Urteil des VerfG Nordrhein-Westfalen vom 06.07.1999

VerfG Nordrhein-Westfalen: sperrklausel, politische partei, chancengleichheit, verteilung der sitze, wahlrecht, zahl, befund, einzug, bayern, niedersachsen

Verfassungsgerichtshof NRW, VerfGH 14/98, VerfGH 15/98
Datum:
06.07.1999
Gericht:
Verfassungsgerichtshof NRW
Spruchkörper:
Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
VerfGH 14/98, VerfGH 15/98
Leitsätze:
1.
Soweit die Funktionsfähigkeit der Kommunalvertretungen gefährdet ist,
darf der Gesetzgeber sie durch eine Sperrklausel sichern.
2.
a) Die Annahme einer drohenden Funktionsunfähigkeit stellt eine
Prognose dar, für die der Gesetzgeber alle Gesichtspunkte heranziehen
und abwägen muß, die in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht für die
Einschätzung der Erforderlichkeit einer Sperrklausel erheblich sind.
b) Für eine hinreichende Prognose reicht nicht aus, daß bei abstrakter
Betrachtung die theoretische Möglichkeit nicht auszuschließen ist, der
Wegfall einer Sperrklausel könne zum Einzug zahlreicher kleiner
Parteien und Wählervereinigungen in die Kommunalvertretungen führen
und dadurch die Bildung der notwendigen Mehrheiten für
Beschlußfassungen und Wahlen erschweren oder gar verhindern.
3.
Der nordrhein-westfälische Gesetzgeber hat bei der Verabschiedung
des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Kommunalwahlgesetzes seine
Entscheidung, die Sperrklausel im nordrhein-westfälischen
Kommunalwahlgesetz nicht aufzuheben oder abzumildern, nicht
hinreichend begründet.
Tenor:
Der Antragsgegner hat das Recht der Antragstellerinnen auf
Chancengleichheit als politische Parteien aus Art. 21 Abs. 1 GG, Art. 1
Abs. 1 LV und auf Gleichheit der Wahl aus Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG, Art.
1 Abs. 1, Art. 2 LV dadurch verletzt, daß er bei der Änderung des
Kommunalwahlgesetzes durch das Zweite Gesetz zur Änderung des
Kommunalwahlgesetzes vom 12. Mai 1998 (GV. NRW. S. 384) die
Sperrklausel in § 33 Abs. 1 Sätze 2 und 3 des Kommunalwahlgesetzes
nicht aufgehoben oder abgemildert hat.
Die notwendigen Auslagen der Antragstellerinnen sind vom Land
Nordrhein-Westfalen zu erstatten.
G r ü n d e :
1
A.
2
Die Antragstellerinnen wenden sich im Organstreitverfahren dagegen, daß der
Antragsgegner (...) es unterlassen hat, bei der Änderung des Kommunalwahlgesetzes
im Mai 1998 die 5 v.H.-Sperrklausel aufzuheben oder abzumildern.
3
I.
4
1.
vorgeschalteter Mehrheitswahl und ausgleichender Verhältniswahl nach Reservelisten
im ganzen Wahlgebiet zugrunde.
5
Bereits seit dem Gemeindewahlgesetz vom 6. April 1948 (GV. NRW. S. 185) sind von
dem Verhältnisausgleich Reservelisten ausgeschlossen, die weniger als 5-vom-Hundert
der Gesamtstimmenzahl aller Parteien erhalten haben. Zu der entsprechenden
Sperrklausel in § 30 Abs. 6 KWahlG in der Fassung vom 12. Juni 1954 (GV. NRW. S.
226) stellte das Bundesverfassungsgericht durch Urteil vom 23. Januar 1957 (BVerfGE
6, 104) fest, die Regelung sei mit dem Grundgesetz vereinbar. Die 5-v.H.-Sperrklausel
wurde in der Folgezeit bei Novellierungen des Kommunalwahlgesetzes beibehalten.
6
Durch das Gesetz zur Änderung der Kommunalverfassung vom 17. Mai 1994 (GV.
NRW. S. 270) wurden sowohl die Ämter des Bürgermeisters und des Gemeindedirektors
als auch die des Landrats und des Oberkreisdirektors zusammengefaßt. Ihre Direktwahl
wurde eingeführt. Durch Art. V dieses Gesetzes wurde das Kommunalwahlgesetz
geändert. Die Sperrklausel, nunmehr § 33 Abs. 1 KWahlG, blieb dabei unverändert.
7
2.
(VerfGH 7/94). Sie war der Ansicht, die 5-v.H.-Sperrklausel sei im Laufe der Zeit
verfassungswidrig geworden; der Antragsgegner hätte sie aufheben, zumindest
abmildern, wenigstens aber überprüfen müssen.
8
Durch Urteil vom 29. September 1994 stellte der Verfassungsgerichtshof fest, der
Antragsgegner habe das Recht der Antragstellerin auf Gleichheit der Wahl und
Chancengleichheit als politische Partei dadurch unmittelbar gefährdet, daß er es
unterlassen habe, bei der Änderung des Kommunalwahlgesetzes durch das Gesetz zur
Änderung der Kommunalwahlverfassung die unveränderte Aufrechterhaltung der
Sperrklausel in § 33 Abs. 1 KWahlG mit Blick auf die Kommunalwahlen von 1999 zu
überprüfen (OVGE 44, 301 = NWVBl. 1994, 453).
9
3.
10
Gesetzes zur Änderung des Kommunalwahlgesetzes ein (Drucksache 12/2455). Das
aktive Wahlalter sollte auf 16 Jahre herabgesetzt, das Wahlrecht für Bürger aus
Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft eingeführt und die Berechnung der
Sitze nach der Reserveliste von dem Höchstzahlverfahren d'Hondt auf das Verfahren
Hare-Niemeyer umgestellt werden.
Die Begründung des Gesetzentwurfs enthält einen Anhang "Überprüfung der 5 v.H.-
Sperrklausel im Kommunalwahlrecht". Dort sind unter anderem die Ergebnisse einer
Umfrage bei den Innenministerien der Länder zu Sperrklauseln im Kommunalwahlrecht
und zu den Erfahrungen mit ihrem Fehlen wiedergegeben. Die Begründung des
Gesetzentwurfs vermerkt hierzu: Diese Erhebung habe keine überzeugenden Gründe
für oder gegen die Sperrklausel in Nordrhein-Westfalen erbracht.
11
Der Ausschuß für Kommunalpolitik veranstaltete eine öffentliche Anhörung zu dem
Entwurf. Neben Rechtswissenschaftlern äußerten sich dabei Vertreter des Städtetages
Nordrhein-Westfalen, des Nordrhein-westfälischen Städte- und Gemeindebundes und
des Landkreistages Nordrhein-Westfalen (Ausschußprotokoll 12/774). Der Ausschuß
faßte am Ende der Beratungen mehrheitlich den Beschluß, die 5 v.H.-Sperrklausel im
Kommunalwahlrecht beizubehalten.
12
Am 6. Mai 1998 verabschiedete der Landtag in zweiter Lesung das Zweite Gesetz zur
Änderung des Kommunalwahlgesetzes. In einer gesonderten Abstimmung beschloß er,
die 5 v.H.-Sperrklausel beizubehalten (Plenarprotokoll 12/84).
13
Die einschlägige Vorschrift des Kommunalwahlgesetzes lautet in der Fassung der
Bekanntmachung vom 30. Juni 1998 (GV. NRW. S. 454):
14
§ 33
15
(1) Der Wahlausschuß zählt zunächst die für alle Bewerber abgegebenen
gültigen Stimmen, nach Parteien, Wählergruppen und Einzelbewerbern
getrennt, zusammen (Gesamtstimmenzahl). Er stellt dann fest, welche
Parteien und Wählergruppen weniger als 5 vom Hundert der
Gesamtstimmenzahl erhalten haben. Diese Parteien und Wählergruppen
bleiben bei der Sitzverteilung unberücksichtigt...
16
II.
17
Die Antragstellerinnen haben jeweils am 5. November 1998 das Organstreitverfahren
eingeleitet.
18
1.
19
festzustellen, daß der Antragsgegner dadurch ihr Recht auf chancengleiche
Teilnahme an den Kommunalwahlen gemäß Art. 1 Abs. 1, Art. 4 Abs. 1 LV in
Verbindung mit Art. 21 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 und Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG
verletzt hat, daß er es unterlassen hat, bei der Änderung des
Kommunalwahlgesetzes durch das Zweite Gesetz zur Änderung des
Kommunalwahlgesetzes vom 12. Mai 1998, verkündet am 4. Juni 1998 (GV.
