Urteil des VerfG Nordrhein-Westfalen vom 10.12.2002

VerfG Nordrhein-Westfalen: satzung, verfassungsbeschwerde, kreis, sozialhilfe, rechtsnorm, ermächtigung, ausführung, körperschaft, kostenregelung, kollision

Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Leitsätze:
Tenor:
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Aktenzeichen:
Verfassungsgerichtshof NRW, VerfGH 10/01
10.12.2002
Verfassungsgerichtshof NRW
Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen
Urteil
VerfGH 10/01
Das für die Kommunalverfassungsbeschwerde geltende
Zulässigkeitserfordernis unmittelbarer Betroffenheit verwehrt es den
Kommunen, gegen ein Gesetz vorzugehen, das noch der Konkretisierung
durch eine untergesetzliche, ihrerseits mit der
Kommunalverfassungsbeschwerde angreifbare Rechtsnorm bedarf. Die
Unmittelbarkeit der Betroffenheit fehlt, wenn das Gesetz nicht eo ipso,
sondern erst in Verbindung mit einer weiteren Norm auf den Rechtskreis
der betroffenen Körperschaft einwirkt oder die Betroffenheit vom Ergehen
einer solchen Norm abhängt. Rechtsnorm in diesem Sinne kann auch
eine Kreissatzung sein.
Die Verfassungsbeschwerde wird verworfen.
G r ü n d e :
I.
Die Beschwerdeführerin, eine dem Märkischen Kreis angehörende Stadt, wendet sich
gegen die in § 6 Abs. 1 des Gesetzes zur Ausführung des Bundessozialhilfegesetzes für
das Land Nordrhein-Westfalen (AG-BSHG NRW) getroffene Regelung über die Tragung
der Sozialhilfeaufwendungen für den Fall, dass die Kreise kreisangehörige Gemeinden zur
Durchführung der Aufgaben des örtlichen Trägers der Sozialhilfe heranziehen. Sie rügt
eine Verletzung ihres Selbstverwaltungsrechts, die sich vor allem daraus ergebe, dass die
angegriffene Regelung wegen Unvereinbarkeit mit dem Bundessozialhilfegesetz nichtig
sei.
1.
Sozialhilfe die kreisfreien Städte und die Landkreise, soweit nicht nach Landesrecht etwas
anderes bestimmt wird; die Länder können bestimmen, dass und inwieweit die Landkreise
ihnen zugehörige Gemeinden oder Gemeindeverbände zur Durchführung von Aufgaben
nach diesem Gesetz heranziehen und ihnen dabei Weisungen erteilen können.
Durch Gesetz zur Ausführung des Bundessozialhilfegesetzes für das Land Nordrhein-
Westfalen vom 15. Juni 1999 (Art. 11 des Ersten Modernisierungsgesetzes, GV NRW S.
386) sind nähere Bestimmungen über die Ausführung des Bundessozialhilfegesetzes
getroffen worden. Gemäß § 1 AG-BSHG NRW führen die Kreise und kreisfreien Städte als
örtliche Träger die Aufgaben der Sozialhilfe als Selbstverwaltungsangelegenheit durch.
Aufgrund der Ermächtigung des § 96 Abs. 1 Satz 2 BSHG räumt § 3 Abs. 1 AG-BSHG
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NRW den Kreisen die Möglichkeit ein, ihnen zugehörige Gemeinden zur Durchführung von
Aufgaben nach dem Bundessozialhilfegesetz durch Satzung heranzuziehen. Nach § 5 Abs.
1 AG-BSHG NRW in seiner ursprünglichen Fassung i.V.m. § 91 Abs. 1 Satz 1 des Zehnten
Buchs des Sozialgesetzbuchs hatten die Kreise, wenn sie von dieser Möglichkeit
Gebrauch machten, den beauftragten Gemeinden die erbrachten Sozialhilfeleistungen in
voller Höhe zu erstatten. Ergänzend regelte § 6 Abs. 1 Satz 1 AG-BSHG NRW in seiner
Ursprungsfassung, die Kreise und die beauftragten kreisangehörigen Gemeinden könnten
eine von § 5 Abs. 1 AG-BSHG NRW abweichende Verteilung der Sozialhilfeaufwendungen
vereinbaren, um die Zusammenführung der Aufgaben- und Finanzverantwortung zu
erproben.
Durch Art. 19 Nr. 1 des Zweiten Modernisierungsgesetzes vom 9. Mai 2000 (GV NRW S.
