Urteil des VG Berlin vom 12.04.2010

VG Berlin: beihilfe, anspruch auf bewilligung, ausschluss, stationäre behandlung, krankenversicherung, verordnung, ermächtigung, pflegebedürftigkeit, versicherungsvertragsgesetz, behörde

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Gericht:
VG Berlin 5. Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
5 K 219.10
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
Art 80 Abs 1 S 2 GG, Art 64 Abs
1 S 2 Verf BE, § 76 BG BE, § 80
BGB, § 10 Abs 2 BBhV
Beihilferecht: völliger Ausschluss der Beihilfe bei fehlendem
Krankenversicherungsschutz
Leitsatz
Der völlige Ausschluss der Beihilfe bei fehlendem Nachweis eines
Krankenversicherungsschutzes durch Verordnung (§ 10 Abs. 2 Bundesbeihilfeverordnung und
§ 10 Abs. 2 Landesbeihilfeverordnung Berlin) ist mangels einer Ermächtigungsgrundlage im
Gesetz unwirksam
Tenor
Der Bescheid des Landesverwaltungsamtes Berlin vom 12. April 2010 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides derselben Behörde vom 1. Juli 2010 wird aufgehoben.
Der Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger auf seinen Antrag vom 30. März 2010 hin
Beihilfe zu gewähren, ohne von ihm den Nachweis einer Krankenversicherung für sich
und seine Ehefrau zu verlangen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die
Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des beizutreibenden Betrages
abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe
leistet.
Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
Der im Jahr 1930 geborene Kläger war Beamter auf Lebenszeit im Dienst des Beklagten.
Zuletzt war er im Amt eines Steuerinspektors (Besoldungsgruppe A 9) tätig. Er ist im
Ruhestand. Grundsätzlich ist er beihilfeberechtigt mit einem Bemessungssatz von 70
v.H. für sich und seine Ehefrau. Der Kläger und seine Ehefrau sind im Krankheitsfall
weder für eine ambulante noch für eine stationäre Behandlung in der gesetzlichen oder
in einer privaten Krankenversicherung versichert.
Mit Antrag vom 30. März 2010 machte der Kläger Beihilfe geltend für Aufwendungen
betreffend sich und seine Ehefrau, die auf Rechnungen bzw. Verordnungen mit den
Daten 5. Mai 2009 bis 26. Februar 2010 beruhten. Die Gesamtsumme der
Aufwendungen belief sich auf 5.405,83 €. Für die einzelnen Positionen wird auf den
Antrag vom 30. Mai 2010 Bezug genommen. Der Kläger geht davon aus, dass ihm
Beihilfe in Höhe von 70 v.H. des Rechnungsbetrages abzüglich der Eigenbehalte zusteht.
Mit Bescheid vom 12. April 2010 wies das Landesverwaltungsamt Berlin den
Beihilfeantrag zurück. Es berief sich auf den gleichlautend neu eingefügten § 10 Abs. 2
der Bundesbeihilfeverordnung bzw. der Landesbeihilfeverordnung. Beihilfe könne danach
nur bewilligt werden, wenn der Kläger den nunmehr obligatorischen Nachweis einer
Krankenversicherung für sich und seine Ehefrau erbringe. Hintergrund sei die zum 1.
Januar 2009 durch § 193 Abs. 3 des Versicherungsvertragsgesetzes eingeführte
allgemeine Krankenversicherungspflicht.
Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein. Während seiner aktiven Dienstzeit als auch
zu Beginn seiner Pensionierung sei er beihilfeberechtigt gewesen, ohne dass es des
Abschlusses einer privaten Krankenversicherung bedurft hätte.
Mit Bescheid vom 1. Juli 2010 wies das Landesverwaltungsamt den Widerspruch zurück.
Sowohl die ab 14. Februar 2009 anzuwendende Bundesbeihilfeverordnung als auch die
ab 1. Oktober 2009 anzuwendende Landesbeihilfeverordnung erforderten den Nachweis
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ab 1. Oktober 2009 anzuwendende Landesbeihilfeverordnung erforderten den Nachweis
der Krankenversicherung. Es sei ein besonderes Anliegen der Bundesregierung, alle
Bürgerinnen und Bürger im Krankheitsfalle umfassend abzusichern. Es obliege der
Fürsorgepflicht des Dienstherrn, den Beihilfeberechtigten dazu anzuhalten, selbst für
einen ausreichenden Krankenversicherungsschutz zu sorgen. Gleiches gebiete auch die
Verpflichtung zu wirtschaftlicher und sparsamer Haushaltsführung.