NRW. S. 384), die verfassungswidrige Sperrklausel des § 33 Abs. 1 Satz 2
und 3 KWahlG aufzuheben,
20
hilfsweise,
21
festzustellen, daß der Antragsgegner dadurch ihr Recht auf chancengleiche
Teilnahme an den Kommunalwahlen gemäß Art. 1 Abs. 1, Art. 4 Abs. 1 LV
i.V.m. Art. 21 Abs. 1, 3 Abs. 1 und 28 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt hat, daß er es
unterlassen hat, bei der Änderung des Kommunalwahlgesetzes durch das
Zweite Gesetz zur Änderung des Kommunalwahlgesetzes vom 12. Mai 1998,
verkündet am 4. Juni 1998 (GV. NRW. S. 384), die verfassungswidrige
Sperrklausel in § 33 Abs. 1 Satz 2 und 3 KWahlG abzumildern.
22
Sie macht geltend:
23
Die 5 v.H.-Sperrklausel beeinträchtige die Wahlrechtsgleichheit und die
Chancengleichheit der Parteien. Diese Ungleichbehandlung sei nicht durch einen
zwingenden Grund gerechtfertigt. Die Abschaffung der Sperrklausel werde die
Funktionsfähigkeit der Kommunalvertretungen nicht beeinträchtigen. Das belegten die
langjährigen positiven Erfahrungen der Länder, die in ihrem Kommunalwahlrecht auf
eine Sperrklausel verzichteten. Nach dem Ergebnis der Länderumfrage des
Innenministeriums seien in diesen Ländern keine Probleme bekannt geworden.
24
Nach seiner Reform entspreche das nordrhein-westfälische Gemeindeverfassungsrecht
weitgehend demjenigen der Länder, die keine Sperrklauseln im Kommunalwahlrecht
kennten. Zwar gehe die nordrhein-westfälische Gemeindeverfassung von der
grundsätzlichen Allzuständigkeit des Gemeinderats aus. Der Rat dürfe sich auch mit
den Geschäften der laufenden Verwaltung befassen. Jedoch stehe das Rückholrecht für
diese Geschäfte nur dem Rat als solchem zu. Entscheidend sei die Ausschußarbeit.
Kleinere Fraktionen hätten keinen Anspruch, in allen Ausschüssen vertreten zu sein.
Zwar bleibe die Gefahr, daß Entscheidungsprozesse von den Fraktionen und
Ausschüssen vermehrt in die Räte getragen würden, weil kleinere Gruppen oder
Einzelvertreter erst dort zu Wort kommen könnten. Dem könne der Rat aber durch die
Geschäftsordnung entgegentreten.
25
Die Verwaltung des Kreises liege bei dem Kreistag, dem Kreisausschuß und dem
Landrat. Die Führung der Geschäfte der laufenden Verwaltung obliege unentziehbar
dem Landrat. Eine starke Stellung komme dem Kreisausschuß zu. Wegen dessen
geringer Größe hätten kleine Fraktionen keine Chance, dort vertreten zu sein. Das
Gewicht des Kreistages sei geringer als dasjenige des Gemeinderates.
26
Die Wahl des Hauptverwaltungsbeamten durch die Kommunalvertretung sei auf
Ausnahmefälle beschränkt und auch dann gesichert, wenn dort kleinere Gruppen
repräsentiert seien. Jedenfalls in der Stichwahl sei gewählt, wer die meisten Stimmen
auf sich vereinige. Die Abwahl eines Hauptverwaltungsbeamten erfordere eine Zwei-
Drittel-Mehrheit. Dadurch solle seine Position gerade gestärkt werden. Deshalb sei
unerheblich, wenn sich diese Mehrheit nach Wegfall der Sperrklausel schwerer
erreichen lassen sollte.
27
Den Gemeinderäten und Kreistagen kämen in Nordrhein-Westfalen keine
weitergehenden oder andersartigen Befugnisse zu als den Kommunalvertretungen in
anderen Ländern. In allen Ländern habe sich in den letzten Jahren bei den Aufgaben
der Kommunalvertretungen eine ähnliche Entwicklung vollzogen.
28
Der weitaus größte Teil der kommunalen Einnahmen müsse inzwischen zu Lasten der
freiwilligen Selbstverwaltungsaufgaben für gesetzlich festgelegte Pflichtaufgaben
ausgegeben werden. Dadurch mindere sich für die Volksvertretungen deren
Entscheidungsbedarf. In die gleiche Richtung wirke der Trend, die Erledigung
kommunaler Aufgaben auf besondere Einrichtungen oder Unternehmen der Kommunen
zu übertragen. Weitere Einbußen für die Kommunalvertretungen ergäben sich aus dem
sogenannten neuen Steuerungsmodell.
29
Die Beibehaltung der Sperrklausel lasse sich nicht durch den Gebietszuschnitt der
Gemeinden und Kreise in Nordrhein-Westfalen rechtfertigen. Zwar wachse mit
zunehmender Größe der Entscheidungsbedarf in einer Kommune und damit zugleich
die Belastung der Volksvertreter. Mit dem Wahlrecht habe dies aber nichts zu tun. Der
Wegfall der Sperrklausel ändere weder etwas an der Mitgliederzahl der
Volksvertretungen noch an dem Mehrheitsprinzip. In den anderen Ländern gebe es
ebenfalls große Kommunen. Insgesamt würden in Nordrhein-Westfalen 28 Großstädte,
in den Flächenländern ohne Sperrklausel 37 Großstädte gezählt. Sie kämen problemlos
ohne Sperrklausel aus.
30
Eine Sperrklausel lasse sich nicht mit der Erwägung rechtfertigen, kleinere Parteien
oder Wählergruppen böten nicht die Gewähr dafür, daß in den Kommunalvertretungen
nicht nur singuläre, partielle und temporäre Interessen, sondern die Interessen der
Gesamtheit der Bevölkerung vertreten würden. Dem Staat sei es verwehrt, den
Gemeinwohlbeitrag der Parteien zu bewerten. Das Urteil darüber stehe nur dem Wähler
zu.
31
Es bestehe keine Notwendigkeit, mit Hilfe einer Sperrklausel einer Zersplitterung der
Volksvertretung entgegenzutreten, welche die Erledigung der Aufgaben angeblich
verzögere oder behindere. Eine schwerfälligere Meinungsbildung allein rechtfertige eine
Sperrklausel nicht.
32
Selbst wenn der Gesetzgeber eine Gefährdung der Funktionsfähigkeit der zu
wählenden Organe annehmen dürfte, stünden ihm mildere Mittel zur Verfügung.
Alternative Lösungen zur Sicherung der Funktionsfähigkeit habe er nicht, jedenfalls
nicht ernsthaft, in Betracht gezogen.
33
2.
34
festzustellen, daß der Antragsgegner ihre Rechte auf Gleichheit der Wahl
und Chancengleichheit als politische Partei gemäß Art. 21 Abs. 1 i.V.m. Art.
28 Abs. 1 Satz 2, Art. 3 Abs. 1 GG, Art. 1 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 1 der
Landesverfassung NRW verletzt hat, indem er am 6. Mai 1998 mit der
Verabschiedung des Zweiten Gesetzes zur Änderung des
Kommunalwahlgesetzes beschlossen hat, die 5-Prozent-Sperrklausel im
Kommunalwahlgesetz beizubehalten,
35
hilfsweise,
36
die 5 v.H.-Sperrklausel abzumildern.
37
Sie macht geltend:
38
Die 5 v.H.-Sperrklausel bedürfe zu ihrer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung eines
zwingenden Grundes. Die bloße abstrakte Behauptung eines solchen Grundes durch
den Gesetzgeber reiche nicht aus. Der Antragsgegner habe nicht die Gründe für eine
angeblich zwingende Einschränkung der Wahlrechts- und Chancengleichheit in
Abwägung aller Umstände, insbesondere der Vorgaben des Verfassungsgerichtshofs in
seinem Urteil vom 29. September 1994, konkret und detailliert dargelegt und belegt. Er
habe die Erforderlichkeit der Sperrklausel nicht aus der Struktur oder den konkreten
Bedingungen der Entscheidungsprozesse in den nordrhein-westfälischen Gemeinden
und Kreisen begründet. Er habe keine Vergleiche mit anderen Ländern angestellt,
insbesondere mit solchen ähnlicher Kommunalstruktur wie beispielsweise
Niedersachsen. Der Antragsgegner habe nicht die Kriterien herausgearbeitet, anhand
deren eine Störung der Funktionsfähigkeit der Kommunalvertretungen zu beurteilen sei.
