Urteil des VerfG Nordrhein-Westfalen vom 24.04.2007

VerfG Nordrhein-Westfalen: gebot der transparenz, ausnahme, systematische auslegung, wirtschaftlichkeitsgebot, nhg, teleologische auslegung, steuerschätzung, unmöglichkeit, eigenkapital, auflage

Verfassungsgerichtshof NRW, VerfGH 9/06
Datum:
24.04.2007
Gericht:
Verfassungsgerichtshof NRW
Spruchkörper:
Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein- Westfalen
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
VerfGH 9/06
Tenor:
Artikel I Nr. 2 des Gesetzes über die Feststellung eines zweiten
Nachtrags zu den Haushaltsplänen des Landes Nordrhein-Westfalen für
die Haushaltsjahre 2004/2005 (Zweites Nachtragshaushaltsgesetz
2005) vom 15. Dezember 2005 (GV. NRW. S. 936) in Verbindung mit § 2
Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 des Gesetzes über die Feststellung der
Haushaltspläne des Landes Nordrhein- Westfalen für die Haushaltsjahre
2004/2005 (Haushaltsgesetz 2004/2005) vom 3. Februar 2004 (GV.
NRW. S. 64) verstößt insoweit gegen Art. 83 Satz 2 der Verfassung des
Landes Nordrhein-Westfalen (LV NRW) und ist insoweit nichtig, als die
in den Haushaltsplan eingestellten Einnahmen aus Krediten die Summe
der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen
überschreiten.
Artikel I Nr. 1 Zweites Nachtragshaushaltsgesetz 2005 in Verbindung mit
§ 1 Nr. 2 Haushaltsgesetz 2004/2005 in Verbindung mit Einzelplan 12
Kapitel 12 700 Titel 831 10 016, Einzelplan 20 Kapitel 20 610 Titel 831
31 872 und Einzelplan 20 Kapitel 20 010 ist mit der Verfassung des
Landes Nordrhein-Westfalen vereinbar.
G r ü n d e :
1
A.
2
Das Normenkontrollverfahren betrifft die Frage, ob Regelungen des Zweiten
Nachtragshaushaltsgesetzes 2005 mit haushaltsrechtlichen Vorschriften und
Grundsätzen der Landesverfassung vereinbar sind.
3
I.
4
1. Durch § 1 Nr. 2 des Gesetzes über die Feststellung der Haushaltspläne des Landes
Nordrhein-Westfalen für die Haushaltsjahre 2004/2005 (Haushaltsgesetz 2004/2005)
vom 3. Februar 2004 (GV. NRW. S. 64) - im Folgenden: HG 2004/2005 - wurde der
Haushaltsplan des Landes Nordrhein-Westfalen für das Haushaltsjahr 2005 in
Einnahmen und Ausgaben auf 47.266.191.600 EUR festgestellt. § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2
HG 2004/2005 ermächtigte das Finanzministerium, zur Deckung der Ausgaben des
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Haushaltsplans 2005 Kreditmittel bis zum Höchstbetrag von 3.906.145.000 EUR
aufzunehmen. Der Kreditfinanzierungsplan 2005 sah eine Netto-Neuverschuldung in
Höhe von 3.762,2 Mio. EUR vor, der anrechenbare Investitionen in Höhe von 3.822,3
Mio. EUR gegenüberstanden.
Durch das Gesetz über die Feststellung eines Nachtrags zu den Haushaltsplänen des
Landes Nordrhein-Westfalen für die Haushaltsjahre 2004/2005
(Nachtragshaushaltsgesetz 2005) vom 1. März 2005 (GV. NRW. S. 69) wurde das
Gesamtvolumen des Haushalts für das Jahr 2005 auf 49.436.414.300 EUR erhöht. Die
Kreditermächtigung wurde auf 5.316.145.000 EUR angehoben. Die Netto-
Neuverschuldung stieg auf 5.172,2 Mio. EUR. Zugleich erhöhte sich die Summe der
veranschlagten Ausgaben für Investitionen auf 5.211,8 Mio. EUR.
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Nachdem am 22. Mai 2005 ein neuer Landtag gewählt worden war und sich Ende Juni
2005 die neue Landesregierung konstituiert hatte, erließ das Finanzministerium unter
dem 30. Juni 2005 eine haushaltswirtschaftliche Sperre gemäß § 41 der
Landeshaushaltsordnung - LHO -. Am 4. Oktober 2005 brachte die Landesregierung den
Entwurf eines Gesetzes über die Feststellung eines zweiten Nachtrags zu den
Haushaltsplänen des Landes Nordrhein-Westfalen für die Haushaltsjahre 2004/2005
(Zweites Nachtragshaushaltsgesetz 2005) - im Folgenden: 2. NHG 2005 - in den
Landtag ein, das am 15. Dezember 2005 verabschiedet wurde (GV. NRW. S. 936).
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Das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2005 beinhaltet eine weitere Erhöhung des
Haushaltsvolumens auf 51.068.927.100 EUR, der Kreditermächtigung auf
7.532.645.000 EUR, der Netto-Neuverschuldung auf 7.388,7 Mio. EUR und der
Investitionsausgaben auf 5.963,6 Mio. EUR. Die Netto-Neuverschuldung überschreitet
damit die Summe der veranschlagten Investitionen um 1.425,1 Mio. EUR. In der
Gesetzesbegründung wird hierzu ausgeführt: Die erhöhte Kreditaufnahme erfolge nicht
zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts. Über den
Wortlaut des Art. 83 Satz 2 LV NRW hinaus sei jedoch eine Ausnahme von dem
Kreditbegrenzungsgebot zulässig, wenn das Land ansonsten seinen bundesrechtlichen
Verpflichtungen und den aus landesverfassungsrechtlichen Vorgaben folgenden
unabdingbaren Ausgaben nicht nachkommen könne. Diese "Korrektur" des
Kreditbegrenzungsgebots folge aus Art. 109 Abs. 1 des Grundgesetzes - GG - in
Verbindung mit dem finanzverfassungsrechtlichen Gebot des Grundgesetzes, dass die
Länder in die Lage versetzt sein müssten, ihre verfassungsrechtlichen Aufgaben zu
erfüllen. Eine Ausnahmesituation der vorbezeichneten Art sei gegeben, da im Laufe des
Haushaltsjahres wesentliche Haushaltsverschlechterungen eingetreten seien, die durch
Kürzungen nicht mehr aufgefangen werden könnten. Die erforderlichen Mehrausgaben
beliefen sich auf insgesamt 1.632,5 Mio. EUR; sie entfielen im Wesentlichen auf
Kapitalzuführungen an Landesunternehmungen (943,6 Mio. EUR; hierzu nachfolgend
unter 2.), den Länderfinanzausgleich (400,0 Mio. EUR) und die
Flüchtlingskostenerstattung an Gemeinden (80,0 Mio. EUR). Die Mindereinnahmen in
einer Gesamthöhe von 584,0 Mio. EUR ergäben sich vor allem aus der Korrektur von zu
hoch veranschlagten Darlehensrückflüssen (230,2 Mio. EUR), Erlösen aus
Forderungsabtretungen (150,0 Mio. EUR) und aus Beteiligungsveräußerungen (105,7
Mio. EUR). Den Haushaltsverschlechterungen stehe eine saldierte Steigerung der
eigenfinanzierten Investitionen um 751,8 Mio. EUR gegenüber, in deren Rahmen die
vorerwähnten Kapitalzuführungen in vollem Umfang zu berücksichtigen seien.