Der Kläger hat am 27. Juli 2010 Klage erhoben. Er räumt ein, dass die Entscheidung über
die Beihilfe den anwendbaren Verordnungen entspricht, sieht aber weder eine
ausreichende Ermächtigung noch eine Kompetenz des Beklagten zum Erlass von
Sanktionen zur Durchsetzung der Versicherungspflicht. Sanktionen seien im
Versicherungsvertragsgesetz selbst geregelt. Er habe nie eine Krankenversicherung
benötigt. Müsste er diese nunmehr abschließen, belaste ihn auch ein Basistarif mit
Eigenbeteiligung bei einer Versorgung von 1.917,47 € nicht unerheblich. Der Kläger ist
der Ansicht, er könne 30 v.H. der Kosten auch für einen längeren Krankenhausaufenthalt
aus den gesparten Krankenversicherungsbeiträgen bestreiten. Er vertraue zudem
darauf, dass er und seine Frau gesund blieben und öffentlichen Hilfeträgern nie zur Last
fielen.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid des Landesverwaltungsamtes Berlin vom 12. April 2010 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheides derselben Behörde vom 1. Juli 2010 aufzuheben
und den Beklagten zu verpflichten, ihm auf seinen Antrag vom 30. März 2010 hin Beihilfe
zu gewähren, ohne von ihm den Nachweis einer Krankenversicherung für sich und seine
Ehefrau zu verlangen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er verweist auf die Bundes- bzw. die Landesbeihilfeverordnung. Anderweitige Gründe, die
einer Beihilfegewährung insgesamt entgegenstünden, macht er nicht geltend.
Die Personalakte und der Beihilfevorgang haben vorgelegen und sind Gegenstand der
Entscheidungsfindung gewesen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig und begründet. Der angegriffene Bescheid des
Landesverwaltungsamtes vom 12. April in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom
1. Juli 2010 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Er hat Anspruch
auf Bewilligung der ihm verweigerten Beihilfe. Sie kann ihm auf der Grundlage der
anzuwendenden Beihilfevorschriften nicht deshalb verweigert werden, weil er für sich und
seine Ehefrau eine Krankenversicherung nicht nachgewiesen hat (vgl. § 113 Abs. 5 der
Verwaltungsgerichtsordnung).
Der Anspruch des Klägers auf Beihilfe ergibt sich für den hier relevanten Zeitraum für
Aufwendungen mit Rechnungsdaten vom 5. Mai 2009 bis 26. Februar 2010 aus § 76 des
Landesbeamtengesetzes in der Fassung des Dienstrechtsänderungsgesetzes vom 19.
März 2009 (GVBl. 2009, S. 70 ff.). In § 76 Abs. 1 bis 10 des Landesbeamtengesetzes wird
der Anspruch auf Beihilfe nicht für den Fall ausgeschlossen, dass der Kläger einen
Krankenversicherungsschutz nicht nachweist. Allerdings werden gemäß § 76 Abs. 11 des
Landesbeamtengesetzes in Verbindung mit Art. XIII § 5 des
Dienstrechtsänderungsgesetzes vom 19. März 2009 die Einzelheiten der
Beihilfegewährung durch Verordnung geregelt. Für die Zeit vom 1. April 2009 bis 30.
September 2009 finden danach die für die unmittelbaren Bundesbeamten sowie die
Versorgungsempfänger des Bundes für die Gewährung von Beihilfen in Krankheits-,
Pflege- und Geburtsfällen jeweils geltenden Vorschriften nach Maßgabe des § 76 Abs. 1
bis 10 des Landesbeamtengesetzes in der seit Inkrafttreten dieses Gesetzes geltenden
Fassung Anwendung. Dabei handelt es sich um die Bundesbeihilfeverordnung vom 13.
Februar 2009 (BGBl. I 2009, S. 326 ff.). Mit Inkrafttreten der Landesbeihilfeverordnung
des Landes Berlin vom 8. September 2009 (GVBl. 2009, S. 436 ff.) am 1. Oktober 2009
(vgl. deren § 59) gilt diese. Beide Verordnungen regeln gleichlautend in § 10 Abs. 2 BBhV
und LBhVO, dass einen Anspruch auf Beihilfe nur der hat, wer seinen
Krankenversicherungsschutz und den seiner berücksichtigungsfähigen Angehörigen
einschließlich abgeschlossener Wahltarife nach § 53 des Fünften Buches
Sozialgesetzbuch nachweist.