Es fänden sich keine Ausführungen dazu, was Funktionsfähigkeit bedeute, sowie dazu,
ob und in welchem Sinne der Einzug kleinerer Gruppen in die Räte deren
Funktionsfähigkeit beeinträchtigen könne. Daß die Anzahl der Parteien und
Wählergruppen in den Räten sich erhöhe, habe für sich keine Bedeutung.
39
Die Bildung von Mehrheiten werde durch die Abschaffung der Sperrklausel weder
verhindert noch wesentlich erschwert. Für niedersächsische Gemeinden sei dies
offenbar kein Problem. Die großen Parteien kämen in einigen kreisfreien Städten auch
mit wechselnden Mehrheiten zurecht. Sie akzeptierten die dafür notwendigen
Kompromisse. Eine solche Kompromißbereitschaft entspreche dem bürgernahen und
bürgerschaftlichen Charakter der kommunalen Selbstverwaltung. Nicht durchschlagend
sei das weitere Argument, viele neue Gruppierungen würden nicht an
Ausschußsitzungen teilnehmen können. Der Fraktionsstatus werde in vielen Räten
schon an Gruppierungen aus zwei Vertretern vergeben. Für die Verteilung der Sitze in
den Ausschüssen könne diesen Gruppierungen, wie in Niedersachsen, ein
Grundmandat für jeden Ausschuß gewährt werden.
40
3.
41
die Anträge abzulehnen.
42
Er macht geltend: Die Beibehaltung der 5 v.H.-Sperrklausel sei mit der Verfassung
vereinbar.
43
Die gesetzlichen Aufgaben der Räte hätten sich seit der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1957 zwar in vielem geändert; ihr Gewicht
sei aber insgesamt deutlich gestiegen. Unverändert geblieben seien die
Allzuständigkeit des Rates und der Katalog seiner nicht übertragbaren Zuständigkeiten,
ferner sein Rückholrecht für die Geschäfte der laufenden Verwaltung. Eine solche
Regelung finde sich in anderen Gemeindeordnungen nicht.
44
Die Veränderung der Rechtsstellung des Bürgermeisters habe die Zuständigkeiten
zwischen Rat und Verwaltungsspitze verschoben. Der Bürgermeister werde jetzt von
der Bevölkerung auf die Dauer von 5 Jahren gewählt, gekoppelt an die Wahlperiode des
Gemeinderates. Eine solche Koppelung sei in anderen Bundesländern nicht
vorgesehen. Im Gegensatz zu anderen Gemeindeordnungen sehe die nordrhein-
westfälische Regelung die Möglichkeit vor, den Bürgermeister abzuwählen. Das
Initiativrecht für die Abwahl liege beim Rat. Der Bürgermeister sei Dienstvorgesetzter
45
aller Mitarbeiter der Gemeinde. Der Gemeinderat sei ihm als oberster Dienstherr
übergeordnet. In dienstrechtlichen Angelegenheiten sei er Beschwerdeinstanz gegen
Entscheidungen des Bürgermeisters und besitze eigene Entscheidungsbefugnisse.
Angesichts der politischen Repräsentationsaufgaben der Bürgermeister hätten die
Beigeordneten die eigentliche Leitung der Dezernatsarbeit inne. Sie würden
unverändert von den Gemeinderäten gewählt. Diese könnten auch die
Geschäftsbereiche der Beigeordneten bestimmen.
46
Die Aufgaben der Gemeinderäte seien heute quantitativ und qualitativ um ein Vielfaches
gewichtiger und schutzbedürftiger als noch in den fünfziger Jahren. Zahl, Größe und
Struktur der nordrhein-westfälischen Städte und Gemeinden hätten sich seither durch
die kommunale Gebietsreform grundlegend gewandelt. Zwar gebe es auch in anderen
Bundesländern als Folge dortiger Gebietsreformen einige, allerdings eher solitäre
Großstädte. Der großstädtische Ballungsraum Ruhrgebiet sei jedoch nach wie vor
einzigartig. Von besonderem Gewicht seien die mittelfristige Finanzplanung, die
Haushaltsplanung und in vielen Fällen die Beschlußfassung über
Haushaltssicherungskonzepte durch die Räte. Diese hätten ferner die kommunalen
Unternehmen und Einrichtungen zu steuern und zu kontrollieren sowie, soweit es sich
um Unternehmen und Einrichtungen des privaten Rechts handele, den angemessenen
Einfluß der Gemeinde auf die Geschäftspolitik zu sichern, indem sie die Vertreter der
Gemeinde in den Organen und Gremien der Unternehmen und Einrichtungen wählten.
Die Räte seien zudem in immer größerem Umfang Satzungsgeber. Der Erlaß der
Haushaltssatzung sei infolge der kommunalen Finanznot äußerst kompliziert und
verlange vielfach schwierige - auch unpopuläre - Entscheidungen. Neue
Steuerungsmodelle werteten die Tätigkeit der Gemeinderäte auf.
47
Für die Tätigkeit der Kreistage und Kreisausschüsse gelte sinngemäß dasselbe.
48
Die jahrzehntelangen Erfahrungen in den süddeutschen Ländern bestätigten, daß die
kommunalen Räte vielfach in großem Umfang mit Vertretern von Splitterparteien und -
gruppen besetzt seien. Diese belasteten den Beratungs- und Entscheidungsprozeß in
einem Maße, das den Aufgaben und der Arbeit von Gemeinderäten nicht gerecht werde.
49
In der politischen Wirklichkeit liege der Schwerpunkt nicht auf den Ratssitzungen,
sondern auf der Arbeit in den Ausschüssen. Diese bereiteten die Ratssitzungen vor. In
Großstädten seien Tagesordnungen mit 60 bis 80 Punkten in abendlichen
Ratssitzungen abzuhandeln, die zwischen 4 und 8 Zeitstunden dauerten.
Splitterparteien und -gruppen hätten in der Regel Sitz und Stimme nur in den
Gemeinderäten, nicht aber in den Ausschüssen. Ihnen angehörende Ratsmitglieder
entfalteten ihre Ratstätigkeit daher in der Regel nur im Plenum. Sie pflegten, wie
jahrzehntelange Erfahrungen insbesondere aus Bayern und Baden-Württemberg, aber
auch aus Niedersachsen belegten, von ihrem Recht Gebrauch zu machen, zu möglichst
vielen Tagesordnungspunkten das Wort zu ergreifen, Anträge oder Anfragen zu stellen
und Abstimmungen zu verlangen. Diese Verlagerung des Vorklärungs-, Beratungs- und
Informationsprozesses in das Ratsplenum verlängere dessen Sitzungsarbeit in einer
Weise, die nicht selten an die Grenzen der Zumutbarkeit und darüber hinaus reiche.
Über eine bloß schwerfällige Meinungsbildung gehe das weit hinaus.
50
Außerdem erschwerten Splitterparteien und -gruppen die Bildung stabiler Mehrheiten in
den Räten gravierend. Sie verträten vielfach singuläre, partikulare und temporäre
51
Interessen. Andere Ratsgruppierungen "kauften" sich Stimmen bei Splittergruppen
"zusammen". Darunter leide die notwendige Kontinuität der Ratsarbeit. Die
Stadtentwicklungsplanung und die damit zusammenhängende Sektoralplanung der
einzelnen Dezernate erforderten für eine ordnungsgemäße kommunale
Daseinsvorsorge über Jahre hinweg eine dauerhafte Programmatik und beständige
Mehrheiten. Splitterparteien bewirkten hingegen, wenn es auf ihre Stimmen ankomme,
nicht selten wechselnde Mehrheiten, die den Verwaltungsfluß empfindlich hemmen
könnten.
Der Landtag könne sich insoweit auf empirische und prognostische Erkenntnisse und
Erwägungen stützen. Im Landtag seien zahlreiche Kommunalpolitiker tätig, die über
Erfahrungen mit Klein- und Splittergruppen in kommunalen Räten verfügten. Diese
Erfahrungen beruhten zum Teil auf dem Auftreten von Kleingruppen, die die 5 %-Hürde
gerade überschritten hätten, zum Teil auf Kleingruppen unterhalb dieser Größe, die
durch Fraktionsaustritt oder Absplitterungen im Laufe einer Ratsperiode entstanden
seien. Systematische Darstellungen oder repräsentative Erhebungen gebe es allerdings
nicht.
