Urteil des VerfG Nordrhein-Westfalen vom 23.04.1996

VerfG Nordrhein-Westfalen (grundsatz der unmittelbarkeit, wahl, beschwerdeführer, 1995, wahlkreis, einspruch, sitzverteilung, bevölkerung, beschwerde, freiheit)

Verfassungsgerichtshof NRW, VerfGH 21/95
Datum:
23.04.1996
Gericht:
Verfassungsgerichtshof NRW
Spruchkörper:
Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
VerfGH 21/95
Tenor:
Die Beschwerde wird als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen.
G r ü n d e :
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I.
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Der Beschwerdeführer, ein erfolglos gebliebener parteiloser Wahlbewerber im
Wahlkreis 16 (Köln IV), hat mit Schreiben vom 17. Mai 1995 und ergänzenden
Schreiben vom 20. Mai, 5. Juni und 17. Juli 1995 Einspruch gegen die Landtagswahl
vom 14. Mai 1995 eingelegt.
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Zur Begründung hat er im wesentlichen geltend gemacht: Die Zulassung von
Landesreservelisten verstoße gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl (Art.
38 Abs. 1 GG und Art. 31 Abs. 1 Satz 1 LV). Für einen Teil der Kandidaten auf den
Landeslisten habe bereits vor Beginn des eigentlichen Wahlaktes festgestanden, daß
sie in den Landtag einziehen würden. Damit hätten die politischen Parteien und nicht
die Wähler über die Wahl eines Teils der Kandidaten entschieden.
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Der Gesetzgeber habe seine Neutralitätspflicht dadurch verletzt, daß er - unter Verstoß
gegen die Grundsätze der Freiheit und Gleichheit der Wahl - die Kandidatur von
Einzelbewerbern erheblich erschwert habe mit dem Ziel, den Erfolg von
Einzelbewerbern zu verhindern. Parteiunabhängige Kandidaten würden grundsätzlich
benachteiligt. Gemäß § 1 des Gesetzes über die Erstattung der Wahlkampfkosten von
Landtagswahlen seien Einzelbewerber von einer Wahlkampfkostenerstattung
ausgeschlossen. Auch stehe Einzelbewerbern kein eigenständiges Einspruchsrecht zu
(§ 3 Wahlprüfungsgesetz NW). Nach § 8 Abs. 2 und 4 WDR-Gesetz hätten
Einzelbewerber zudem keinen Anspruch auf Zuteilung kostenloser Sendezeit.
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Die Wahlkreiseinteilung sei mit dem Grundsatz gleichen Stimmgewichts nicht vereinbar
gewesen. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 16, 130, 141),
daß Abweichungen der Wahlkreise von bis zu 33 1/3 vom Hundert von der
durchschnittlichen Bevölkerungszahl zulässig seien, sei angesichts der heute zur
Verfügung stehenden elektronischen Datenverarbeitung überholt. Vertretbar seien
allenfalls Abweichungen von bis zu 15 vom Hundert. Basis für die Wahlkreiseinteilung
dürfe nicht die gesamte, sondern nur die wahlberechtigte Bevölkerung sein. Nehme man
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die wahlberechtigten Bürger zum Maßstab, so seien etwa im Wahlkreis 10 (Erftkreis II)
mehr als doppelt so viele Stimmen für die absolute Mehrheit erforderlich gewesen wie
im Wahlkreis 69 (Duisburg IV).
Die Exekutive habe seinen, des Beschwerdeführers, Wahlkampf dadurch erheblich
erschwert und verhindert, daß sie im Hinblick auf seine drohende Obdachlosigkeit nicht
seine bisherige Wohnung beschlagnahmt, sondern ihn in zwei kleine Hotelzimmer in
Köln-Porz eingewiesen habe.
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Die Judikative habe durch verschiedene Maßnahmen massiv in die Freiheit der Wahl
eingegriffen.
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Der WDR in Köln habe seine Pflicht zur Neutralität dadurch verletzt, daß er die
Bevölkerung nicht angemessen über Einzelbewerber informiert habe. Durch die
Konzentration von Presse und Rundfunk in der Hand weniger Unternehmen und deren
manipulative Berichterstattung seien die Freiheit der Wahl und die Chancengleichheit
verletzt worden.
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Er beantrage daher, die Wahlen vom 14. Mai 1995 zum Landtag Nordrhein-Westfalen,
hilfsweise die Wahlen in den Wahlkreisen 16, 20, 32 und 123, in denen Einzelbewerber
kandidiert haben, für ungültig zu erklären und zu wiederholen.
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Der Landtag hat auf entsprechende Empfehlung des Wahlprüfungsausschusses
(Landtags-Drucksache 12/142, S. 3 ff.) den Einspruch durch Beschluß vom 13.