8
2. Der nach Maßgabe des Nachtrags zum Zweiten Nachtragshaushaltsgesetz
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geänderte Haushaltsplan sieht in Einzelplan 12 Kapitel 12 700 Titel 831 10 016 eine
Eigenkapitalzuführung an das Sondervermögen Bau- und Liegenschaftsbetrieb
Nordrhein-Westfalen (BLB NRW) in Höhe von 613,6 Mio. EUR vor. Ausweislich der
Begründung dient die Zuführung der Tilgung von Kreditmarktverbindlichkeiten mit dem
Ziel der liquiditätsmäßigen Absicherung von schadstoffbedingten Altlasten und zur
Durchführung von Brandschutzmaßnahmen.
Als weiterer neuer Ausgabeposten ist in Einzelplan 20 Kapitel 20 610 Titel 831 31 872
eine Kapitalzuführung an die Beteiligungsverwaltungsgesellschaft des Landes
Nordrhein-Westfalen (BVG NRW) in Höhe von 330,0 Mio. EUR veranschlagt. Hierzu
heißt es in der Begründung: Die BVG NRW habe zur Finanzierung der ihr seinerzeit
entgeltlich übertragenen Beteiligungen des Landes Mittel am Kreditmarkt
aufgenommen. Aktuell sei eine Weiterveräußerung der noch im Bestand gehaltenen
Beteiligungen zu wirtschaftlichen Konditionen nicht möglich. Durch die Kapitalzuführung
solle die BVG NRW in die Lage versetzt werden, sich am Kapitalmarkt zu entschulden.
10
3. Die Steuereinnahmen des Haushaltsjahres 2005 wurden in Kapitel 20 010 des
ursprünglichen Haushaltsplans mit 35.750,0 Mio. EUR veranschlagt. Dieser Betrag
wurde im Nachtragshaushaltsgesetz 2005 auf 34.340,0 Mio. EUR herabgesetzt und
durch das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2005 nicht verändert.
11
II.
12
Am 20. Juni 2006 haben die Antragsteller das Normenkontrollverfahren eingeleitet.
13
1. Sie beantragen festzustellen, dass
14
1. Art. I Nr. 2 des Gesetzes über die Feststellung eines zweiten Nachtrags zu den
Haushaltsplänen des Landes Nordrhein-Westfalen für die Haushaltsjahre 2004/2005
(Zweites Nachtragshaushaltsgesetz 2005) vom 15. Dezember 2005 (GV. NRW. S. 936)
in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 des Gesetzes über die Feststellung der
Haushaltspläne des Landes Nordrhein-Westfalen für die Haushaltsjahre 2004/2005
(Haushaltsgesetz 2004/2005) vom 3. Februar 2004 (GV. NRW. S. 64) gegen Art. 83 Satz
2 der Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen verstößt und nichtig ist, soweit die in
den Haushaltsplan eingestellten Einnahmen aus Krediten die Summe der im
Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen überschreiten,
15
2.
16
3. Art. I Nr. 1 Zweites Nachtragshaushaltsgesetz 2005 in Verbindung mit § 1 Nr. 2
Haushaltsgesetz 2004/2005 in Verbindung mit Einzelplan 12 Kapitel 12 700 Titel 831
10 016 und Einzelplan 20 Kapitel 20 610 Titel 831 31 872 wegen Unvereinbarkeit mit
dem finanzverfassungsrechtlichen Wirtschaftlichkeitsgebot nichtig ist und
17
4.
18
5. Art. I Nr. 1 Zweites Nachtragshaushaltsgesetz 2005 in Verbindung mit § 1 Nr. 2
Haushaltsgesetz 2004/2005 in Verbindung mit Einzelplan 20 Kapitel 20 010 wegen
Unvereinbarkeit mit dem Grundsatz der Haushaltswahrheit nichtig ist.
19
6.
20
Sie machen geltend:
21
a) Die durch das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2005 erteilte Kreditermächtigung
verstoße insoweit gegen Art. 83 Satz 2 LV NRW, als die Netto- Kreditaufnahme die
Summe der veranschlagten Investitionsausgaben überschreite. Der Differenzbetrag
belaufe sich nach dem Haushaltsplan auf 1.425,1 Mio. EUR, liege aber in Wahrheit
noch deutlich höher. Denn zum einen sei der Investitionsbegriff des Art. 83 Satz 2 LV
NRW entgegen der Staatspraxis nettobezogen zu verstehen, zum anderen könne die
Zuführung von Eigenkapital an Landesunternehmen nicht in vollem Umfang investiv
berücksichtigt werden. Eine die Kreditgrenzenüberschreitung rechtfertigende Störung
des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts sei nicht dargelegt worden. Die vom
Haushaltsgesetzgeber für den Fall einer drohenden Handlungsunfähigkeit des Landes
in Anspruch genommene ungeschriebene Ausnahmeermächtigung zu erhöhter
Kreditaufnahme könne nicht anerkannt werden. Sie sei mit der Ordnungs-,
Stabilisierungs- und Begrenzungsfunktion des Finanzverfassungsrechts nicht vereinbar.
Eine "Notlage" begründe kein "Notrecht". Die zu der vergleichbaren Rechtslage in
Berlin vom dortigen Verfassungsgerichtshof vertretene Auffassung, im Falle einer
"extremen Haushaltsnotlage" dürfe die Verfassungskreditgrenze überschritten werden
(NVwZ 2004, 210, 212), gehe fehl. Sie vermenge Aspekte des föderalen
Finanzausgleichs mit solchen des Haushaltsverfassungsrechts. Im Übrigen habe sich
Nordrhein- Westfalen 2005 nicht in einer "extremen Haushaltsnotlage" befunden. Die in
eine ähnliche Richtung zielende Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs des Landes
Hessen (NVwZ-RR 2006, 657) beruhe auf einer Verfassungsrechtslage, die sich
spezifisch von derjenigen in Nordrhein-Westfalen unterscheide.