52
Insbesondere die Länderumfrage des nordrhein-westfälischen Innenministeriums sei
ohne relevanten Aussagewert. Die Innenministerien der Länder wüßten als reine
Rechtsaufsichtsbehörden nichts von der täglichen kommunalen Praxis und deren
Schwierigkeiten.
53
Die Kreistage und Kreisausschüsse könnten in ihrer Arbeit durch Splitterparteien und -
gruppen ähnlich gestört werden.
54
4.
Gebrauch gemacht.
55
B.
56
Die Anträge sind gemäß Art. 75 Nr. 2 LV, § 12 Nr. 5, §§ 43 ff VerfGHG zulässig.
57
1.
Organstreitverfahrens sein. Sie können im Wege des Organstreits geltend machen, die
rechtliche Gestaltung des Wahlverfahrens verletze ihren verfassungsrechtlichen Status
(vgl. BVerfGE 4, 27, 30; BVerfGE 82, 322, 335; VerfGH NRW OVGE 44, 301). Durch ihre
Beteiligung an Wahlen wirken die politischen Parteien im Sinne von Art. 21 Abs. 1 Satz
1 GG bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Insoweit üben sie Funktionen
eines Verfassungsorgans im Sinne des § 43 VerfGHG aus.
58
2.
geltend machen, durch ein Verhalten des Landtags in Rechten verletzt oder unmittelbar
gefährdet zu sein, die ihnen durch die Landesverfassung übertragen sind.
59
a)
Recht auf Chancengleichheit bei Wahlen. Art. 21 GG gilt nicht nur für den Bereich des
Bundes. Seine Grundsätze gelten vielmehr als Landesverfassungsrecht unmittelbar
auch in den Ländern (BVerfGE 60, 53, 62; VerfGH NRW OVGE 43, 205, 214). Das
Recht der politischen Parteien auf Chancengleichheit ergibt sich aus der Bedeutung, die
60
der Freiheit der Parteiengründung und dem Mehrparteienprinzip für die freiheitliche
Demokratie zukommt (BVerfGE 85, 264, 297).
Zum verfassungsrechtlichen Status der politischen Parteien gehört zum anderen ihr
Recht auf Wahlrechtsgleichheit. Hierfür bedarf es keines Rückgriffs auf den allgemeinen
Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG (vgl. BVerfG NJW 1999, 43). Die Grundsätze der
allgemeinen und gleichen Wahl werden ebenso wie die anderen Wahlrechtsgrundsätze
im Bereich der Länder und Gemeinden durch das objektiv-rechtliche Verfassungsgebot
des Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleistet, dessen Geltung als Landesverfassungsrecht
Art. 1 Abs. 1 LV vermittelt. Die Grundsätze der allgemeinen und gleichen Wahl sind
zudem Ausprägungen des Demokratieprinzips, das auf der Ebene des
Landesverfassungsrechts durch Art. 2 LV gewährleistet ist. Allen
Wahlrechtsgrundsätzen ist gemeinsam, daß sie grundlegende Anforderungen an
demokratische Wahlen stellen. Ihnen kommt die Funktion zu, bei politischen Wahlen
und Abstimmungen das demokratische Prinzip wirksam zur Geltung zu bringen.
Allgemeinheit und Gleichheit sichern dabei die vom Demokratieprinzip vorausgesetzte
Egalität der Staatsbürger (BVerfG NJW 1999, 43, 45).
61
b)
auf Gleichheit der Wahl und auf Chancengleichheit eine bisher nicht erfüllte Pflicht des
Antragsgegners ausgelöst hat, die 5 v.H.-Sperrklausel im nordrhein-westfälischen
Kommunalwahlrecht als Folge ihrer Überprüfung aufzuheben oder zu mildern. Der
Verfassungsgerichtshof hat in seinem Urteil vom 29. September 1994 angenommen, der
Antragsgegner sei verpflichtet zu überprüfen, ob die Beibehaltung der Sperrklausel
weiterhin durch einen zwingenden Grund gerechtfertigt ist. Er ist dabei davon
ausgegangen, die Beibehaltung der Sperrklausel sei nicht (mehr) ohne weiteres
gerechtfertigt. Als Ergebnis dieser Überprüfung kann sich daher eine Pflicht des
Antragsgegners ergeben, die Sperrklausel aufzuheben oder zu mildern. Für die
Antragsbefugnis reicht die Möglichkeit einer solchen Pflicht aus, die aus dem geltend
gemachten Recht der Antragstellerinnen erwächst.
62
3.
mit der Verabschiedung des Zweiten Gesetzes zur Änderung des
Kommunalwahlgesetzes und dem Beschluß zur Beibehaltung der 5 v.H.-Sperrklausel
vom 6. Mai 1998 oder mit der Verkündung des Gesetzes im Gesetz- und
Verordnungsblatt am 4. Juni 1998 (GV. NRW. S. 384) begann. In beiden Verfahren ist
der Antrag am 5. November 1998 bei Gericht eingegangen und damit auch im
ungünstigeren Falle rechtzeitig gestellt.
63
C.
64
Die Anträge sind begründet. Der Antragsgegner hat das Recht der Antragstellerinnen
auf Gleichheit der Wahl und auf Chancengleichheit im politischen Wettbewerb dadurch
verletzt, daß er bei der Verabschiedung des Zweiten Gesetzes zur Änderung des
Kommunalwahlgesetzes die 5-v.H.-Sperrklausel des § 33 Abs. 1 KWahlG nicht
aufgehoben oder abgemildert hat. Er hat sie ohne hinreichende Begründung
beibehalten.
65
1.
Abs. 1 GG ist ebenso wie der Grundsatz der gleichen Wahl aus Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG
66
wegen des Zusammenhangs mit dem egalitären demokratischen Prinzip im Sinne einer
strengen und formalen Gleichheit zu verstehen (vgl. z.B. BVerfGE 82, 322, 337). Der
Grundsatz der gleichen Wahl erfordert im Verhältniswahlsystem grundsätzlich, jeder
Wählerstimme den gleichen Erfolgswert beizumessen. Regelt der Gesetzgeber den
Bereich der politischen Willensbildung bei Wahlen in einer Weise, welche die
Chancengleichheit der politischen Parteien und Wählervereinigungen verändern kann,
sind seinem Entscheidungsspielraum besonders enge Grenzen gesetzt. Ihm ist
grundsätzlich jede unterschiedliche Behandlung der Parteien und Wählergruppen von
Verfassungs wegen versagt. Differenzierungen bedürfen in diesem Bereich stets eines
"zwingenden Grundes" (vgl. z.B. BVerfGE 82, 322, 338). Als solcher ist seit langem
anerkannt die Gewährleistung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung
(so zuletzt unter Zusammenfassung seiner Rechtsprechung: BVerfGE 95, 408, 418). Die
Verhältniswahl begünstigt das Aufkommen kleiner Parteien und Wählergruppen. Das
kann eine Aufspaltung der Volksvertretung in viele kleine Gruppen zur Folge haben,
welche die Bildung einer stabilen Mehrheit erschweren oder verhindern. Soweit es zur
Sicherung der Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit der Volksvertretung geboten ist,
darf der Gesetzgeber deshalb bei der Verhältniswahl den Erfolgswert der Stimmen
unterschiedlich gewichten. Er darf die Funktionsfähigkeit der zu wählenden
Volksvertretung durch eine Sperrklausel sichern. Ein Quorum von 5 v.H. ist dabei in aller
Regel verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (BVerfGE 82, 322, 338).
2. a)
kann aber nicht ein für allemal abstrakt beurteilt werden. Der Gesetzgeber darf nicht
ohne Rücksicht auf sich ändernde Umstände auf unabsehbare Zeit an einer solchen
Regelung festhalten. Er hat die Pflicht, eine einmal verfassungsgemäß erlassene
Sperrklausel unter Kontrolle zu halten. Eine Einschränkung der Wahlrechtsgleichheit
kann in dem einen Land oder zu einem bestimmten Zeitpunkt gerechtfertigt sein und in
einem anderen Land oder zu einem anderen Zeitpunkt nicht. Bei ihrem Erlaß sind die
Verhältnisse des Landes zu berücksichtigen, für das sie gelten soll (vgl. BVerfGE 82,
322, 338).
