubigte
Einverständniserklärung des Vaters der Klägerin zu 2) bei, wonach dieser mit dem
Umzug seiner Tochter nach Deutschland einverstanden sei.
Der Stiefvater der Klägerin zu 2) wandte sich mit E-Mails vom 12. und 22. Mai 2009 an
den Beigeladenen und trug vor, zum Zeitpunkt der Ausreise der Klägerin zu 1) aus der
Ukraine sei von ihr der Nachweis verlangt worden, dass die Klägerin zu 2) dort von den
Großeltern versorgt werde, sonst hätte sie nicht ausreisen dürfen. Außerdem habe die
Klägerin zu 2) noch das Schuljahr in der Ukraine abschließen sollen. Die Großeltern seien
jetzt jedoch finanziell und gesundheitlich nicht mehr in der Lage, das Kind zu betreuen.
Daher müsse sich die Klägerin zu 1) derzeit mit dem gemeinsamen deutschen Kind der
Eheleute in der Ukraine aufhalten. Die Beantragung des alleinigen Sorgerechts in der
Ukraine dauere ca. 3 bis 6 Monate und es sei für alle Beteiligten unzumutbar, so lange
zu warten.
Nachdem der Beigeladene die erforderliche Zustimmung verweigert hatte, lehnte die
Deutsche Botschaft in Kiew den Antrag der Klägerin zu 2) mit Bescheid vom 29. Mai
2009 im Wesentlichen mit der Begründung ab, die Mutter der Klägerin zu 2) habe nicht
das erforderliche alleinige Sorgerecht und eine besondere Härte sei auch nicht
erkennbar.
Mit der am 17. Juni 2009 erhobenen Klage hatten die Klägerinnen zunächst beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides der Deutschen Botschaft in Kiew zu
verpflichten, der Klägerin zu 2) ein Visum zu erteilen und haben vorgetragen, die
Botschaft habe ihre Beratungspflicht verletzt, weil die Klägerinnen in dem Merkblatt zur
Visumbeantragung nicht auf die Notwendigkeit des alleinigen Sorgerechts der Klägerin
zu 1) hingewiesen worden seien und außerdem liege ein atypischer Fall vor, da die
Klägerin zu 1) auch ein deutsches Kind habe, so dass ihr die Herstellung der familiären
Lebensgemeinschaft mit der Klägerin zu 2) in der Ukraine nicht zumutbar sei.
Nachdem mit Beschluss des Rajongerichts S_____ vom 4. November 2009 das alleinige
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Nachdem mit Beschluss des Rajongerichts S_____ vom 4. November 2009 das alleinige
Sorgerecht für die Klägerin zu 2) auf die Klägerin zu 1) übertragen worden ist und die
Klägerinnen die beglaubigten Kopien nebst Übersetzung am 15. April 2010 beim
Verwaltungsgericht Berlin eingereicht haben, hat die Beklagte mit Schriftsatz vom 17.
Mai 2010 erklärt, dass die Botschaft in Kiew zur Erteilung des Visums zum
Kindernachzug ermächtigt worden sei.
Die Klägerinnen verfolgen nach der Erteilung des Visums ihr Begehren durch eine
Fortsetzungsfeststellungsklage weiter und sind der Auffassung, dass sie ein berechtigtes
Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides
hätten, da die finanziellen Einbußen wegen des entgangenen Kindergeldes und der
Kosten der doppelten Haushaltsführung im Wege der Amtshaftungsklage geltend
gemacht werden sollen.
Die Klägerinnen beantragen,
festzustellen, dass der Bescheid der Deutschen Botschaft in Kiew vom 5. Juni
2009 rechtswidrig war.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte ist der Ansicht, dass die gesetzlichen Voraussetzungen des
Kindernachzuges erst durch die Übertragung des alleinigen Sorgerechts auf die Klägerin
zu 1) im Laufe des Verwaltungsstreitverfahrens erfüllt worden seien.
Der Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.
Die Kammer hat den Rechtsstreit gem. § 6 Abs. 1 VwGO mit Beschluss vom 20.
September 2010 auf die Berichterstatterin als Einzelrichterin zur Entscheidung
übertragen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte
und den Verwaltungsvorgang der Beklagten und des Beigeladenen, die vorgelegen
haben und Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen sind, verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Entscheidung konnte trotz der Abwesenheit der Vertreter der Beklagten und des
Beigeladenen ergehen, da sie auf diese Rechtsfolge mit der Ladung gem. § 102 Abs. 2
VwGO hingewiesen worden sind.