22
b) Die Kapitalzuführungen an den BLB NRW und die BVG NRW verstießen gegen das
finanzverfassungsrechtliche Wirtschaftlichkeitsgebot. Hiernach dürften nicht mehr
Kredite aufgenommen werden, als in dem betreffenden Haushaltsjahr für anstehende
Aufgaben auch tatsächlich benötigt würden. Der BLB NRW und die BVG NRW hätten
im Haushaltsjahr 2005 keinen Kapitalbedarf in Höhe von 613,6 bzw. 330,0 Mio. EUR
gehabt. Insbesondere seien sie nicht verpflichtet gewesen, sich noch in 2005 in
entsprechender Höhe am Kapitalmarkt zu entschulden. Das politische Anliegen des
Abbaus so genannter Schattenhaushalte entbinde nicht von der Beachtung des
Wirtschaftlichkeitsgebots.
23
c) Das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2005 verstoße gegen den Grundsatz der
Haushaltswahrheit, soweit Steuermehreinnahmen in Höhe von mehr als 300 Mio. EUR
nicht in den Haushaltsplan eingestellt worden seien. Obwohl der "Arbeitskreis
Steuerschätzung" Anfang November für die Ländergesamtheit Steuermehreinnahmen in
Höhe von 1,2 Mrd. EUR prognostiziert und das Land Nordrhein-Westfalen im Oktober
ein Einnahmeplus gegenüber dem Vorjahr von 4,6 % verzeichnet habe, sei der
Haushaltsansatz nicht entsprechend angepasst worden.
24
2. Der Landtag hält den Normenkontrollantrag für nicht begründet und trägt vor:
25
a) Die Kreditermächtigung verstoße nicht gegen Art. 83 Satz 2 LV NRW. Die Befugnis
zur Überschreitung der Verschuldensgrenze ergebe sich aus der objektiven
Unmöglichkeit ihrer Einhaltung. Die aus der Landtagswahl im Mai 2005
hervorgegangene neue Landesregierung habe umfangreiche
Haushaltsverschlechterungen vorgefunden, die den umgehenden Erlass einer
26
haushaltswirtschaftlichen Sperre sowie die Aufstellung eines zweiten
Nachtragshaushalts erforderlich gemacht hätten. Da im Zeitpunkt seiner Einbringung
der Haushaltsvollzug schon weit fortgeschritten gewesen sei, habe kein Spielraum für
Einsparmaßnahmen in der erforderlichen Größenordnung bestanden. Bei dieser
Sachlage seien der Landtag und die Landesregierung im Wesentlichen auf die
Übernahme und Fortschreibung der von der Vorgängerregierung gesetzten
Rahmenbedingungen beschränkt gewesen.
b) Die Kapitalzuführungen an den BLB NRW und die BVG NRW verstießen nicht gegen
das Wirtschaftlichkeitsgebot. Das Land habe die massive und nicht nur vorübergehende
Verschuldung des BLB NRW nicht hinnehmen dürfen. Seine Entschuldung führe zu
Schuldzinseinsparungen in Höhe von 25 Mio. EUR. Die Kapitalzuführung an die BVG
NRW sei aus gesellschafts- und insolvenzrechtlichen Gründen erforderlich gewesen, da
sie ohne eine finanzielle Intervention voraussichtlich am Ende des dritten Quartals 2007
zahlungsunfähig geworden wäre.
27
c) Das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2005 verstoße bezüglich des Steueransatzes
nicht gegen den Grundsatz der Haushaltswahrheit. Die tatsächlichen Steuereinnahmen
im Haushaltsjahr 2005 überträfen den Haushaltsansatz um 360,7 Mio. EUR. Die sich
hieraus ergebende Schätzabweichung von 1,05 % liege im Vergleich zu früheren
Haushaltsjahren im unteren Bereich. Die vom "Arbeitskreis Steuerschätzung" im
November 2005 für die Ländergesamtheit prognostizierte Steigerung der
Steuereinnahmen habe keinen Anlass zu einer Anpassung des Steueransatzes im
Landeshaushalt gegeben, da dieser bereits eine überdurchschnittlich hohe
Einnahmesteigerung berücksichtigt habe. Im Übrigen habe es mit Rücksicht auf zu
erwartende hohe Steuererstattungen und eine unsichere Entwicklung der Dezember-
Vorauszahlungen dem Vorsichtsprinzip entsprochen, von einer Erhöhung des
Steueransatzes abzusehen.
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3. Die Landesregierung hält den Normenkontrollantrag ebenfalls für nicht begründet und
trägt vor:
29
a) Die Überschreitung der in Art. 83 Satz 2 LV NRW normierten Verschuldensgrenze sei
verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Zwar diene die erhöhte Kreditaufnahme nicht der
Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts, sondern der
Schließung einer Haushaltsdeckungslücke. Eine über den Wortlaut des Art. 83 Satz 2
LV NRW hinausgehende Ausnahme von der Kreditgrenze gelte jedoch dann, wenn das
Land sie objektiv nicht einhalten könne. Dies sei der Fall, wenn die regulären
Einnahmen zuzüglich einer am Investitionslimit orientierten Kreditaufnahme nicht
ausreichten, um die bundesrechtlich oder landesverfassungsrechtlich zwingenden
Ausgaben zu decken. Die Rechtfertigung einer solchen Ausnahme ergebe sich aus dem
Grundsatz, dass Unmögliches nicht verlangt werden könne, und der Notwendigkeit,
widerstreitende Verfassungsanforderungen im Wege praktischer Konkordanz zum
Ausgleich zu bringen. Hinsichtlich der konkreten Ausgaben, zu deren Erfüllung das
Land sich übermäßig verschulden dürfe, stehe dem Haushaltsgesetzgeber ein
eingeschränkter Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum zu. Seine Entscheidung
müsse dem Kriterium der Evidenz genügen. In formeller Hinsicht habe er detailliert
darzulegen, dass die veranschlagten Ausgaben zwingend erforderlich und alle
möglichen Einnahmequellen und Ausgabeneinschränkungen ausgeschöpft seien. Dies
sei im Gesetzgebungsverfahren geschehen.
30
Eine Überschreitung der Kreditgrenze wegen objektiver Unmöglichkeit ihrer Einhaltung
setze außerdem die Vorlage eines schlüssigen Sanierungskonzepts voraus.
Dementsprechend sei bereits während des Verfahrens zur Aufstellung des zweiten
Nachtragshaushalts 2005 mit der Erarbeitung eines Sanierungskonzepts begonnen
worden. Eine Umsetzung im Rahmen des Zweiten Nachtragshaushaltsgesetzes 2005
sei wegen des weit fortgeschrittenen Haushaltsvollzugs und der erheblichen Bindungen
nicht mehr möglich gewesen.
31
b) Die Kapitalzuführungen an den BLB NRW und die BVG NRW seien mit dem
Wirtschaftlichkeitsgebot vereinbar.
32
In der Eröffnungsbilanz des BLB NRW sei eine Rückstellung in Höhe von 613,6 Mio.