67
Ändern sich innerhalb des Geltungsbereichs des jeweiligen Wahlgesetzes die
Verhältnisse wesentlich, kann die Verfassungsmäßigkeit einer Sperrklausel
abweichend von der bisherigen Einschätzung beurteilt werden. Findet der
Wahlgesetzgeber in diesem Sinne veränderte Umstände vor, muß er sie
berücksichtigen. Gegebenenfalls muß er die Gesetzeslage korrigieren (BVerfGE 73, 40,
94).
68
b)
Nordrhein-Westfalen und für die damaligen Verhältnisse sei die Sperrklausel in dem
seinerzeit geltenden Kommunalwahlgesetz mit dem Grundgesetz vereinbar gewesen.
Solange die Umstände fortbestanden, welche diese verfassungsgerichtliche Bewertung
trugen, brauchte der Gesetzgeber die Verfassungsmäßigkeit der Sperrklausel nicht
erneut zu prüfen.
69
In seinem Urteil vom 29. September 1994 hat der Verfassungsgerichtshof jedoch
festgestellt, daß die Verhältnisse sich seither wesentlich geändert haben (VerfGH NRW
OVGE 44, 301). Das Bundesverfassungsgericht hatte die Erforderlichkeit der
Sperrklausel gerade mit Blick auf die Aufgabe des Rates gerechtfertigt, den
Hauptverwaltungsbeamten zu wählen. Diese wesentliche Funktion könnten die
kommunalen Vertretungskörperschaften bei Auftreten von Splitterparteien nicht mehr
70
ordnungsgemäß ausüben. Die geänderte Kommunalverfassung sieht nunmehr die Wahl
der Hauptverwaltungsbeamten unmittelbar durch die Bürger vor.
Die Verabschiedung des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Kommunalwahlgesetzes
bot weiteren Anlaß, mit Blick auf die dort beschlossenen Änderungen des Wahlrechts
die weitere Erforderlichkeit der Sperrklausel zu überdenken. Der Gesetzgeber hat das
aktive Wahlrecht auf 16 Jahre gesenkt und den Bürgern aus Mitgliedstaaten der
Europäischen Gemeinschaft das Wahlrecht eingeräumt. Die unverminderte
Beibehaltung der Sperrklausel beschränkt das mögliche Spektrum erfolgreicher
Parteien und erschwert den neu hinzutretenden Wählergruppen, eine ihren besonderen
Interessen gemäße Vertretung in den Rat zu wählen.
71
3.
Verfassungsgerichtshof nähere Vorgaben gemacht. Er hat festgelegt, wie der
Gesetzgeber die Überprüfung vorzunehmen und aus ihr die Entscheidung über
Beibehalt, Abmilderung oder Fortfall der Sperrklausel zu gewinnen hat. Diese Vorgaben
des Verfassungsgerichtshofs markieren die besonders engen Grenzen, die dem
Gesetzgeber bei der Beschränkung der Wahlrechts- und Chancengleichheit gezogen
sind.
72
a)
Sperrklausel enthält eine Aussage über eine hypothetische Entwicklung, stellt also eine
Prognose dar. Der Gesetzgeber muß hierfür alle in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht
für die Einschätzung der weiteren Erforderlichkeit einer Sperrklausel erheblichen
Gesichtspunkte heranziehen und abwägen.
73
Der Gesetzgeber hat zum einen die Aufgaben zu ermitteln und zu bewerten, welche den
Kommunalvertretungen (Rat und Kreistag) nach der Änderung der
Kommunalverfassung verblieben sind. Er muß auf die Beschlüsse und Wahlen
abstellen, die die Kommunalvertretungen zu fassen bzw. durchzuführen rechtlich
verpflichtet sind. Er muß diesen Befund mit dem Befund in anderen Ländern, deren
Kommunalwahlrecht keine Sperrklausel kennt, vergleichen, d.h. auf Entsprechungen
und Unterschiede untersuchen. Der nordrhein-westfälische Gesetzgeber hat die
Kommunalverfassung substantiell neu geordnet, nämlich die Wahl des kommunalen
Hauptverwaltungsbeamten auf die Bürger verlagert. Er hat dadurch die nordrhein-
westfälische Kommunalverfassung der sogenannten süddeutschen Ratsverfassung
angenähert, wie sie in Baden-Württemberg und Bayern gilt. Diese Länder und andere
Länder kennen, zum Teil seit Jahrzehnten, keine Sperrklausel im Kommunalwahlrecht.
Der Gesetzgeber hat die Erfahrungen zu erheben und auszuwerten, die in diesen
Ländern mit ähnlicher Kommunalverfassung, aber ohne Sperrklausel gemacht worden
sind.
74
Der Gesetzgeber muß zum anderen abschätzen, wie es um die Erfüllung der Aufgaben
angesichts der Landesstruktur, des bürgerschaftlichen Engagements, des Verhaltens
einzelner Personen, Gruppen und Fraktionen und angesichts einer möglichen
Zersplitterung in den Kommunalvertretungen stehen wird. Der Gesetzgeber muß sich
um die Erfassung und Verarbeitung der Empirie bemühen, etwa zur Bedeutung von
direkt gewählten parteiungebundenen Einzelbewerbern oder zur Wahrscheinlichkeit der
Beeinträchtigung der Entscheidungsfähigkeit der Kommunalvertretungen durch kleine
Parteien oder Gruppen. Auch hier muß er seine Abschätzungen mit den Erfahrungen
der Länder ohne Sperrklausel vergleichen.
75
Der Gesetzgeber darf sich bei alledem nicht mit einer abstrakten, gewissermaßen
schematischen Beurteilung begnügen. Für eine hinreichende Prognose reicht nicht aus,
daß bei abstrakter Betrachtung die theoretische Möglichkeit nicht auszuschließen ist,
der Wegfall einer 5 v.H.-Sperrklausel könne zum Einzug zahlreicher kleiner Parteien
und Wählervereinigungen in die Kommunalvertretungen führen und dadurch die Bildung
der notwendigen Mehrheiten für Beschlußfassungen und Wahlen erschweren oder gar
verhindern. Die Prognose muß nachvollziehbar begründet und auf tatsächliche
Entwicklungen gerichtet sein, deren Eintritt der Gesetzgeber bei einem Wegfall der
Sperrklausel konkret erwartet (vgl. auch VerfGH Berlin, LKV 1998, 142). Erst diese
konkret zu erwartenden tatsächlichen Entwicklungen liefern die Grundlage für eine sich
anschließende Bewertung als Funktionsstörung oder Funktionsunfähigkeit. Die
Prognose kann hingegen nicht unmittelbar auf die zusammenfassende rechtliche
Bewertung gerichtet sein. Ihr Gegenstand ist nicht die Funktionsunfähigkeit als solche.
76
Der Gesetzgeber darf sich nicht damit begnügen, die für Bundes- und Landtagswahlen
entwickelten Grundsätze ohne weiteres zu übernehmen oder die 1957 getroffenen und
damals auch berechtigten Bewertungen einfach zu übertragen.
77
Bei der prognostischen Beurteilung der Funktionsfähigkeit der Selbstverwaltung darf er
diese zwar nicht darum als sichergestellt voraussetzen, weil sie mit den Mitteln der
Staatsaufsicht in Gang gehalten werden kann. Er darf die Sicherungen des
Kommunalrechts gegen Funktionsstörungen der Gemeinde- und Kreisverwaltungen
aber auch nicht unberücksichtigt lassen.
78
Der Gesetzgeber darf nicht bei der zutreffenden Feststellung stehen bleiben, ohne
Sperrklausel begünstige das Verhältniswahlrecht das Aufkommen kleiner Parteien und
Wählergruppen. Nicht ausreichend ist die daran anknüpfende und durchaus plausible
Erwägung, daß es in aller Regel zu einer schwerfälligeren Meinungsbildung führt, wenn
in einer Kommunalvertretung ein erweiterter Kreis von Fraktionen und Gruppen mitwirkt.
Diese Schwerfälligkeit in der Meinungsbildung darf der Gesetzgeber nicht mit einer
Funktionsstörung oder Funktionsunfähigkeit gleichsetzen. Vielmehr sind weitergehende
Feststellungen zu treffen, bevor die Funktionsfähigkeit der kommunalen
Vertretungskörperschaften als gefährdet angesehen werden kann.
79
Selbst wenn der Gesetzgeber die Gefahr von Funktionsstörungen prognostiziert, darf er
die Sperrklausel nicht ohne weiteres beibehalten. Drohen Funktionsstörungen nur in
einzelnen Kommunalvertretungen, muß die Sperrklausel gegen die Bedeutung der
Wahlrechts- und Chancengleichheit für alle Kommunalvertretungen abgewogen
werden.