462) ist § 6 Abs. 1 AG-BSHG NRW geändert worden. Er hat die folgende, am 1. Januar
2001 in Kraft getretene Fassung erhalten, gegen die sich die Beschwerdeführerin mit ihrer
Verfassungsbeschwerde wendet:
Soweit die Kreise gemäß § 3 kreisangehörige Gemeinden
zur Durchführung der Aufgaben durch Satzung heranziehen,
tragen die Gemeinden 50 vom Hundert der Aufwendungen. Die
Kreise legen durch Satzung einen Härteausgleich fest, wenn
infolge erheblicher struktureller Unterschiede im Kreisgebiet
die Beteiligung kreisangehöriger Gemeinden an den Aufwen-
dungen für diese zu einer erheblichen Härte führt.
Durch Vereinbarung zwischen Kreis und kreisangehörigen Gemeinden kann gemäß § 6
Abs. 2 AG-BSHG NRW n.F. auch weiterhin eine abweichende Verteilung der
Aufwendungen vorgenommen werden.
Der Märkische Kreis hat auf der Grundlage des § 3 AG-BSHG NRW den kreisangehörigen
Gemeinden mit Satzung über die Durchführung der Sozialhilfe im Märkischen Kreis vom
20. November 2000 widerruflich die Durchführung der ihm als örtlichem Träger der
Sozialhilfe obliegenden Aufgaben zur Entscheidung in eigenem Namen übertragen (§ 1
Abs. 1). Bestimmte Aufgaben sind von der Übertragung ausgenommen worden (§ 2 Abs. 1).
Am 1. Dezember 2000 hat der Kreis eine Satzung über den Härteausgleich im Rahmen des
§ 6 des Gesetzes zur Ausführung des Bundessozialhilfegesetzes erlassen. Beide
Satzungen sind am 1. Januar 2001 in Kraft getreten.
2.a)
Beschwerdeführerin,
festzustellen, dass § 6 Abs. 1 des Gesetzes zur
Ausführung des Bundessozialhilfegesetzes für das
Land Nordrhein-Westfalen in der Fassung des
Art. 19 Nr. 1 des Zweiten Gesetzes zur Moderni-
sierung von Regierung und Verwaltung in Nordrhein-
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Westfalen vom 9. Mai 2000 (GVBl. Seite 462, 470)
die Vorschriften der Landesverfassung über das Recht
der kommunalen Selbstverwaltung verletzt und nichtig
ist.
Sie trägt im Wesentlichen vor:
Die Verfassungsbeschwerde sei zulässig. Im Verfahren der
Kommunalverfassungsbeschwerde bedürfe umfassender Prüfung, ob eine
landesgesetzliche Regelung, die das Recht auf gemeindliche Selbstverwaltung
einschränke, wirksam sei. Hierbei seien auch Nichtigkeitsgründe zu berücksichtigen, die
sich aus Verstößen gegen Bundesrecht ergäben. Die geltend gemachte Verletzung ihres
Selbstverwaltungsrechts trete unmittelbar durch die angegriffene Regelung des § 6 Abs. 1
AG-BSHG NRW ein, nicht hingegen durch die Satzung des Märkischen Kreises vom 20.
November 2000, deren Regelungsgehalt sie gar nicht beanstande. Die Satzung stelle
lediglich eine tatbestandliche Voraussetzung für die durch das Gesetz selbst angeordnete
Rechtsfolge dar. Die unmittelbare Betroffenheit durch die gesetzliche Regelung ergebe
sich außerdem daraus, dass das Gesetz erst nach Beschlussfassung über die Satzung in
Kraft getreten sei.
Die Verfassungsbeschwerde sei auch begründet. Die in § 6 Abs. 1 AG-BSHG NRW
vorgesehene Kostentragungspflicht der herangezogenen Gemeinden verstoße gegen Art.
78 der Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen (LV) und Art. 28 Abs. 2 des
Grundgesetzes (GG). Nach diesen Bestimmungen könnten den Gemeinden neue
Pflichtaufgaben nur durch ein wirksames förmliches Gesetz übertragen werden. § 6 Abs. 1
AG-BSHG NRW sei keine solche gesetzliche Vorschrift, da er wegen Verstoßes gegen §
96 Abs. 1 BSHG nichtig sei. § 96 Abs. 1 Satz 1 BSHG bestimme die Kreise und kreisfreien
Städte mit konstitutiver Wirkung zu örtlichen Trägern der Sozialhilfe. Bestandteil der
Trägerschaft sei die Finanzierungslast. Im Widerspruch dazu überbürde § 6 Abs. 1 Satz 1
AG-BSHG NRW den zur Aufgabendurchführung herangezogenen Gemeinden die
Finanzierungslast im Außenverhältnis zu 50 v.H.; aus der Vollträgerschaft des Kreises
werde die Finanzierungsträgerschaft also zur Hälfte herausgebrochen. § 6 Abs. 1 AG-
BSHG NRW verstoße wegen der Ausgestaltung der Ermächtigung in seinem Satz 2
außerdem gegen die dem Schutz der kommunalen Selbstverwaltung dienenden
Grundsätze des Parlaments- und Gesetzesvorbehalts, des Gleichbehandlungsgebots und
des Rechtsstaatsprinzips.
b)
Die Verfassungsbeschwerde sei unzulässig. Die Beschwerdeführerin werde durch § 6 Abs.