EUR für Altlasten und Brandschutzmaßnahmen gebildet worden, ohne dass ihm die
hierfür erforderlichen Mittel zur Verfügung gestellt worden seien. Diese
Unterfinanzierung, die in der Folgezeit zu einer bilanziellen Überschuldung des BLB
NRW geführt habe, werde durch die Eigenkapitalzuführung ausgeglichen. Da der BLB
NRW angewiesen sei, das zugeführte Kapital zur Schuldentilgung einzusetzen, habe
sich die Verschuldungssituation des Landes insgesamt nicht geändert.
33
Die Kapitalzuführung an die BVG NRW solle diese in die Lage versetzen, ihre Schulden
am Kreditmarkt zu tilgen. In Hinblick auf die vorausgegangene, von der BVG NRW
fremdfinanzierte Kaufpreiszahlung an das Land entspreche die Rückholung ihrer
Schulden in den Landeshaushalt dem wirtschaftlichen Verursachungsprinzip und dem
Gebot der Transparenz. Zudem sei die BVG NRW zur Sicherstellung ihrer
Zahlungsfähigkeit auf die Mittelzuführung durch das Land angewiesen gewesen.
34
c) Der Steueransatz im Zweiten Nachtragshaushaltsgesetz 2005 widerspreche nicht
dem Grundsatz der Haushaltswahrheit. Die Schätzabweichung liege im Vergleich zu
früheren Haushaltsjahren im unteren Bereich. Trotz der günstigen Entwicklung der Ist-
Einnahmen von Januar bis Oktober und der positiven November- Prognose des
"Arbeitskreises Steuerschätzung" sei in Hinblick auf verschiedene Risikofaktoren von
einer Erhöhung des Steueransatzes abgesehen worden.
35
B.
36
Der Normenkontrollantrag ist gemäß Art. 75 Nr. 3 LV NRW, § 47 lit. a des
Verfassungsgerichtshofgesetzes (VerfGHG) zulässig.
37
I.
38
Die zur Überprüfung gestellten Regelungen können im Normenkontrollverfahren auf ihre
Vereinbarkeit mit der Landesverfassung geprüft werden. Als Ermächtigungsvorschriften
im organschaftlichen Rechtskreis sind sie Landesrecht im Sinne von Art. 75 Nr. 3 LV
NRW, § 47 lit. a VerfGHG. Das gilt auch für die in den Anträgen zu 2. und 3. genannten
Bestimmungen der Einzelpläne (vgl. VerfGH NRW, OVGE 49, 278
abgedruckt> = NWVBl. 2003, 419, 422).
39
II.
40
Der Antrag ist rechtzeitig gestellt worden.
41
Normenkontrollanträge nach Art. 75 Nr. 3 LV NRW, § 47 lit. a VerfGHG sind an keine
Frist gebunden. Dies entspricht dem Zweck der abstrakten Normenkontrolle, durch
Klärung der verfassungsrechtlichen Lage dem Rechtsfrieden zu dienen. Zur Erreichung
dieses Zwecks kann eine Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs solange beantragt
werden, wie die betreffende Norm gilt oder darüber hinaus noch weitere
Rechtswirkungen zu äußern vermag (VerfGH NRW, OVGE 49, 278, 281 = NWVBl.
2003, 419, 422).
42
Hiernach konnten die angegriffenen Regelungen zum Gegenstand der
verfassungsgerichtlichen Kontrolle gemacht werden.
43
Die mit dem Antrag zu 1. beanstandete Kreditermächtigung (Art. I Nr. 2 2. NHG 2005
i.V.m. § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 HG 2004/2005) war bei Antragstellung am 20. Juni 2006
noch in Geltung. Als Zeitgesetz (vgl. VerfGH NRW, OVGE 45, 308, 310) galt das Zweite
Nachtragshaushaltsgesetz 2005 zwar grundsätzlich nicht über den 31. Dezember 2005
hinaus. Nach § 18 Abs. 3 Satz 1 der Landeshaushaltsordnung (LHO) behält jedoch eine
Kreditermächtigung i.S.d. § 18 Abs. 2 Nr. 1 LHO, wie sie die in Rede stehende Vorschrift
beinhaltet, mindestens bis zum Ende des nächsten Haushaltsjahres ihre Geltung.
44
Demgegenüber traten die mit den Anträgen zu 2. und 3. angegriffenen Regelungen mit
dem Ende des Haushaltsjahres 2005 außer Kraft; sie entfalteten bei Antragstellung aber
noch weitere Rechtswirkungen.
45
Dies folgt hinsichtlich der Feststellung des Haushaltsplans in Einnahmen und
Ausgaben (Art. I Nr. 1 2. NHG 2005 i.V.m. § 1 Nr. 2 HG 2004/2005) aus dem
untrennbaren Zusammenhang dieser Vorschrift mit derjenigen über die
Kreditermächtigung. Denn die Höhe der Kreditermächtigung wird mit Rücksicht auf den
notwendigen Haushaltsausgleich (Art. 81 Abs. 2 Satz 3 LV NRW) von der Höhe der im
Haushaltsplan in Ansatz gebrachten Einnahmen und Ausgaben bestimmt. Angesichts
dessen entfaltet die Feststellung der Haushaltsansätze eine die Kreditermächtigung
legitimierende Wirkung. Diese rechtliche Verknüpfung ist nicht auf die Geltungsdauer
des Art. I Nr. 1 2. NHG 2005 i.V.m. § 1 Nr. 2 HG 2004/2005 beschränkt; die Vorschrift
wirkt deshalb nach ihrem Außer-Kraft-Treten jedenfalls noch solange fort, wie Art. I Nr. 2
2. NHG 2005 i.V.m. § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 HG 2004/2005 in Kraft bleibt.
46
Entsprechendes gilt für die zur Prüfung gestellten einzelnen Haushaltstitel und -kapitel.
Als Teilelemente des Gesamthaushalts sind sie mitbestimmend für dessen Feststellung
in Einnahmen und Ausgaben und partizipieren so an der legitimierenden Wirkung
dieser Feststellung.
47
C.
48
Der Normenkontrollantrag ist hinsichtlich des Antrages zu 1. begründet; im Übrigen ist er
nicht begründet.
49
I.
50
Artikel I Nr. 2 2. NHG 2005 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 HG 2004/2005
verstößt in dem in der Urteilsformel ausgesprochenen Umfang gegen Art. 83 Satz 2 Hs.
1 LV NRW und ist nichtig.
51
Nach Art. 83 Satz 2 Hs. 1 LV NRW dürfen die Einnahmen aus Krediten entsprechend
den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts in der Regel nur bis zur
Höhe der Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen in
den Haushaltsplan eingestellt werden. Die Regelung steht im Kontext mit Satz 1 der
Vorschrift, der die Aufnahme von Krediten einem Gesetzesvorbehalt unterwirft und damit
das in Art. 81 Abs. 1 LV NRW verankerte parlamentarische Bewilligungsrecht als Kern
des Haushaltsverfassungsrechts ergänzt und sichert. Dieses beinhaltet, dass der
Landtag durch Bewilligung der erforderlichen laufenden Mittel für die Deckung des
Landesbedarfs sorgt. Eine Kreditaufnahme kommt als Finanzierungsmittel nur unter den
Voraussetzungen des Art. 83 Satz 2 LV NRW in Betracht.