80
b)
Kontrolle durch den Verfassungsgerichtshof unterliegt, oder ob der
Verfassungsgerichtshof sich auf eine bloße Evidenz- oder Vertretbarkeitskontrolle zu
beschränken hat, bedarf - wie schon im Urteil vom 29. September 1994 - keiner
Entscheidung. Die Prognoseentscheidung des Antragsgegners hält bereits einer bloßen
Vertretbarkeitskontrolle nicht Stand.
81
4.
nicht so gewonnen, wie es den Vorgaben des Verfassungsgerichtshofs entspricht.
Seine Annahme, der Wegfall der 5 v.H.-Sperrklausel werde die Funktionsfähigkeit der
82
Kommunalvertretungen gefährden, beruht nicht auf einer nachvollziehbaren, den
verfassungsrechtlichen Anforderungen genügenden Prognose konkret zu erwartender
tatsächlicher Entwicklungen. Er hat sich zu Unrecht mit der abstrakten, theoretischen
Möglichkeit einer Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit begnügt. Eine solche
Möglichkeit ist nie auszuschließen, reicht aber als hinreichende Begründung für die
Annahme eines "zwingenden Grundes" nicht aus, um die Sperrklausel beizubehalten.
a)
Kommunalvertretungen verblieben sind, nachdem der Hauptverwaltungsbeamte
nunmehr unmittelbar durch die Bürger gewählt wird. Der Antragsgegner ist dabei zu
dem nachvollziehbaren Ergebnis gelangt, trotz des Verlustes dieser Aufgabe seien den
Kommunalvertretungen Aufgaben von solchem Gewicht verblieben, daß sie gegen
Störungen ihrer Funktionsfähigkeit geschützt werden müßten. Der Rat der Gemeinde ist
nach wie vor für alle Angelegenheiten der Gemeindeverwaltung zuständig, soweit die
Gemeindeordnung nichts anderes bestimmt (Allzuständigkeit des Rates). Er hat
insbesondere die Beigeordneten zu wählen, die zusammen mit dem Bürgermeister den
Verwaltungsvorstand bilden (§ 70 GO NRW). Der Rat trifft die grundlegenden und
langfristigen Entscheidungen. Hierzu gehört beispielsweise die Aufstellung und
Fortschreibung der Schul-entwicklungspläne (§ 10b Schulverwaltungsgesetz) oder von
Stadtentwicklungsplänen. In sie haben sich die zumeist ebenfalls vom Rat zu treffenden
Einzelentscheidungen einzupassen, wie die Auflösung, Gründung oder Verkleinerung
von Schulen, die Aufstellung einzelner Bebauungspläne. Dasselbe gilt für Planungen in
anderen Bereichen kommunaler Daseinsvorsorge. Wesentlich ist weiter die Aufgabe
des Gemeinderates als Satzungsgeber. Er hat etwa die Abgabensatzungen zu
beschließen und dabei ein Gleichgewicht zu wahren zwischen der notwendigen
Finanzierung kommunaler Aufgaben einerseits, der Belastung der Bürger andererseits.
Die mittelfristige Finanzplanung und die Verabschiedung der Haushaltssatzung obliegt
ebenfalls dem Rat. Dabei weist der Antragsgegner zu Recht darauf hin, dieser Aufgabe
komme eine hohe Bedeutung insbesondere in Zeiten zu, in denen die finanzielle
Ausstattung der Gemeinden einerseits auf der Einnahmenseite angespannt ist,
andererseits auf der Ausgabenseite in erheblichem Umfang durch Pflichtaufgaben und
deren Finanzierung beansprucht wird. Der Rat hat die schwierige Entscheidung zu
treffen, welche freiwilligen Selbstverwaltungsaufgaben noch in welchem Umfang
finanziert und damit wahrgenommen werden können.
83
Der Antragsgegner hat diesen Befund jedoch nicht ausreichend mit den Befunden in
anderen Ländern verglichen, in denen das Kommunalwahlrecht keine Sperrklausel
kennt. Die nordrhein-westfälische Kommunalverfassung ist den Kommunalverfassungen
dieser Länder inzwischen deutlich angenähert, insbesondere in der Spitze der
kommunalen Verwaltung, die das Bundesverfassungsgericht seinerzeit als bedeutsam
betont hat. Aus den Ländern ohne Sperrklausel sind nach dem Ergebnis der vom
Antragsgegner veranlaßten Umfragen Störungen oder Gefährdungen der
Funktionsfähigkeit der Kommunalvertretungen nicht bekannt geworden. Mit Blick auf
diesen Befund bedurften die Entsprechungen und Unterschiede in den Strukturen und
Funktionsbedingungen kommunaler Verwaltung besonders sorgfältiger Prüfung.
84
Der Antragsgegner hat es an einer solchen Prüfung fehlen lassen. Er hat zwar
Unterschiede in den Kommunalverfassungen, namentlich bei den Aufgaben der
Kommunalvertretungen aufgezeigt, hat es aber versäumt, diese Unterschiede
hinreichend in Beziehung zu setzen zu der hier interessierenden Frage, welche
Bedeutung allfällige Unterschiede mit Blick auf die Sperrklausel oder deren Fehlen
85
haben. Der Antragsgegner hat nicht nachvollziehbar dargelegt, ob und warum sich die
von ihm aufgezählten Unterschiede in einer Weise auf die Ratsarbeit auswirken, die
eine Sperrklausel in den süddeutschen Ländern als verzichtbar, in Nordrhein-Westfalen
hingegen als unverzichtbar erscheinen läßt. Auch in anderen Ländern treffen die
Kommunalvertretungen grundlegende und langfristige Entscheidungen zur Stadt- und
Schulentwicklung, zur Planung der Daseinsvorsorge und zur Finanzplanung. Sie sind
Haushalts- und Satzungsgeber und in Zeiten finanzieller Anspannung und wachsender
Aufgaben besonders gefordert. Daß die Erfahrungen der süddeutschen Länder mit ihren
Kommunalwahlgesetzen wegen der Unterschiede in der Kommunalverfassung und der
Aufgabenstellung der Kommunalvertretungen nicht übertragbar seien, ist nicht plausibel
herausgearbeitet.
Diese generell festzustellenden Defizite in der vergleichenden Betrachtung der
verschiedenen Kommunalverfassungen gelten namentlich für die vom Antragsgegner
besonders hervorgehobenen Punkte.
86
Die nordrhein-westfälische Gemeindeverfassung ist dadurch charakterisiert, daß die
Erledigung der kommunalen Aufgaben bei der unmittelbar vom Volk gewählten
Vertretung, dem Rat, liegt. Alle übrigen Funktionsträger, namentlich der Bürgermeister,
können ihre Zuständigkeiten nur vom Rat ableiten. Die Gemeindeverfassung wird vom
Grundsatz der Allzuständigkeit des Rates beherrscht (§ 41 Abs. 1 Satz 1 GO NRW). Der
Bürgermeister ist zwar für die Geschäfte der laufenden Verwaltung zuständig; sie gelten
aber nur im Namen des Rates als auf ihn übertragen. Der Rat hat das Recht, sich, einer
Bezirksvertretung oder einem Ausschuß für einen bestimmten Kreis von Geschäften
oder für einen Einzelfall die Entscheidung vorzubehalten (§ 41 Abs. 3 GO NRW). Nach
der süddeutschen Ratsverfassung ist neben dem Rat als Hauptorgan der Gemeinde der
Bürgermeister zweites Organ des Kommunalverfassungssystems. Der Rat ist zuständig
für die grundlegenden Entscheidungen, während die Aufgaben des Bürgermeisters
durch die Außenvertretung und die initiierende, koordinierende und durchführende
Verwaltung charakterisiert sind. Die laufenden Geschäfte der einfachen Verwaltung sind
dem Bürgermeister als eigene Angelegenheiten zugewiesen (vgl. Art. 29 Abs. 1, Art. 37
Abs. 1 der Bayerischen Gemeindeordnung; § 24 Abs. 1, § 44 Abs. 2 der Baden-
Württembergischen Gemeindeordnung). Der Antragsgegner hat indes nicht ermittelt,
welche Bedeutung das Rückholrecht des § 41 Abs. 3 GO NRW in der Praxis, also der
für das Wahlrecht maßgeblichen "Verfassungswirklichkeit" hat. Er hat sich nicht
vergewissert, ob und inwieweit die Arbeit der Kommunalvertretungen durch die
Erledigung von ("zurückgeholten") Geschäften der laufenden Verwaltung geprägt wird.