Diese dem Anspruch des Klägers nach ihrem Wortlaut entgegenstehenden Regelungen
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Diese dem Anspruch des Klägers nach ihrem Wortlaut entgegenstehenden Regelungen
sind unwirksam. Die Verordnungen stützen sich insoweit nicht auf eine
Ermächtigungsgrundlage in einem Parlamentsgesetz, das nach Art. 64 Abs. 1 Satz 2 der
Verfassung von Berlin bzw. nach Art. 80 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes Inhalt, Zweck
und Ausmaß der erteilten Ermächtigung bestimmen muss. Das
Bundesverwaltungsgericht führte in seinem Urteil vom 17. Juni 2004 (BVerwGE 121, 103,
110 m.w.N.) zu den ehemaligen Beihilfevorschriften des Bundes aus, dass bei der
näheren Ausgestaltung der Fürsorge im Falle von Krankheit oder Pflegebedürftigkeit des
Beamten und seiner Angehörigen aufgrund des Gesetzesvorbehaltes zumindest die
tragenden Strukturprinzipien gesetzlich zu regeln seien. Der Gesetzgeber selbst habe in
der Bandbreite seiner verfassungsrechtlichen Möglichkeiten das Leistungssystem zu
bestimmen, das dem Beamten und seiner Familie Schutz im Falle von Krankheit und
Pflegebedürftigkeit biete, habe festzulegen, welche "Risiken" erfasst würden, für welche
Personen Leistungen beansprucht werden könnten, nach welchen Grundsätzen
Leistungen erbracht und bemessen oder ausgeschlossen würden und welche
zweckidentischen Leistungen und Berechtigungen Vorrang hätten.
Nach diesen von der Kammer geteilten Maßgaben hätte das Parlamentsgesetz zur
Möglichkeit eines völligen Ausschlusses der Beihilfe bei fehlendem
Krankenversicherungsschutz durch Verordnung konkret ermächtigen müssen. Die
Verordnungsermächtigung in § 76 Abs. 11 Satz 2 des Landesbeamtengesetzes erfasst
auch bei weiter Auslegung nicht diesen Fall. Der Verordnungsgeber darf danach den
Ausschluss von Arznei-, Heil- und Hilfsmitteln von der Beihilfe regeln. Dies bezieht sich
offensichtlich nicht auf einen völligen Ausschluss der Beihilfe, sondern nur auf einzelne
Arten von Aufwendungen. § 76 Abs. 11 Satz 1 des Landesbeamtengesetzes ermächtigt
nur pauschal zur Regelung der Einzelheiten der Beihilfegewährung durch Verordnung.
Die Möglichkeit zum völligen Ausschluss der Beihilfe bei fehlendem
Krankenversicherungsschutz wird auch nicht in den Absätzen 1 bis 10 der Norm
angedeutet. Des Weiteren ergibt sich auch nicht die Möglichkeit des Ausschlusses – für
den ersten Zeitabschnitt – aus Art. XIII § 5 des Dienstrechtsänderungsgesetzes in
Verbindung mit der Ermächtigungsgrundlage im Bundesbeamtengesetz für die
Bundesbeihilfeverordnung. § 80 Abs. 4 des Bundesbeamtengesetzes wie auch die
vorhergehenden Absätze sehen den völligen oder teilweisen Ausschluss von Arznei-,
Heil- und Hilfsmitteln, nicht hingegen den hier umstrittenen Ausschluss vor. Schließlich
lässt sich nicht eine stillschweigende Ermächtigungsgrundlage aus den Vorschriften über
die Versicherungspflicht im Versicherungsvertragsgesetz herleiten. Zum einen erlaubt
Art. 80 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes gerade nicht eine ungeschriebene
Verordnungskompetenz, zum anderen könnte der Bundesgesetzgeber dem für die
beamtenrechtliche Fürsorgeregelung zuständigen Landesgesetzgeber keine
kompetenzwidrigen Vorgaben machen.
Die Kammer braucht nicht zu entscheiden, ob es dem Gesetzgeber verfassungsrechtlich
verwehrt wäre, den völligen Ausschluss der Beihilfe bei fehlendem
Krankenversicherungsschutz selbst einzuführen bzw. den Verordnungsgeber dazu
wirksam zu ermächtigen (vgl. in dieser Richtung die Ausführungen des VGH Baden-
Württemberg, Urteil v. 28. Oktober 2010 – 10 S 2821/09 – Juris, zur ähnlichen Regelung
im baden-württembergischen Beihilferecht).
Der Beklagte trägt gemäß § 154 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung die Kosten des
Verfahrens. Die Entscheidungen über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruhen auf § 167
der Verwaltungsgerichtsordnung in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 der
Zivilprozessordnung. Die Berufungszulassung erfolgt gemäß §§ 124 a Abs. 1 Satz 1, 124
Abs. 2 Nr. 3 der Verwaltungsgerichtsordnung wegen grundsätzlicher Bedeutung.
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