52
1. Die gemäß Art. 83 Satz 2 Hs. 1 LV NRW im Regelfall einzuhaltende
Verschuldungsgrenze wird durch die im Zweiten Nachtragshaushaltsgesetz 2005
ausgesprochene Kreditermächtigung um 1.425,1 Mio. EUR überschritten.
53
a) Gegenstand der Begrenzungsregelung sind die "Einnahmen aus Krediten". Die Norm
bezieht sich damit - anders als Art. 83 Satz 1 LV NRW - nicht auf das Gesamtvolumen
der "Aufnahme von Krediten", sondern lediglich auf die Netto- Neuverschuldung. Daher
bleiben Kreditaufnahmen, die der Umschuldung dienen, ebenso außer Betracht wie
Kassenverstärkungskredite (vgl. Tettinger, in: Löwer/Tettinger, Kommentar zur
Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen, 2002, Art. 83, Rdn. 3 und 7;
Geller/Kleinrahm, Die Verfassung des Landes Nordrhein- Westfalen, 3. Auflage 1977,
Art. 83, Anm. 3 b). Ausweislich des dem Zweiten Nachtragshaushaltsgesetz 2005
anliegenden Kreditfinanzierungsplans beläuft sich die Netto-Neuverschuldung im
Haushaltsjahr 2005 auf 7.388,7 Mio. EUR.
54
b) Schuldenbegrenzende Bezugsgröße ist die Summe der im Haushaltsplan
veranschlagten "Ausgaben für Investitionen". Eine abschließende Aufzählung derartiger
Ausgaben enthält § 10 Abs. 3 Nr. 2 Satz 2 des Gesetzes über die Grundsätze des
Haushaltsrechts des Bundes und der Länder (HGrG), der gemäß Art. 109 Abs. 3 GG, § 1
Satz 2 HGrG auch für das Landesverfassungsrecht verbindlich und in § 13 Abs. 3 Nr. 2
Satz 2 LHO inhaltsgleich übernommen worden ist. Die betreffenden Ausgaben werden
nach den Verwaltungsvorschriften zur Haushaltssystematik des Landes Nordrhein-
Westfalen (VV-HS) in den Hauptgruppen 7 und 8 des Gruppierungsplans dargestellt.
Die sich hieraus ergebende Brutto- Investitionssumme wird zur Vermeidung von
Doppelzählungen vermindert um Zuweisungen, Beiträge und sonstige Zuschüsse für
Investitionen, die aus anderen öffentlichen Haushalten stammen und dort investiv
berücksichtigt werden (Obergruppen 33 und 34). Hiervon ausgehend werden die
Ausgaben für Investitionen in dem durch das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2005
geänderten Haushaltsplan mit 5.963,6 Mio. EUR veranschlagt.
55
Soweit die Antragsteller einen Nettoinvestitionsbegriff zugrundelegen wollen, ist dies
nicht gerechtfertigt.
56
Wenn sie vortragen, entgegen der Staatspraxis sei im Rahmen von Art. 83 Satz 2 Hs. 1
LV NRW auf die Netto-Investitionen abzustellen, machen sie sich eine in Teilen der
Literatur zu Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG vertretene Rechtsansicht zu eigen, der zufolge die
Brutto-Investitionssumme um Abschreibungen und Erhaltungsinvestitionen zu kürzen ist
(vgl. etwa Friauf, in: Isensee/Kirchhof , Handbuch des Staatsrechts, Band IV,
1990, § 91, Rdn. 51). Diese Auffassung findet im Wortlaut von Art. 83 Satz 2 Hs. 1 LV
NRW, der auf die veranschlagten Ausgaben für Investitionen abstellt, keine Stütze
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(ebenso zu der insoweit gleichlautenden Formulierung in Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG
Siekmann, in: Sachs : Grundgesetz, 3. Auflage 2003, Art. 115, Rdn. 42). Die
Entstehungsgeschichte der Vorschrift spricht gegen ein solches Verständnis. Nach der
Vorstellung des verfassungsändernden Gesetzgebers ist der Begriff "Ausgaben für
Investitionen" nicht auf Netto-Investitionen beschränkt, sondern umfasst unter anderem
auch reine Erhaltungsinvestitionen (vgl. die Begründung des Gesetzentwurfs der
Landesregierung, LT NRW-Drs. 7/617 vom 18. März 1971, S. 11). Zwar dürfte der
Normzweck von Art. 83 Satz 2 Hs. 1 LV NRW (hierzu nachfolgend unter 2.b.cc) ein
restriktives Verständnis des Investitionsbegriffs nahe legen. Dabei muss jedoch seine
Operationalisierbarkeit gewahrt bleiben, da die Klarheit und Sicherheit der Berechnung
notwendiges Element des verfassungsrechtlichen Kreditbegrenzungsgebots ist (ebenso
Heintzen, in: Kunig , Grundgesetz- Kommentar, 4./5. Auflage 2003, Art. 115,
Rdn. 14). Unter diesem Gesichtspunkt stellen die Netto-Investitionen keine geeignete
Bezugsgröße dar, da eine entsprechende staatliche Vermögenszurechnung nicht
vorliegt und eine sachgerechte Veranschlagung im Rahmen des kameralistischen
Rechnungswesens nicht möglich ist (vgl. Heun, in: Dreier , Grundgesetz
Kommentar, 2000, Art. 115, Rdn. 22; Heuer, Kommentar zum Haushaltsrecht, Art. 115
GG, Rdn. 12, Stand März 1996; Patzig, DÖV 1985, 293, 306). Auch die Antragsteller
zeigen keine praktikable Möglichkeit zur Ermittlung der Netto-Investitionen auf. Ihre
Bezugnahme auf die Haushaltspraxis der Freien Hansestadt Bremen gibt insoweit
keinen näheren Aufschluss. Zwar ist in der zitierten Mitteilung des Senats zur
Einbringung des Doppelhaushalts 2006/2007 (Bremische Bürgerschaft, Drs. 16/910
vom 7. Februar 2006) von den "Nettoinvestitionen" als Grenze der Kreditaufnahme die
Rede. Wie sie sich errechnen, wird allerdings nicht ausgeführt. Im Übrigen definiert § 5
des Haushaltsgesetzentwurfs die "investiven Zwecke" unter Bezugnahme auf § 13 Abs.
3 Nr. 2 Satz 2 der Haushaltsordnung der Freien Hansestadt Bremen, der seinerseits
textidentisch ist mit § 13 Abs. 3 Nr. 2 Satz 2 LHO NRW. Dies legt die Vermutung nahe,
dass das Präfix "Netto" lediglich die - auch in Nordrhein-Westfalen praktizierte -
Bereinigung der Brutto-Investitionssumme um solche Investitionszuschüsse bezeichnet,
die aus anderen öffentlichen Haushalten stammen und dort investiv berücksichtigt
werden.
