Urteil des VerfG Nordrhein-Westfalen vom 29.07.2005

VerfG Nordrhein-Westfalen: immunität, strafrechtliche verfolgung, parlament, strafverfahren, durchsuchung, interessenabwägung, fraktion, staatsanwalt, verdacht, genehmigung

Verfassungsgerichtshof NRW, VerfGH 8/05
Datum:
29.07.2005
Gericht:
Verfassungsgerichtshof NRW
Spruchkörper:
Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein- Westfalen
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
VerfGH 8/05
Tenor:
Der Antrag wird als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen.
G r ü n d e :
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I.
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Der Organstreit betrifft die Aufhebung der Immunität eines Abgeordneten. Der
Antragsteller war Mitglied des 13. Landtags des Landes Nordrhein-Westfalen. Er
gehörte der SPD-Fraktion an. Bei der Wahl zum 14. Landtag am 22. Mai 2005 hat er
sich erneut um ein Mandat beworben. Er ist allerdings weder im Wahlkreis direkt noch
über die Landesliste der SPD gewählt worden. Auf der Landesliste war er auf Platz 104
aufgestellt. Von den 74 Abgeordneten der SPD-Fraktion des 14. Landtags sind 35 über
die Liste gewählt worden.
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Die Staatsanwaltschaft Köln ermittelte gegen den Antragsteller seit mehr als drei Jahren
im Zusammenhang mit seiner früheren Tätigkeit als Geschäftsführer zweier zur
Trienekens-Gruppe gehörenden Firmen. Auf Grund eines Beschlusses des
Amtsgerichts Köln vom 13. Februar 2002 wurden im Zuge der Ermittlungen das
Privathaus des Antragstellers sowie die Räume der von ihm geführten Firma
durchsucht. Der für diese Durchsuchung zuständige, zwischenzeitlich abgelöste
Staatsanwalt habe – so der Antragsteller – die Absicht zu erkennen gegeben, ihm die
Ausübung eines politischen Amtes unmöglich zu machen. Mit Schreiben der
Staatsanwaltschaft vom 22. Februar 2002 wurde der Antragsteller über die beabsichtigte
Einleitung eines Ermittlungsverfahrens informiert. Mit Schreiben vom gleichen Tag
wurde dies auch dem Präsidenten des Landtags angezeigt. Im Dezember 2002 kam es
zu einer weiteren Durchsuchung. Ende Januar 2004 legte die Polizei ihren
Abschlussbericht vor. In der 13. Kalenderwoche des Jahres 2005 erhielt die
Verteidigung des Antragstellers erstmals vollständige Einsicht in die Akten. Mit
Schreiben vom 31. März 2005 beantragte der Leitende Oberstaatsanwalt beim
Antragsgegner die Aufhebung der Immunität des Antragstellers. Der Antragsteller, der
durch Presseberichte am 11. April 2005 von dem Begehren der Staatsanwaltschaft auf
Aufhebung seiner Immunität Kenntnis erhalten hatte, verlangte mit Schreiben vom
selben Tag sowie vom 12. April 2005 an den Präsidenten des Landtags die Ablehnung
des Antrags der Staatsanwaltschaft. Der Rechtsausschuss des Landtages befasste sich
in seiner Sitzung vom 13. April 2005 mit der Sache. Der Justizminister erklärte
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gegenüber dem Ausschuss, dass nach Auskunft des Generalstaatsanwaltes ein
Anklageentwurf vorliege und beabsichtigt sei, auf der Grundlage dieses Entwurfs eine
Anklage zu erheben. Daraufhin empfahl der Rechtsausschuss nach eingehender
Diskussion einstimmig die Aufhebung der Immunität des Antragstellers. In seiner
Sitzung vom 21. April 2005 folgte der Antragsgegner der Empfehlung und hob die
Immunität des Antragstellers auf.
Am 21. April 2005 hat der Antragsteller Antrag im Organstreitverfahren erhoben.
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Er beantragt
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festzustellen, dass der Antragsgegner seine Rechte aus Art. 48 Abs. 1 iVm Art. 30 Abs.
2 der Landesverfassung NRW dadurch verletzt hat, dass er in der 150. Sitzung der 13.
Wahlperiode am 21. April 2005 seine Immunität auf den ermessensfehlerhaften und
willkürlichen Antrag der Staatsanwaltschaft Köln hin aufgehoben hat.