1 AG-BSHG NRW nicht unmittelbar in ihrem Selbstverwaltungsrecht betroffen. Die
Rechtsfolge des § 6 Abs. 1 Satz 1 AG-BSHG NRW hänge davon ab, ob die Gemeinden
durch Kreissatzung zur Durchführung der Aufgaben des örtlichen Sozialhilfeträgers
herangezogen würden. Erst die Satzung erzeuge eine unmittelbare Betroffenheit der
Gemeinden; sie könne in gleicher Weise mit der Kommunalverfassungsbeschwerde
angegriffen werden wie andere untergesetzliche Rechtsnormen. Zusätzliche prozessuale
Probleme ergäben sich daraus, dass die Beschwerdeführerin einen Verstoß des § 6 Abs. 1
AG-BSHG NRW gegen Art. 78 LV aus der behaupteten Kollision zwischen Landes- und
Bundesrecht ableite. Über eine solche Kollision könne der Verfassungsgerichtshof nicht
selbst entscheiden; der Konflikt zwischen Landes- und Bundesrecht gehöre gemäß Art. 100
Abs. 1 Satz 2 GG vor das Bundesverfassungsgericht.
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Die Verfassungsbeschwerde sei jedenfalls unbegründet. Das Bundesrecht enthalte keine
Vorgaben, zu denen § 6 Abs. 1 AG-BSHG NRW sich in Widerspruch setze. Die
Trägerschaft der Kreise gemäß § 96 Abs. 1 BSHG sei als Leistungsträgerschaft zu
verstehen, die nicht zwingend die Kostentragungspflicht umfasse. Es sei deshalb Sache
des Landesgesetzgebers zu entscheiden, wer die Finanzierungslast zu tragen habe. Die
Ermächtigung zu einem satzungsrechtlichen Härteausgleich in § 6 Abs. 1 Satz 2 AG-BSHG
NRW begegne ebenfalls nicht den geltend gemachten verfassungsrechtlichen Bedenken.
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig. Die angegriffene Bestimmung des § 6 Abs. 1
AG-BSHG NRW betrifft die Beschwerdeführerin nicht unmittelbar in ihrem Recht auf
Selbstverwaltung (Art. 78 Abs. 1 und 2 LV).
1.
NRW eröffnete Verfassungsbeschwerde gegen Landesrecht setzt voraus, dass die
beanstandete Rechtsnorm die beschwerdeführende Körperschaft selbst, gegenwärtig und
unmittelbar betrifft (vgl. VerfGH NRW, Städte- und Gemeinderat 1985, 293, 294; NWVBl.
2001, 340, 344; zur bundesverfassungsrechtlichen Kommunalverfassungsbeschwerde
BVerfGE 71, 25, 34; 76, 107, 112). Die Beschwerdebefugnis der Kommune besteht nicht
losgelöst von einer eigenen Rechtsposition, sondern ist an eine Rechtsschutz erfordernde
Betroffenheit in ihrem Selbstverwaltungsrecht geknüpft.
Das Erfordernis unmittelbarer Betroffenheit verwehrt es der Kommune, gegen ein Gesetz
vorzugehen, das noch der Konkretisierung durch eine untergesetzliche, ihrerseits mit der
Kommunalverfassungsbeschwerde angreifbare Rechtsnorm bedarf. Die kommunale
Körperschaft muss den Erlass dieser Rechtsnorm abwarten; sie kann im Rahmen der
gegen die untergesetzliche Norm gerichteten Verfassungsbeschwerde auch die
verfassungsgerichtliche Überprüfung des Gesetzes erreichen (BVerfGE 71, 25, 34 ff.; 76,
107, 112 f.; Clemens, in: Umbach/Clemens, BVerfGG, § 91 Rdnr. 46). Die Unmittelbarkeit
der Betroffenheit fehlt, wenn das Gesetz nicht eo ipso, sondern erst in Verbindung mit einer
weiteren Norm auf den Rechtskreis der betroffenen Körperschaft einwirkt oder die
Betroffenheit vom Ergehen einer solchen Norm abhängt (vgl. RhPf VerfGH, NVwZ-RR
1996, 458; VerfG M.-V., NordÖR 1998, 302 f.; BVerfGE 70, 35, 50 f.; 72, 39, 43).