Die Kritik der Antragsteller an der investiven Berücksichtigung der Kapitalzuführungen
an den BLB NRW und die BVG NRW geht fehl. Hierbei handelt es sich um "Ausgaben
für die Heraufsetzung des Kapitals von Unternehmen" im Sinne von § 10 Abs. 3 Nr. 2
Satz 2 lit. d HGrG, die - nicht anders als sonstige Formen der Finanzinvestition - den
Vermögensbestand des Landes positiv beeinflussen. Dem steht nicht entgegen, dass
die Kapitalzuführungen mit der Maßgabe der Schuldentilgung erfolgen und somit aus
Sicht der Landesunternehmungen faktisch den Charakter "durchlaufender Posten"
haben. Denn § 10 Abs. 3 Nr. 2 Satz 2 lit. d HGrG stellt nicht darauf ab, wie das
heraufgesetzte Kapital anschließend verwendet wird; im Übrigen setzt sich der durch
den Zufluss frischen Kapitals eintretende Vermögenszuwachs in der hierdurch
ermöglichten Schuldentilgung in modifizierter Form fort. Die Entschuldung eines
Landesunternehmens stellt eine zukunftsdienliche Investition im Sinne von Art. 83 Satz
2 Hs. 1 LV NRW dar, da sie dessen strategische Handlungsfähigkeit sichert und
ausweitet und damit die Basis schafft für ein wirtschaftliches Gebaren, das den Zielen
der Zukunftsgestaltung und dem Landeswohl verpflichtet ist. Entgegen der Ansicht der
Antragsteller kommt es daher nicht darauf an, ob die Kapitalzuführungen an den BLB
NRW und die BVG NRW bei diesen Unternehmungen zusätzliche Sachinvestitionen
ermöglicht haben.
58
2. Die Überschreitung der Regelkreditgrenze ist nicht gerechtfertigt.
59
a) Die weitere Kreditaufnahme im Zweiten Nachtragshaushaltsgesetz 2005 dient
ausweislich der Begründung nicht der Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen
Gleichgewichts, sondern der Schließung einer im Verlauf des Haushaltsjahres 2005
aufgetretenen Deckungslücke.
60
b) Die Überschreitung der Kreditgrenze wird nicht dadurch gerechtfertigt, dass ihre
Einhaltung nach Einschätzung des Haushaltsgesetzgebers objektiv unmöglich war. Die
vom Landtag und von der Landesregierung vertretene gegenteilige Auffassung ist mit
Art. 83 Satz 2 Hs. 1 LV NRW nicht vereinbar. Die Auslegung dieser Vorschrift ergibt,
dass von der durch sie normierten Regel grundsätzlich nur zur Abwehr einer Störung
des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts und darüber hinaus allenfalls zur
Bewältigung - hier nicht in Rede stehender - exzeptioneller Sondersituationen
abgewichen werden darf.
61
aa) Zwar besagt Art. 83 Satz 2 Hs. 1 LV NRW nicht ausdrücklich, wann eine Ausnahme
von der Verschuldungsgrenze in Betracht kommt. Insoweit unterscheidet sich der
Wortlaut der Vorschrift von den entsprechenden Formulierungen in Art. 115 Abs. 1 Satz
2 Hs. 2 GG und § 18 Abs. 1 Satz 2 Hs. 1 LHO, die gleichlautend bestimmen, dass
Ausnahmen "nur" zulässig sind zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen
Gleichgewichts. In dieselbe Richtung deutet indes Art. 83 Satz 2 Hs. 1 LV NRW mit der
Wendung, dass die Verschuldungsgrenze "entsprechend den Erfordernissen des
gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts in der Regel" einzuhalten ist. Die sprachliche
Anknüpfung der Regelrechtsfolgenanordnung an die Zielvorgabe des
gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts indiziert, dass mögliche Ausnahmen von der
Regel grundsätzlich auf konjunkturelle Störungssituationen beschränkt sind. Der
Verzicht auf eine diese Eingrenzung eindeutig zum Ausdruck bringende Formulierung
("nur") lässt indes Raum für die Annahme, dass im Einzelfall auch eine anderweitig
nicht steuerbare exzeptionelle Sondersituation eine übermäßige Kreditaufnahme
rechtfertigen kann.
62
bb) Die Gebotenheit eines restriktiven Verständnisses des Ausnahmevorbehalts wird
durch die Entstehungsgeschichte von Art. 83 Satz 2 Hs. 1 LV NRW bestätigt. Sie macht
deutlich, dass der Verfassungsgeber die Möglichkeit einer Kreditgrenzenüberschreitung
auf den Fall einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts beschränkt
wissen wollte. Die Begründung des Gesetzentwurfs der Landesregierung (LT NRW-Drs.
7/617 vom 18. März 1971, S. 11) führt insoweit aus:
63
"Diese Grenze darf nur ausnahmsweise überschritten werden, dann nämlich, wenn (...)
unter Einsatz kreditwirtschaftlicher Mittel das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht
beeinflusst werden muss."
64
Darüber hinaus wird ausdrücklich festgestellt, dass Art. 83 Satz 2 Hs. 1 LV NRW trotz
sprachlicher Abweichung von Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG "dasselbe" meine.
65
In dieser Sichtweise kommt die der Finanzverfassungsreform zugrunde liegende
konzeptionelle Neuorientierung zum Ausdruck. Durch die Änderung von Art. 83 LV
NRW ist der bisherige objektbezogene Deckungsgrundsatz (Kredite nur bei
außerordentlichem Bedarf und in der Regel nur für Investitionsausgaben) aufgegeben
und durch einen situationsbezogenen - an den Erfordernissen des
66
gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts orientierten - Deckungsgrundsatz ersetzt
worden. Dem liegt ein grundlegend gewandeltes Verständnis der Budgetfunktionen
zugrunde. Ausgehend von der Erkenntnis, dass das staatliche Finanzwesen in
erheblichem Umfang auf den allgemeinen Wirtschaftsablauf einwirkt, wird die Funktion
des öffentlichen Haushalts nicht mehr auf die reine Bedarfsdeckung reduziert, sondern
vorrangig ordnungsfinanzpolitisch definiert (vgl. Begründung des Gesetzentwurfs der
Landesregierung, a.a.O., S. 5).
Als zentrales Element der Haushaltsrechtsreform kann dieser Paradigmenwechsel bei
der Auslegung von Art. 83 Satz 2 Hs. 1 LV NRW nicht außer Betracht bleiben. Er legt es
nahe, die ordnungsfinanzpolitische Intention der Vorschrift auch bei der Interpretation
der Wortfolge "in der Regel" zur Geltung zu bringen und dementsprechend eine
Ausnahme von der Regelkreditgrenze grundsätzlich nur zuzulassen, wenn sie der
Bekämpfung einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts dient.