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Der Antragsteller ist der Ansicht, der Antragsgegner hätte den Antrag der
Staatsanwaltschaft ablehnen oder zumindest mit Blick auf die bevorstehende
Landtagswahl seine Entscheidung verschieben müssen. Die Aufhebung seiner
Immunität sei willkürlich, weil vernünftigerweise kein Zweifel an der sachfremden,
politisch motivierten Zielrichtung des staatsanwaltlichen Vorgehens bestehen könne.
Die Willkür dieses durch "Jagdeifer" gekennzeichneten Vorgehens ergebe sich aus der
Länge des Ermittlungsverfahrens sowie insbesondere dessen Abschluss gerade zum
Ende des Wahlkampfes. Sie zeige sich aber auch in weiteren Unregelmäßigkeiten des
Verfahrens. So sei die Durchsuchung im Februar 2002 ungeachtet seiner Immunität als
Landtagsabgeordneter erfolgt. Die Äußerung des damals zuständigen Staatsanwaltes
habe die politische Stoßrichtung deutlich gemacht. Verfahrensfehlerhaft sei zudem,
dass er erst durch die Presse von dem Aufhebungsverlangen der Staatsanwaltschaft
erfahren habe. Da die Staatsanwaltschaft nach Stellung ihres Antrages auf Aufhebung
der Immunität gegenüber der Öffentlichkeit erklärt habe, eine Anklageerhebung sei noch
nicht beschlossen, habe ihr Antrag auf einen unzulässigen Vorratsbeschluss gezielt.
Ihm sei zudem durch die verspätete Gewährung von Akteneinsicht das rechtliche Gehör
verweigert worden. Nach Ankündigung einer Stellungnahme hätte die
Staatsanwaltschaft ihr – im Übrigen unter Umgehung des Dienstweges über den
Generalstaatsanwalt und das Justizministerium – an den Antragsgegner gerichtetes
Ersuchen jedenfalls zurückziehen müssen. Mit dem Ersuchen habe sie dem
Antragsgegner auch nicht die notwendigen Informationen verschafft, auf deren
Grundlage dieser eine Sachentscheidung hätte fällen können. Der Rechtsausschuss
des Antragsgegners habe seinerseits die vom Antragsteller vorgetragenen
Anhaltspunkte für ein willkürliches Vorgehen der Staatsanwaltschaft nicht hinreichend
gewürdigt.
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Der Antragsteller ist auf die Möglichkeit einer Entscheidung nach § 19 VerfGHG NRW
hingewiesen worden.
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II.
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Der Antrag hat keinen Erfolg.
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Bereits gegen die Zulässigkeit des Antrags bestehen mit Blick auf die notwendige
Antragsbefugnis und das fortbestehende Rechtsschutzinteresse des Antragstellers
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Bedenken. Nach § 44 Abs. 1 VerfGHG NRW muss der Antragsteller geltend machen
können, dass er durch die Aufhebung der Immunität in seinen ihm durch die Verfassung
übertragenen Rechten verletzt oder unmittelbar gefährdet ist. Ob die in Art. 48 LV NRW
garantierte Immunität ein solches Recht des Abgeordneten umfasst, ist streitig.
Unzweifelhaft dient der Genehmigungsvorbehalt für die strafrechtliche Verfolgung von
Abgeordneten vorrangig dem Parlament. Teilweise wird hieraus gefolgert, dem
einzelnen Abgeordneten komme nur ein Rechtsreflex zugute, dem keine im Organstreit
geltend zu machende Rechtsposition entspreche (vgl. Löwer: in Löwer/Tettinger, LV
NRW, Art. 48 Rdnr. 14). Demgegenüber leitet das Bundesverfassungsgericht aus den
vergleichbaren Regelungen des Art. 46 Abs. 2 iVm Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG ab, der
einzelne Abgeordnete habe einen Anspruch darauf, dass sich das Parlament bei der
Entscheidung über die Aufhebung der Immunität nicht – den repräsentativen Status des
Abgeordneten grob verkennend – von sachfremden, willkürlichen Motiven leiten lasse
(vgl. BVerfGE 104, 310, 325 ff.). Jedoch kann diese Frage ebenso offen bleiben wie die
nach dem Fortbestehen eines Rechtsschutzinteresses, nachdem der Antragsteller nicht
mehr dem 14. Landtag als Abgeordneter angehört und auf Grund seiner
Listenplatzierung nicht mit einem späteren Nachfolgen während der jetzigen
Wahlperiode zu rechnen ist. Denn ungeachtet dieser Bedenken gegen die Zulässigkeit
ist der Antrag jedenfalls offensichtlich unbegründet.