Die nach der durch die Erteilung des begehrten Visums eingetretenen Erledigung des
ursprünglichen Klagebegehrens als Fortsetzungsfeststellungsklage (§ 113 Abs. 1 Satz 4
VwGO) zulässige Klage ist unbegründet. Der Bescheid der Deutschen Botschaft in Kiew
vom 29. Mai 2009 (die Klägerinnen meinten trotz des im Klageantrag genannten
anderen Datums ersichtlich diesen Bescheid) war rechtmäßig.
Die Klage ist zulässig, da die Erledigung nach Klageerhebung eingetreten ist und das von
den Klägerinnen geltend gemachte Fortsetzungsfeststellungsinteresse wegen der
Präjudizialität der Entscheidung für Schadensersatz- oder Entschädigungsansprüchen
zumindest nicht von vornherein offensichtlich aussichtslos, d.h. ohne eine ins Einzelne
gehende Prüfung unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt als möglich erscheint (vgl.
Kopp/Schenke, VwGO, 16. Auflage, zu § 113 VwGO Rn. 136). Denn die von den
Klägerinnen geltend gemachten finanziellen Nachteile durch die spätere Einreise der
Klägerin zu 2) nach Deutschland sind jedenfalls mit dem Hinweis auf das entgangene
Kindergeld (noch) hinreichend konkret benannt und die Frage, ob das begehrte Visum
wegen einer besonderen Härte gem. § 32 Abs. 4 AufenthG hätte auch ohne die
Sorgerechtsübertragung erteilt werden müssen, ohne eine Prüfung des Einzelfalles nicht
beantwortet werden kann.
Die Klage ist jedoch unbegründet. Die Klägerin zu 2) hatte vor der Übertragung des
alleinigen Sorgerechts auf die Klägerin zu 1) keinen Anspruch auf das begehrte Visum
zum Kindernachzug.
Einem Anspruch nach § 32 Abs. 3 AufenthG stand entgegen, dass bis zur Entscheidung
des ukrainischen Familiengerichts vom 4. November 2009 (in Kraft getreten am 16.
November 2009) über die Entziehung des elterlichen Sorgerechts des Vaters der
Klägerin zu 2) das Sorgerecht der Klägerin zu 1) nicht den von der Rechtsprechung
erforderlichen, dem alleinigen Sorgerecht entsprechenden Umfang hatte (vgl. st. Rspr.
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erforderlichen, dem alleinigen Sorgerecht entsprechenden Umfang hatte (vgl. st. Rspr.
des BVerwG, Urt. vom 7. April 2009 - 1 C 17/08 -; sowie Urt. vom 1. Dezember 2009 - 1
C 32/08 - beide zitiert nach juris).
Die Voraussetzungen einer besonderen Härte gem. § 32 Abs. 4 AufenthG waren auch
nicht gegeben. Der Begriff der besonderen Härte ist ebenso auszulegen wie der
entsprechende, bereits in § 20 Abs. 4 Nr. 2 AuslG 1990 verwandte Begriff (BVerwG, Urt.
v. 26.08.2008 - 1 C 32.07 -). Die Härteklausel des § 32 Abs. 4 AufenthG erfordert u.a. die
Prüfung, ob nach den Gegebenheiten des Einzelfalls das Interesse des minderjährigen
Kindes und des im Bundesgebiet lebenden Elternteils an einem Zusammenleben im
Bundesgebiet deswegen vorrangig ist, weil sich die Lebensumstände wesentlich
geändert haben, die das Verbleiben des Kindes im Heimatland bisher ermöglicht haben,
und weil dem Elternteil eine Rückkehr in das Heimatland gegenwärtig nicht zumutbar ist.