September 1995 als unbegründet zurückgewiesen (Plenarprotokoll 12/5, S. 174).
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Am 18. September 1995 hat der Beschwerdeführer Beschwerde erhoben. Er wiederholt
und vertieft die Gründe seines Einspruchs und macht ergänzend geltend,
Wahlprüfungsausschuß und Landtag hätten seine Einspruchsbegründung nur
unvollständig zur Kenntnis genommen.
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Der Landtag und der Landeswahlleiter hatten Gelegenheit zur Äußerung.
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II.
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Die Beschwerde ist zulässig (§ 10 Abs. 1 Wahlprüfungsgesetz NW), aber offensichtlich
unbegründet. Der Landtag hat den Wahleinspruch des Beschwerdeführers zu Recht als
unbegründet zurückgewiesen.
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Die Voraussetzungen des § 5 Nr. 3 und Nr. 4 Wahlprüfungsgesetz NW, auf den der
Beschwerdeführer seinen Einspruch stützt, liegen nicht vor. Nach § 5 Nr. 3
Wahlprüfungsgesetz NW kann der Einspruch u. a. darauf gestützt werden, daß
Vorschriften des Grundgesetzes, der Landesverfassung, des Landeswahlgesetzes oder
der zu diesem ergangenen Durchführungsverordnungen bei der Vorbereitung oder
Durchführung der Wahl in einer Weise verletzt worden sind, welche die Sitzverteilung
des Landtags beeinflußt. Voraussetzung einer ordnungs- und gesetzmäßigen
Durchführung der Wahl im Verständnis dieser Vorschrift ist auch, daß die für die Wahl
geltenden gesetzlichen Bestimmungen sich gegenüber dem Grundgesetz und der
Landesverfassung selbst als verfassungsmäßig erweisen (vgl. BVerfGE 16, 130, 135 f.).
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a)
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wenn das Landeswahlgesetz NW im Rahmen der mit einer Personenwahl verbundenen
Verhältniswahl Landesreservelisten, die von den Parteien eingereicht werden (§§ 14, 20
LWahlG NW), vorsieht. Die damit zusammenhängenden Fragen sind in der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt (vgl. etwa BVerfGE 3, 45, 49 ff.;
BVerfGE 7, 63, 67 ff.; BVerfGE 41, 399, 416 ff. BVerfGE 79, 161, 166 ff.;) und vom
Landtag in seiner Entscheidung zutreffend gewürdigt worden. Das Vorbringen des
Beschwerdeführers wirft keine neuen, bislang nicht berücksichtigten Aspekte auf.
b)
Wahlkreise ist ebenfalls verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Nach der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 16, 130, 141) verstößt eine
Wahlkreiseinteilung unter dem System einer personalisierten Verhältniswahl dann nicht
gegen den Grundsatz der gleichen Wahl, wenn die Bevölkerungszahl eines
Wahlkreises von der durchschnittlichen Bevölkerungszahl der Wahlkreise nicht um
mehr als 33 1/3 vom Hundert nach oben oder unten abweicht. Entgegen der Ansicht des
Beschwerdeführers haben sich im Hinblick auf die heute zur Verfügung stehenden
Möglichkeiten der Elektronischen Datenverarbeitung keine veränderten Umstände
ergeben, die die anerkannten Grenzen für die Wahlkreiseinteilung in Frage stellen
könnten. Die verfassungsrechtliche Legitimation für Abweichungen in Höhe von bis zu
33 1/3 vom Hundert beruht nämlich nicht auf bislang fehlendem aussagekräftigen
Zahlenmaterial, sondern auf in der Natur der Sache begründeten Schwierigkeiten. Die
Einteilung der Wahlkreise hat nach § 13 Abs. 2 LWahlG verschiedenen konkurrierenden
Zielen zu genügen: Die Wahlkreise sollen nicht nur eine annähernd gleich große
Einwohnerzahl umfassen, sondern müssen auch räumlich zusammenhängen; auf die
Grenzen der Kreise und kreisfreien Städte ist nach Möglichkeit Rücksicht zu nehmen;
Gemeindegrenzen sollen nur ausnahmsweise durchschnitten werden und örtliche
Zusammenhänge sind nach Möglichkeit zu wahren. Über diesen Zielkonflikt hinaus
bleibt die Bevölkerungsverteilung nicht konstant, sondern ist dauernden Wandlungen
unterworfen. Angesichts dessen ist es auch verfassungsrechtlich unbedenklich, die
durchschnittliche Bevölkerungszahl und nicht die Zahl der Wahlberechtigten
zugrundezulegen; es ist nicht erkennbar, daß sich daraus relevante Abweichungen,
etwa auch im Hinblick auf unterschiedlich hohe Anteile der ausländischen Bevölkerung,
ergeben hätten. Sollte sich dies künftig ändern, könnte der Landesgesetzgeber gehalten
sein, für eine Änderung der Wahlkreiseinteilung Sorge zu tragen.