Der Antragsgegner hat durch die Aufhebung der Immunität des Antragstellers mit
Beschluss vom 21. April 2005 nicht dessen Rechte aus Art. 48 Abs. 1 iVm Art. 30 Abs. 2
LV NRW verletzt.
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Die Aufhebung der Immunität eines Abgeordneten ist eine Maßnahme im Rahmen der
Parlamentsautonomie, die der Landtag grundsätzlich in eigener Verantwortung trifft (vgl.
BVerfGE 102, 224, 235 f.). Der Genehmigungsvorbehalt bei Durchführung von
Strafverfahren gegen ein Mitglied des Landtages dient vornehmlich dazu, die Arbeits-
und Funktionsfähigkeit des Parlaments zu erhalten. Der Kern seiner Entscheidung
beruht auf einer Interessenabwägung zwischen den Belangen des Parlaments und den
Belangen der anderen hoheitlichen Gewalten. Bei dieser Abwägung kommt dem
Landtag ein weiter Entscheidungsspielraum zu (vgl. BVerfGE 104, 310, 332). Der
Abgeordnete hat keinen Anspruch darauf, dass im Rahmen der Abwägung eine
Überprüfung stattfindet, die seine Interessen in den Vordergrund rückt. Selbst wenn ihm
mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein Anspruch auf willkürfreie
Entscheidung über die Genehmigung der gegen ihn gerichteten
Strafverfolgungsmaßnahmen zusteht, ist dieser erst dann verletzt, wenn das Parlament
bei der erforderlichen Interessenabwägung den verfassungsrechtlichen Status des
betroffenen Abgeordneten in grundlegender Weise verkannt hat. Danach ist der Landtag
insbesondere nicht verpflichtet, die nachteiligen Folgen zu überdenken, die sich aus der
Genehmigung der Anklageerhebung für einen Landtagswahlkampf des Abgeordneten
ergeben können. Der Landtag ist auch nicht verpflichtet, im Rahmen der Abwägung die
Schlüssigkeit des gegen den Abgeordneten erhobenen Tatvorwurfs und die
Verhältnismäßigkeit der Ermittlungsmaßnahme zu prüfen. Er darf die Kontrolle der
Rechtmäßigkeit der Ermittlungsmaßnahmen den hierfür zuständigen Gerichten
überlassen. Etwas anderes gilt erst dann, wenn vernünftiger Weise keine Zweifel
bestehen können, dass das Strafverfahren gegen den Abgeordneten aus sachfremden
Motiven durchgeführt wird. Nur in einem solchen Fall würde der Landtag durch
Aufhebung der Immunität sich die sachfremden Erwägungen der
Strafverfolgungsorgane zu eigen machen und dadurch selbst willkürlich handeln (vgl.
BVerfGE 104, 310, 332 ff.).
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Nach diesem Maßstab scheidet eine Verletzung der vom Antragsteller geltend
gemachten Rechte durch Aufhebung seiner Immunität offensichtlich aus. Für den
Verdacht, die bevorstehende Anklageerhebung könnte politisch motiviert sein, gab es
weder im Zeitpunkt der Entscheidung des Antragsgegners noch jetzt irgendeinen
Anhaltspunkt. Der vom Antragsteller erhobene Vorwurf gegen einen früher zuständigen
Staatsanwalt ist nach dessen Ablösung weit vor Anklageerhebung vom Ansatz her nicht
geeignet, die Sachgemäßheit der Anklage in Zweifel zu ziehen. Im Übrigen obliegt es
den hierfür zuständigen Gerichten, im weiteren Strafverfahren die vom Antragsteller
gerügten Gesetzwidrigkeiten im staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahren zu beurteilen.
Eine sachfremde politische Motivation der Staatsanwaltschaft, die den Landtag zu einer
Ablehnung des Aufhebungsgesuchs verpflichtet hätte, ergibt sich hieraus jedenfalls
nicht. Der Zeitpunkt des Antrags auf Aufhebung der Immunität kurz vor der
Landtagswahl im Mai 2005 mag für den Antragsteller misslich gewesen sein, indes
genügt auch dies nicht für den Verdacht einer sachfremden Zielrichtung des
staatsanwaltlichen Vorgehens. Es besteht keinerlei Anhaltspunkt dafür, dass die
Staatsanwaltschaft trotz Anklagereife das Aufhebungsgesuch mit Blick auf die
bevorstehende Landtagswahl hinausgezögert hätte oder dass es der Staatsanwaltschaft
um die Erwirkung eines sog. Vorratsbeschlusses für eine spätere Anklage gegangen
wäre.
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