So ist nicht erkennbar, ob die Übertragung der Geschäfte der laufenden Verwaltung auf
den Bürgermeister "im Namen des Rates" und dessen damit einhergehendes
Rückholrecht im Unterschied zu einer Zuweisung dieser Aufgaben originär an den
Bürgermeister von praktischer Relevanz ist oder nur eine theoretische Bedeutung als
Unterscheidungsmerkmal für die systematische Einteilung von Kommunalverfassungen
("monistisch"; "dualistisch") hat. Darüber hinaus ist nicht ersichtlich, warum der
Antragsgegner gerade an diesen Unterschied anknüpfend den Erfahrungen der
süddeutschen Länder ihre Bedeutung für Nordrhein-Westfalen absprechen will. Die
Relevanz dieses Unterschiedes für die Sperrklausel und ihre Wirkung auf die
Funktionsfähigkeit des Rates ist jedenfalls nicht ohne weiteres nachvollziehbar.
87
Ähnliches gilt für die Unterschiede in der Amtszeit des Bürgermeisters. In Nordrhein-
Westfalen ist die Amtszeit des Bürgermeisters an die Wahlperiode des Rates gekoppelt.
In den süddeutschen Ländern ist die Amtszeit der Bürgermeister länger (Bayern: 6
88
Jahre; Baden-Württemberg: 8 Jahre). Sie ist nicht an die Wahlperiode der
Kommunalvertretung gekoppelt. Auch insoweit bleibt indes unklar, inwieweit dieser
Unterschied sich auf die Bewertung der Sperrklausel und ihrer Erforderlichkeit
auswirken soll.
b)
Funktionsstörungen hinsichtlich der Erfüllung der Aufgaben der Kommunalvertretungen
prognostiziert hat, entbehrt dies einer tragfähigen tatsächlichen Grundlage.
89
Allenfalls ansatzweise ist in den Beratungen des Ausschusses für Kommunalpolitik
deutlich geworden, welche tatsächlichen Entwicklungen der Gesetzgeber bei einem
Wegfall der Sperrklausel erwartet. Ausgangspunkt ist dabei die Annahme, in den
Gemeinderäten könnten ohne Sperrklausel künftig mehr Parteien und Wählergruppen
als bisher mit Fraktionen, Gruppen oder einzelnen Ratsmitgliedern vertreten sein.
Hiervon ausgehend befürchtet der Gesetzgeber, die Kommunalvertretungen würden in
eine solche Vielzahl von Fraktionen, Gruppen oder einzelnen Ratsmitgliedern zerfallen,
daß eine positive Mehrheit für notwendige Entscheidungen nicht mehr zustande komme.
90
Für eine solche Erwartung fehlt es indes bislang an hinreichenden tatsächlichen
Erkenntnissen. Sie versteht sich auch keineswegs von selbst. Denn bei aller
Unterschiedlichkeit der Kommunalverfassungen im einzelnen ist den
Kommunalvertretungen doch gemeinsam, daß sie Entscheidungen treffen müssen.
Hierfür müssen Mehrheiten gefunden werden. Deshalb sind die Erfahrungen anderer
Länder ohne Sperrklausel für die Frage von Gewicht, ob der Wegfall einer Sperrklausel
erwarten läßt, die Kommunalvertretungen könnten bis zur Unfähigkeit, Mehrheiten zu
bilden, in Fraktionen, Gruppen oder einzelne Ratsmitglieder zersplittert werden.
91
Dem kann nicht mit Erfolg entgegengehalten werden, das Wahlrecht Bayerns und
Baden-Württembergs kenne zwar keine Sperrklausel, räume den Wählern aber die
Möglichkeit ein, ihre Stimmen auf mehrere Listen zu verteilen (panaschieren) oder
einem einzelnen Kandidaten mehrere Stimmen zu geben (kumulieren). Daß dadurch
eine Sperrwirkung vergleichbar der Sperrklausel erreicht wird, leuchtet nicht ohne
weiteres ein. Die Kommunalwahl in Bayern und in Baden-Württemberg ist ebenfalls
eine Verhältniswahl. Die Sitze in den Gemeindevertretungen werden den Parteien und
Wählervereinigungen nach der Gesamtstimmenzahl zugeteilt, welche die von ihnen
eingereichten Listen erreicht haben. Ob und wie sich Panaschieren und Kumulieren als
Sperre auswirkt, hat der Antragsgegner nicht ermittelt.
92
Der Verwertung von Erfahrungen anderer Länder steht auch nicht entgegen, die
Gemeinden in den Ländern ohne Sperrklausel seien im Schnitt deutlich kleiner als die
Gemeinden in Nordrhein-Westfalen. Zwar haben kleine Gemeinden regelmäßig nur
kleine Gemeinderäte. Bleibt die Zahl der Ratsmitglieder unter 20, sind auch ohne
ausdrückliche Sperrklausel mindestens 5 v.H. der Wählerstimmen erforderlich, um einen
Sitz im Rat zu erwerben. Jedoch gibt es in den Ländern ohne Sperrklausel zahlreiche
Städte und Gemeinden mit größeren Gemeinderäten (insgesamt 37 Großstädte
gegenüber 28 Großstädten in Nordrhein-Westfalen), in denen sich die geringe Zahl der
Ratssitze nicht als faktische Sperre gegen kleinere Parteien und Wählergruppen
auswirkt. Drohte der Wegfall der Sperrklausel tatsächlich die Kommunalvertretungen bis
zur Unfähigkeit der Mehrheitsbildung zu zersplittern, müßten über die Jahrzehnte hin
jedenfalls in solchen Städten derartige Erfahrungen gesammelt worden sein. Die
unterschiedliche Größe der Gemeinden rechtfertigt es mithin nicht, die Erfahrungen
93
jener Länder ohne Sperrklausel schlechthin zu ignorieren.
Probleme sind insoweit nicht bekannt geworden, wie die Länderumfrage "Sperrklauseln
bei Kommunalwahlen" des nordrhein-westfälischen Innenministeriums ergeben hat. Der
Antragsgegner hält diese Umfrage für unzureichend. Sie habe nur bei den
Innenministerien der Bundesländer stattgefunden. Diesen lägen indes keine
Erkenntnisse über die tatsächlichen Verhältnisse in den Städten und Gemeinden vor.
Schon diese Begründung ist nicht nachvollziehbar. Im übrigen hätte es dem
Antragsgegner freigestanden, auf andere Weise die Erfahrungen zu ermitteln, die in den
Bundesländern ohne Sperrklausel gewonnen wurden. Er hätte beispielsweise zur
öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Kommunalpolitik Vertreter der kommunalen
Spitzenverbände jener Bundesländer einladen können. Bei ihnen dürften sich
Erfahrungen der Städte und Gemeinden im Lande bündeln. Der Antragsgegner hält es
jedenfalls für möglich, daß dabei Erkenntnisse hätten gewonnen werden können.
Dementsprechend hat er in der mündlichen Verhandlung einen Beweisantrag gestellt
und verlangt, Oberbürgermeister und Landräte aus Niedersachsen sowie Baden-
Württemberg als Zeugen zu vernehmen. Der Verfassungsgerichtshof konnte dem
Beweisantrag indes nicht nachkommen. Sein Gegenstand sind nicht einzelne streitige
oder sonst aufklärungsbedürftige, unmittelbar entscheidungserhebliche Tatsachen. Die
als Zeugen benannten Oberbürgermeister und Landräte sollen vielmehr beispielhaft und
exemplarisch über Erfahrungen mit Splitterparteien und -gruppen in Gemeinderäten
oder Kreistagen berichten. Der Antragsgegner strebt mit seinem Beweisantrag letztlich
eine Expertenanhörung an, wie sie dem Gesetzgebungsverfahren eigen ist. Die
Auswertung der Erfahrungen anderer Bundesländer durch Anhörung von Experten ist
nicht Sache des Verfassungsgerichtshofs, sondern des Landtags als Gesetzgeber.
Ginge der Verfassungsgerichtshof auf die Anregung des Antragsgegners ein, an seiner
Stelle die notwendige Sachverhaltsermittlung vorzunehmen, müßte er auch die darauf
aufbauende Prognose künftiger Entwicklung und die Entscheidung über den Wegfall
oder Beibehalt der 5-v.H.-Sperrklausel selbst treffen. Er würde damit sowohl hinsichtlich
des Verfahrens als auch in der Sache die Rolle des Gesetzgebers übernehmen.