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c)
nachzuprüfen, ob einzelne Bewerber von der Wahlkampfkostenerstattung
ausgeschlossen werden dürfen. Denn der Beschwerdeführer hat nicht dargelegt, daß
ein Ausschluß von Einzelbewerbern von der Wahlkampfkostenerstattung sich auf die
Gültigkeit der Landtagswahl, insbesondere auf das Wahlergebnis ausgewirkt hätte.
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d)
Einzelbewerbern kein eigenständiges Einspruchsrecht einräumt, ist nicht auf die
Gültigkeit der Landtagswahl bezogen und daher nicht Gegenstand des vorliegenden
Wahlprüfungsverfahrens. Sie wäre im übrigen unbegründet, weil der
Verfassungsgerichtshof die Vorschrift des § 3 in ständiger Rechtsprechung als
verfassungsgemäß ansieht (vgl. zuletzt Beschluß vom 12. Dezember 1995 - VerfGH
27/95 - m. w. N.).
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e)
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macht - durch die Exekutive, Legislative und Judikative sowie durch den Westdeutschen
Rundfunk unter Verstoß gegen Wahlrechtsvorschriften (§ 5 Nr. 3 Wahlprüfungsgesetz
NW) oder in sonstiger Weise (§ 5 Nr. 4 Wahlprüfungsgesetz NW) in seinem Wahlkampf
behindert worden ist. Selbst wenn man zugunsten des Beschwerdeführers einen
Wahlrechtsverstoß unterstellte, so würde jedenfalls durch einen solchen Verstoß die
Sitzverteilung des Landtags nicht beeinflußt worden sein. Eine kausale Verknüpfung
zwischen einem Wahlrechtsverstoß und dem Wahlergebnis liegt nicht schon dann vor,
wenn rein theoretisch betrachtet bei einem Unterlassen des Wahlrechtsverstoßes ein
anderer Wahlausgang möglich wäre. Vielmehr führt nur derjenige Mangel zur
Ungültigkeit der Wahl, der nach den Umständen des Einzelfalles nicht nur eine
theoretische, sondern eine nach der Lebenserfahrung nicht ganz fernliegende
Möglichkeit der Verfälschung des Wählerwillens begründet (BVerfGE 89, 243, 254;
VerfGH, Beschlüsse vom 11. März 1976 - VerfGH 38/75 - und - VerfGH 41/75 -).
Eine solche reale Möglichkeit, den Wahlausgang und damit die Sitzverteilung im
Landtag zu beeinflussen, hätte für den Beschwerdeführer auch dann nicht bestanden,
wenn die angeblichen Wahlrechtsverstöße unterblieben wären. Der Beschwerdeführer
hat nur 137 Stimmen im Wahlkreis 16 erhalten. Daß er ohne die von ihm gerügten
Wahlrechtsverstöße wesentlich mehr Stimmen erhalten hätte, liegt außerhalb jeder
Wahrscheinlichkeit. Denn das Stimmenpotential von Einzelbewerbern bei
Landtagswahlen ist regelmäßig sehr gering; bei der Landtagswahl 1995 haben alle
neun Einzelbewerber zusammen nur 1.570 Stimmen erreicht. Der Beschwerdeführer
hätte aber nach den Unterlagen des Landeswahlleiters von Nordrhein-Westfalen in dem
für ihn günstigsten Falle aus dem Wählerkreis des CDU-Bewerbers, auf den 23.967
Stimmen entfallen sind, 8.822 Stimmen und aus dem Wählerkreis des SPD-Bewerbers,
auf den 21.333 Stimmen entfallen sind, 6.188 Stimmen, insgesamt also mindestens
weitere 15.010 Stimmen erhalten müssen, um das Direktmandat im Wahlkreis 16 zu
gewinnen. Eine Veränderung der Sitzverteilung über die Landesreservelisten wäre nur
eingetreten, wenn der Beschwerdeführer zu seinen 137 Stimmen entweder mindestens
weitere 52.702 Stimmen von der SPD oder 9.235 Stimmen von der CDU oder 2.566
Stimmen von den GRÜNEN erreicht hätte. Diese Größenordnungen machen deutlich,
daß die Möglichkeiten des Beschwerdeführers, die Zusammensetzung des Landtages
mit einem aus seiner Sicht ungehinderten Wahlkampf entscheidend zu beeinflussen,
theoretisch höchst unwahrscheinlich, bei Berücksichtigung der allgemeinen
Lebenserfahrung aussichtslos gewesen wären.
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