67
Hierfür spricht auch, dass die Neufassung von Art. 83 LV NRW die Kreditaufnahme nicht
mehr an das Vorliegen eines "außerordentlichen Bedarfs" bindet. Dieses
Tatbestandsmerkmal wirkte einerseits begrenzend, indem es eine Kreditfinanzierung
des laufenden Verwaltungsbedarfs ausschloss. Andererseits bot es möglicherweise
Raum für eine Kreditaufnahme aus Anlass einer außerordentlich schlechten Finanzlage
(so für die entsprechend formulierten Regelungen in den dortigen Landesverfassungen:
StGH Hessen, NVwZ-RR 2006, 657, 663; VerfGH Saarland, AS RP-SL 11, 164, 171).
Mit der konzeptionellen Neuausrichtung des Rechts der Staatsverschuldung ist das
Merkmal des "außerordentlichen Bedarfs" als normatives Regulativ der Kreditaufnahme
entfallen und durch das Gebot ihrer Kompatibilität mit den Erfordernissen des
gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts ersetzt worden. Damit ist auf der einen Seite die
Möglichkeit eröffnet, auch Ausgaben des laufenden Verwaltungsbedarfs durch Kredite
zu finanzieren. Auf der anderen Seite kommt einer - wie auch immer zu bestimmenden -
außerordentlich schlechten Finanzlage für sich genommen keine kreditermächtigende
Relevanz mehr zu. Diesem letztgenannten Aspekt würde es tendenziell zuwider laufen,
wenn eine derartige Finanzsituation als Ausnahme von der Kreditbegrenzungsregel des
Art. 83 Abs. 2 Hs. 1 LV NRW qualifiziert würde.
68
cc) Zu diesem Ergebnis gelangt auch die teleologische Auslegung von Art. 83 Satz 2
Hs. 1 LV NRW. Die Vorschrift bezweckt den Schutz künftiger Generationen vor
unbeschränkter Vorwälzung staatlicher Lasten. Bürger und Parlamente der Zukunft
sollen davor bewahrt werden, den zur Bewältigung dann anstehender Probleme nach
ihren Maßstäben benötigten finanziellen Spielraum zu verlieren. Dieser Schutz soll
erreicht werden im Wege einer Kompensation zukunftsbelastender Einnahmen durch
zukunftsbegünstigende Ausgaben (vgl. VerfGH NRW, OVGE 49, 278, 284 = NWVBl.
2003, 419, 423). Der mit der Kreditbegrenzungsregelung verfolgte Schutzzweck gründet
in dem Prinzip der Generationengerechtigkeit und ist zugleich Ausdruck des Respekts
vor der Gestaltungsbefugnis künftiger Gesetzgeber. Der hohe Rang dieser Schutzgüter
legt ein restriktives Verständnis der Vorschrift nahe und spricht daher dafür, dass von
dem Kreditbegrenzungsgebot des Art. 83 Satz 2 Hs. 1 LV NRW grundsätzlich nur zur
Abwehr einer Störung des dort ausdrücklich angesprochenen gesamtwirtschaftlichen
Gleichgewichts und darüber hinaus allenfalls zur Bewältigung einer exzeptionellen
Sondersituation abgewichen werden darf.
69
Unter Berücksichtigung des Schutzzwecks von Art. 83 Satz 2 Hs. 1 LV NRW kommt
eine derartige Sondersituation etwa in Betracht im Falle einer schweren
70
Naturkatastrophe oder eines sonstigen Unglücksfalles mit sehr weitreichenden und
kurzfristig regelungsbedürftigen Schadensfolgen. Sie liegt hingegen nicht schon dann
vor, wenn während des laufenden Haushaltsjahres ein Regierungswechsel erfolgt und
die neue Landesregierung sich aufgrund der vorgefundenen Haushaltssituation nicht in
der Lage sieht, die von ihr als zwingend notwendig erachteten Ausgaben ohne
Überschreitung der Kreditgrenze zu tätigen. Wahlperiode und Haushaltszyklus fallen
nicht zusammen. Jeder neu gewählte Haushaltsgesetzgeber ist - unabhängig davon, ob
sich die politischen Mehrheiten geändert haben oder nicht - mit der Notwendigkeit
konfrontiert, von den jeweils konkret für ihn gegebenen Bedingungen auszugehen und
sein Handeln danach einzurichten. Dies muss selbst dann gelten, wenn ein neu
gewählter Haushaltsgesetzgeber eine Haushaltssituation vorfindet, die ihm keinen
finanziellen Gestaltungsspielraum lässt. Gibt es Versäumnisse früherer
Haushaltsgesetzgeber, muss er mit deren Folgen leben (BVerfGE 79, 311, 340). Sie
sind kein Freibrief für eine beliebige Berufung auf den Ausnahmetatbestand von der
Regelkreditgrenze (BerlVerfGH, NVwZ 2004, 210, 212). Die durch die vorgefundene
Haushaltssituation bedingten temporären Einschränkungen stellen die politischen
Gestaltungsmöglichkeiten des neu gewählten Parlaments nicht völlig in Frage. Denn
diese werden durch das geltende Verfassungsrecht begrenzt, zu dem auch die
restriktive Kreditbegrenzungsregelung des Art. 83 Satz 2 Hs. 1 LV NRW gehört. Die
Vorschrift ist haushaltsverfassungsrechtlicher Ausdruck des Demokratieprinzips. Indem
sie den finanziellen Handlungsspielraum des aktuellen Gesetzgebers beschränkt,
sichert sie die Handlungsfähigkeit künftiger Gesetzgeber. Sie trägt damit dem
demokratischen Anliegen in generationenübergreifender Weise Rechnung. Die
Verwurzelung der Kreditbegrenzungsregelung im Demokratieprinzip schließt es aus,
ihre Verbindlichkeit unter Berufung auf ebendieses Prinzip für den Fall eines
Regierungswechsels während des laufenden Haushaltsjahres zu relativieren. Die
Periodizität der Legitimationserneuerung im Wege der Wahl bei gleichzeitiger
Kontinuität der anstehenden Sach- und Finanzprobleme ist dem demokratischen Prinzip
wesensimmanent. Entsprechendes gilt für die hiermit zwangsläufig einhergehende
anfängliche Einschränkung der Gestaltungsmöglichkeiten des neu gewählten
Parlaments. Das - politisch nachvollziehbare - Anliegen, diese zu erweitern und den
hierfür erforderlichen finanziellen Spielraum bereits im Jahr der Neuwahl zu
erschließen, rechtfertigt nicht eine Hintanstellung des Schutzes künftiger Generationen
vor unbeschränkter Vorwälzung staatlicher Lasten. Dies gilt auch insoweit, als die
Beengtheit des vorgefundenen finanziellen Spielraums auf Mindereinnahmen beruht,
die ihrerseits Folge von unrealistisch hohen Einnahmeansätzen im Stammhaushalt
sind. Soweit dieserhalb trotz gehöriger Sparanstrengungen eine zusätzliche
Kreditaufnahme im Haushaltsvollzug erforderlich wird, ist ein sich hieraus ergebender
Fehlbetrag in den Haushaltsplan des nächsten bzw. zweitnächsten Haushaltsjahres
einzustellen (vgl. § 25 Abs. 3 Satz 1 LHO).