94
c)
berücksichtigen. Das ist bislang nur unzulänglich geschehen. Der Antragsgegner weist
lediglich auf das Ballungsgebiet Ruhrgebiet hin. Dieser Hinweis ist in seiner Bedeutung
für das Kommunalwahlrecht nicht ohne weiteres nachvollziehbar. Der Antragsgegner
hat nicht dargelegt, welche eigenständige regionale Kooperation zwischen den
Großstädten des Ruhrgebietes jenseits der institutionalisierten Kooperation etwa in der
Bezirksplanung stattfindet, wie die Räte an einer solchen Kooperation beteiligt sind und
wieso sie bei zersplitterter Ratsmehrheit nicht funktionieren soll. Nach der bisherigen
Begründung ist auch nicht auszuschließen, daß im Ruhrgebiet mit seiner Ansammlung
von Großstädten deren Probleme in der Ratsarbeit lediglich in einer größeren Zahl von
Städten auftreten als in Ländern oder Regionen mit nur einzelnen Großstädten.
95
d)
Antragsgegners kreisen letztlich darum, daß die Bildung von Mehrheiten unter
Umständen Kompromisse erforderlich macht. In diesem Zusammenhang ist in den
Beratungen davon die Rede, die stärkeren Fraktionen müßten sich die erforderlichen
Mehrheiten "zusammenkaufen". Kleinere Parteien und Wählergruppen werden dabei
dem Verdacht ausgesetzt, sie verträten nur bestimmte eingeschränkte Interessen, seien
nicht auf größere Zusammenhänge ausgerichtet und nicht am Gemeinwohl orientiert.
96
Indes sind auch größere politische Parteien nicht dagegen gefeit, daß in ihren
Ortsgruppen und Kreisverbänden Interessengruppen eine maßgebliche Rolle spielen.
Das letzte Urteil darüber, von wem die Verwaltung der örtlichen Gemeinschaften am
besten wahrgenommen wird, muß in einer freiheitlichen Demokratie dem Bürger
überlassen bleiben (BVerfGE 13, 1, 17). Selbst bei absoluter Mehrheit einer größeren
Partei sind Kompromisse zwischen Interessengruppen innerhalb dieser Partei
erforderlich, um Mehrheiten für bestimmte Entscheidungen zustande zu bringen. Daß
die Wählerschaft eines Straßenzuges oder einer Siedlung Sitz und Stimme in den
kommunalen Gremien erhalten und dadurch in diese nur singuläre, partikuläre oder
temporäre Interessen Einzug halten (so die Befürchtungen des Verfassungsgerichtshofs
des Saarlands, Urteil vom 14. Juli 1998 - LV 4/97 -), ist für Nordrhein-Westfalen nicht zu
erwarten. Wie der Antragsgegner in anderem Zusammenhang mit Recht hervorhebt,
sind durch die kommunale Gebietsreform in Nordrhein-Westfalen Gemeinden in einer
Größenordnung geschaffen, daß selbst bei Wegfall der 5 v.H.-Sperrklausel zur
Erringung eines Sitzes in der Gemeindevertretung mehr Stimmen erforderlich sind, als
sie ein einzelner Straßenzug oder eine Siedlung aufzubringen vermöchte.
97
Im übrigen fehlt es wieder an einer ausreichenden Erhebung der tatsächlichen
Erfahrungen mit dem hier relevanten bürgerschaftlichen Engagement in den Räten und
Kreistagen. Freie Wählergemeinschaften treten bei Kommunalwahlen in Nordrhein-
Westfalen auf und sind durchaus erfolgreich. Der Antragsgegner hat keine Erfahrungen
dafür aufbieten können, daß von derartigen Wählergruppen nur singuläre, partikuläre
oder temporäre Interessen vertreten werden, von ihnen aber nicht auf Dauer
verschiedene, miteinander nicht ohne weiteres vereinbare Bedürfnisse der Wählerschaft
aufgegriffen und gemeinwohl-orientiert ausgeglichen werden.
98
e)
mitwirken, desto schwerfälliger mag sich eine mehrheitsfähige Meinung bilden. Das
allein rechtfertigt aber eine Sperrklausel nicht (VerfGH NRW OVG 44, 301), und zwar
nach der bisherigen Überprüfung auch nicht mit Blick auf die Bedeutung der Arbeit in
den Ausschüssen der Kommunalvertretungen.
99
Der Rat muß sich mit einer Vielzahl von Spezialmaterien befassen. Dies setzt eine
interne Arbeitsteilung voraus, die allen Mitgliedern des Rates die notwendige
Sachkenntnis verschafft. Dieser internen Arbeitsteilung dient es, wenn die Arbeit des
Rates in Ausschüssen vorbereitet, aber zu einem guten Teil auch dort durch
Beschlußfassung erledigt wird. Die Mitarbeit in den Ausschüssen ist deshalb für die
notwendige Sachkenntnis aller Ratsmitglieder erheblich.
100
Splittergruppen sind regelmäßig nicht imstande, in allen Ausschüssen mitzuarbeiten.
Auf sie entfallen wegen der geringen Zahl der Ausschußmitglieder keine Sitze im
Ausschuß. Im übrigen sind kleine Fraktionen und Wählergruppen wegen der geringen
Anzahl ihrer Mitglieder und der dadurch verursachten zeitlichen Beanspruchung nicht in
der Lage, in alle Ausschüsse bei gleicher effektiver Mitarbeit Mitglieder zu entsenden.
101
Der Antragsgegner befürchtet zwar, die Vorteile einer Arbeitsteilung durch Vorbereitung
der Ratsbeschlüsse in Ausschüssen könnten verlorengehen, wenn Splittergruppen in
den Ausschüssen nicht vertreten sind, an diesem Teil der Sacharbeit der
Kommunalvertretung also nicht teilhaben und deshalb darauf dringen, daß der Rat sich
im Plenum zeitaufwendig mit Vorlagen befassen muß, die im Ausschuß bereits
abgearbeitet waren. Indes fehlt es auch insoweit, über Vermutungen hinaus, an der
102
Erhebung einschlägiger tatsächlicher Erfahrungen. Private Gespräche des früheren
Prozeßbevollmächtigten des Antragsgegners mit Kommunalpolitikern, wie sie in der
mündlichen Verhandlung erwähnt wurden, sind dafür kein Ersatz. Erfahrungen müßten
schon bisher zu gewinnen gewesen sein. Denn die Größe der Ausschüsse läßt auch
jetzt in der Regel Parteien nicht oder nicht in allen Ausschüssen zum Zuge kommen,
welche die 5 %-Hürde nur um weniges übersprungen haben. Im übrigen kann sich die
Ratsmehrheit durch die Geschäftsordnung gegen Obstruktion von Splittergruppen
schützen.
f)
prognostizierten Gefahr von Funktionsstörungen abgeschätzt und die Sperrklausel unter
Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gegen die Bedeutung der
Wahlrechts- und Chancengleichheit abgewogen. Die Möglichkeit, die Sperrklausel aus
Gründen der Verhältnismäßigkeit wenigstens zu mildern, hat er entgegen der Vorgabe
des Verfassungsgerichtshofs ersichtlich nicht erwogen.
103
g)
kommunalverfassungsrechtlichen Sperrklauseln stets als Einheit verstanden worden.
Der Landesgesetzgeber hat das Problem der 5 v. H.- Sperrklausel als eine einheitliche
Fragestellung für die verschiedenen Wahlordnungen behandelt (vgl. VerfGH NRW
NWVBl. 1996, 58).
104
D.
105
Gemäß § 54 Abs. 4 VerfGHG ist die Anordnung gerechtfertigt, daß die notwendigen
Auslagen den Antragstellerinnen zu erstatten sind. Sie haben durch ihre Anträge zur
Klärung einer wesentlichen verfassungsrechtlichen Frage und zur Fortentwicklung der
bisherigen Rechtsprechung zu den Grundsätzen der Wahlrechtsgleichheit und
Chancengleichheit der politischen Parteien beigetragen. Sie können nicht wie der
Antragsgegner, und wie es in der Regel bei Organstreitverfahren der Fall ist, die für die
Führung des Rechtsstreits erforderlichen Aufwendungen aus Mitteln öffentlicher
Haushalte bestreiten.
106