Grundvoraussetzung für die Annahme einer besonderen Härte ist demzufolge der
Eintritt eines Umstands, den die Eltern bei ihrer früheren Entscheidung, das Kind nicht
nach Deutschland nachzuholen, nicht in Rechnung stellen konnten (vgl. BVerwG,
Beschluss v. 24.10.1996 - 1 B 180/96 - juris). Keine besondere Härte liegt vor, wenn die
bisherigen Betreuungspersonen (etwa die Großeltern des Kindes) nicht mehr zur
Verfügung stehen (GK-AuslR, Band 1, § 20 AuslG, Rdnr. 103; Sennekamp, HTK-AuslR / §
32 AufenthG / zu Abs. 4 09/2010 Nr.2.3.).
Daran gemessen lag eine besondere Härte bereits deswegen nicht vor, weil es nicht um
die Frage ging, ob ein dauerhafter Verbleib in der Ukraine der Klägerin zu 2) zumutbar
ist, sondern lediglich darum, ob ein weiterer Verbleib bis zum Abschluss des
Sorgerechtsübertragungsverfahrens, also für weitere 3 bis 6 Monate zumutbar ist. Dies
war der Fall, insbesondere da die Klägerin zu 1) und der Stiefvater der Klägerin zu 2)
nach ihrem eigenen Vorbringen bei der Ausreise der Klägerin zu 1) selbst entschieden
haben, dass die Klägerin zu 2) zunächst (zur Beendigung der Schule) in der Ukraine
verbleiben sollte. Zwischen der Ausreise der Klägerin zu 1) nach Deutschland im Mai
2008 und der Beantragung des Visums für die Klägerin zu 2) am 15. April 2009 liegt fast
ein Jahr. Es ist daher nicht nachvollziehbar, dass es der Klägerin zu 2) zwar zumutbar
gewesen sein soll, für 1 Jahr in der Ukraine zu verbleiben, nicht aber für weitere 3 bis 6
Monate. Gründe, für eine erhebliche Änderung ihrer Betreuungssituation sprächen, sind
nicht substantiiert vorgetragen worden. Der pauschale Hinweis darauf, dass die
Großeltern seit April 2009 weder gesundheitlich noch finanziell dazu in der Lage seien,
reicht dafür nicht aus. Eine Erkrankung der Großeltern ist nicht mit ärztlichen Attesten
belegt worden und eine finanzielle Unterstützung wäre auch von Deutschland aus
möglich gewesen. Darüber hinaus lebten nach den Angaben der Klägerinnen in der
Kurzbefragung noch weitere Verwandte (Onkel, Tante und Cousine) in S_____ und es ist
nicht vorgetragen worden, dass es nicht möglich gewesen wäre, die Betreuung der
Klägerin zu 2) für weitere 3 bis 6 Monate ggf. durch die Einbeziehung dieser Verwandten
sicherzustellen.
Eine besondere Härte i.S.d. § 32 abs. 4 AufenthG ergibt sich nicht aus der von den
Klägerinnen geltend gemachten Verletzung der Hinweispflichten der Botschaft. Es ist
zwar zutreffend, dass das von den Klägerinnen zur Akte gereichte Merkblatt der
Deutschen Botschaft in Kiew zum Kindernachzug (Stand: Juli 2009) nicht ausdrücklich
darauf hinweist, dass bei gemeinsamen Sorgerecht der Eltern eine
Einverständniserklärung des anderen Elternteils die Sorgerechtsübertragung nicht
ersetzt und ein Nachzug in diesen Fällen nur beim Vorliegen einer besonderen Härte
möglich ist. Das Merkblatt wurde seitdem aktualisiert und enthält in der Fassung von Juli
2010 nunmehr den folgenden zusätzlichen Hinweis für die Einverständniserklärung bei
Eltern mit gemeinsamem Sorgerecht: „falls der Nachzug nur zu einem Elternteil erfolgen
soll und der gerichtliche Sorgerechtsentzug nicht möglich ist“ (vgl. ). Es kann jedoch
dahingestellt bleiben, ob die alte Fassung des Merkblattes einen Verstoß gegen die in §
82 Abs. 3 AufenthG normierte Hinweispflicht darstellt, denn selbst ein Verstoß würde nur
dazu führen, dass dann die Versäumung einer nach § 82 Abs. 1 Satz 2 AufenthG
gesetzten Frist für die Geltendmachung günstiger Umstände und für die Vorlage von
Nachweisen nicht die Rechtsfolge nach § 82 Abs. 1 Satz 4 AufenthG auslöst (Zeitler,
HTK-AuslR / § 82 AufenthG / Abs. 3 02/2010 m.w.N.). Eine möglicherweise entstandene
Fehlvorstellung über die für die Visumerteilung erforderlichen Voraussetzungen berührt
jedoch nicht die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides, denn sie führt nicht
dazu, dass auf das Erfordernis des alleinigen Sorgerechts hätte wegen der Formulierung
des Merkblattes verzichtet werden müssen.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO. Die Entscheidung
über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711
ZPO.
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