Rechtsnorm in diesem Sinne kann auch eine Kreissatzung sein. Die regelungsbetroffenen
Gemeinden haben die Möglichkeit, sie in gleicher Weise wie die von Landesorganen
erlassenen untergesetzlichen Normen mit der Verfassungsbeschwerde anzugreifen. Für
den Begriff des Landesrechts in den §§ 12 Nr. 8, 52 Abs. 1 VerfGHG NRW kommt es, wie
der Verfassungsgerichtshof für lokal wirkendes Gewohnheitsrecht entschieden hat (VerfGH
NRW, DVBl. 1982, 1043), mit Rücksicht auf die Rechtsschutzfunktion der
Kommunalverfassungsbeschwerde nur darauf an, ob die Norm der Disposition des
örtlichen Selbstverwaltungsträgers entzogen ist. Das trifft auf Kreissatzungen zu.
2.
durch § 6 Abs. 1 AG-BSHG NRW.
§ 6 Abs. 1 Satz 1 AG-BSHG NRW knüpft die Pflicht der kreisangehörigen Gemeinden,
grundsätzlich 50 v.H. der Sozialhilfeaufwendungen zu tragen, an deren Heranziehung zur
Durchführung der Aufgaben des örtlichen Trägers der Sozialhilfe. Die Heranziehung erfolgt
nach § 3 Abs. 1 AG-BSHG NRW durch Satzung. Die Kostenlast kann also nur und erst
dann entstehen, wenn der Kreis von der Ermächtigung in § 3 Abs. 1 AG-BSHG NRW
Gebrauch macht und in der Satzung sein Bestimmungsrecht im Sinne von § 3 Abs. 2 AG-
BSHG NRW ausübt. Die Heranziehungssatzung - hier die Satzung über die Durchführung
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der Sozialhilfe im Märkischen Kreis vom 20. November 2000 - vollzieht die gesetzliche
Kostenregelung zwar nicht in dem Sinne, dass sie deren Maßgaben ausformt und
konkretisiert; während das Gesetz die Kostentragungspflicht der Gemeinden regelt, richtet
sich der Regelungsgehalt der Satzung auf die Begründung der gemeindlichen
Sachkompetenz. Die Heranziehungssatzung bildet aber die unabdingbare Voraussetzung
für das Entstehen der Kostenlast; von der Entscheidung des Satzungsgebers hängt es ab,
ob, in welchem Umfang und wann die gesetzliche Kostenregelung Wirkungen entfalten
kann (vgl. zu diesem Gesichtspunkt BVerfGE 53, 366, 389). Das trifft auch dann zu, wenn
die Satzung wie im Streitfall aufgrund der schon vorher geltenden Ermächtigung in § 3 Abs.
1 AG-BSHG NRW bereits vor Inkrafttreten der Neufassung des § 6 Abs. 1 AG-BSHG NRW
erlassen worden ist. Unabhängig von der zeitlichen Abfolge tritt die gesetzliche Kostenlast
erst in Verbindung mit der satzungsrechtlichen Heranziehung zur Aufgabendurchführung
ein.
Entsprechendes gilt für die Ermächtigung zur satzungsrechtlichen Regelung von
Härtefällen in § 6 Abs. 1 Satz 2 AG-BSHG NRW. Sie kann ebenfalls nur greifen, wenn ein
Kreis von der Möglichkeit der Heranziehung nach § 3 Abs. 1 AG-BSHG NRW Gebrauch
macht.
Soweit das Bundesverfassungsgericht in einem vereinzelt gebliebenen Urteil eine
unmittelbare Betroffenheit durch ein Gesetz bejaht hat, obwohl dessen Anwendung vom
Erlass einer Rechtsverordnung abhing (BVerfGE 34, 165, 179; kritisch dazu Clemens
a.a.O., § 91 Rdnr. 65), vermag das die Beurteilung im vorliegenden Verfahren nicht zu
beeinflussen. Der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts lag nämlich eine nicht
vergleichbare Fallgestaltung zugrunde, die dadurch gekennzeichnet war, dass das Gesetz
dem Verordnungsgeber eine Pflicht zur Umsetzung unter präzise bezeichneten
Voraussetzungen auferlegt hatte. Demgegenüber kann der Satzungsgeber nach § 3 Abs. 1
AG-BSHG NRW autonom über die Heranziehung der Gemeinden entscheiden und hat es
damit selbst in der Hand, ob und inwieweit er die gesetzliche Kostenregelung zum Tragen
bringt.