Die Anerkennung der von Landtag und Landesregierung postulierten
Ausnahmebefugnis zur Überschreitung der Verfassungskreditgrenze liefe dem
Schutzzweck von Art. 83 Satz 2 Hs. 1 LV NRW auch deshalb zuwider, weil die
Einschätzung des Haushaltsgesetzgebers, er sei trotz Beschränkung der
Ausgabenseite auf das unbedingt Notwendige zur Einhaltung der Kreditgrenze nicht in
der Lage, nur in eingeschränktem Umfang gerichtlich überprüft werden könnte. Die
Landesverfassung gibt nämlich nicht im Einzelnen vor, welche Ausgaben wann und in
welcher Höhe zu leisten sind. So lässt sich etwa der in Art. 8 Abs. 3 Satz 1 LV NRW
normierten staatlichen Schulförderungspflicht nicht entnehmen, ob und gegebenenfalls
wie viele neue Lehrerstellen im Haushaltsjahr 2005 zu schaffen waren. Ebenso wenig
71
kann aus Art. 8 Abs. 4 LV NRW i.V.m. Art. 7 Abs. 4 GG die exakte Höhe einer etwa
erforderlichen Ersatzschulfinanzierung hergeleitet werden. Bezüglich derartiger Fragen
steht dem Haushaltsgesetzgeber als Ausfluss seines politischen Handlungsermessens
ein Beurteilungsspielraum zu, der es ausschließt, dass das Verfassungsgericht jeden
einzelnen Haushaltsansatz unter dem Gesichtspunkt seiner verfassungsrechtlichen
Unabdingbarkeit bewertet. Eine nur in eingeschränktem Umfang verfassungsgerichtlich
überprüfbare Einschätzung des Haushaltsgesetzgebers bezüglich der Notwendigkeit
von Ausgaben kann jedoch nicht über die Geltungsreichweite der
Verfassungskreditgrenze entscheiden. Andernfalls würde die Ordnungs-, Steuerungs-
und Kontrollfunktion dieses "hochrangigen Verfassungsgrundsatzes" (so BVerfGE 99,
57, 67 zur entsprechenden Vorschrift im schleswig-holsteinischen
Landesverfassungsrecht) weitgehend obsolet.
Entgegen der Ansicht der Landesregierung lässt sich die Gefahr einer "Aushebelung"
der Kontrollfunktion von Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit nicht dadurch
bannen, dass die Entscheidung des Haushaltsgesetzgebers über die Notwendigkeit von
Ausgaben am Maßstab der "Evidenz" überprüft wird. Denn zum einen ist unklar, nach
welchen Kriterien die Evidenz ihrerseits zu bestimmen sein soll. Zum anderen schränkt
dieses Kriterium den gesetzgeberischen Beurteilungsspielraum allenfalls graduell ein,
lässt ihn - und damit die mangelnde Justiziabilität der postulierten Ausnahme vom
Kreditbegrenzungsgebot - im Kern jedoch unberührt.
72
Eine Überschreitung der Kreditgrenze wegen "objektiver Unmöglichkeit" ihrer
Einhaltung ist mit dem Schutzzweck von Art. 83 Satz 2 Hs. 1 LV NRW auch dann nicht
vereinbar, wenn - wie vorliegend - die Landesregierung in dem betreffenden
Haushaltsjahr die Erarbeitung eines Haushaltssanierungskonzepts in Angriff nimmt.
Hierbei handelt es sich um ein Planungsprogramm, das Auskunft darüber gibt, innerhalb
welchen Zeitfensters und durch welche Maßnahmen die Haushaltswirtschaft in eine
Normallage zurückgeführt werden soll. Eine solche Planung hat jedoch keinen Einfluss
auf die verfassungsrechtliche Beurteilung der Kreditgrenzenüberschreitung. Denn ein
Zustand, der einer verfassungsrechtlichen Regel zuwiderläuft, ist nicht deshalb
ausnahmsweise verfassungskonform, weil die Landesregierung bzw. der Gesetzgeber
ihn für die Zukunft abzustellen beabsichtigt. Die in Art. 83 Satz 2 Hs. 1 LV NRW
vorgesehene Möglichkeit einer Ausnahme von der Regelkreditgrenze honoriert nicht
schon das Bemühen um ihre künftige Einhaltung.
73
dd) Die systematische Auslegung von Art. 83 Satz 2 Hs. 1 LV NRW führt zu keinem
anderen Ergebnis.
74
Entgegen der Annahme des Haushaltsgesetzgebers erfährt das
Kreditbegrenzungsgebot keine "Korrektur" durch Art. 109 Abs. 1 GG i.V.m. dem
finanzverfassungsrechtlichen Gebot des Grundgesetzes, dass die Länder in die Lage
versetzt sein müssen, ihre verfassungsrechtlichen Aufgaben zu erfüllen (vgl. die
Begründung zu Art. I des Entwurfs eines Zweiten Nachtragshaushaltsgesetzes 2005 in
Anlage 5 des Gesetzentwurfs der Landesregierung, LT NRW-Drs. 14/300 vom 4.
Oktober 2005, S. 9 f., sub B.II). Diese Rechtsauffassung, die an entsprechende
Erwägungen des Verfassungsgerichtshofs des Landes Berlin (BerlVerfGH, NVwZ 2004,
210, 213) anknüpft, vermag von ihrem Ansatz her nicht zu überzeugen. Denn die
Möglichkeit einer Fruchtbarmachung von Bundesverfassungsrecht im Rahmen der
systematischen Auslegung von Landesverfassungsrecht setzt einen parallelen
thematischen Bezug voraus. Hieran fehlt es bei den in Rede stehenden Bestimmungen.
75
Art. 109 Abs. 1 GG betrifft die Selbständigkeit und Unabhängigkeit der
Haushaltswirtschaft von Bund und Ländern und steht in keinem inhaltlichen
Zusammenhang mit dem Staatsschuldenrecht der Länder. Das Gebot einer
hinreichenden Finanzausstattung der Länder betrifft deren Ausgleichsansprüche
untereinander und im Verhältnis zum Bund und enthält ebenfalls keine Aussage über
die vom Landeshaushaltsgesetzgeber zu beachtende Kreditobergrenze (in diesem
Sinne kritisch auch Pestalozza, LKV 2004, 63, 65; Rossi, DVBl. 2005, 269, 274).
Ebenfalls nicht durchgreifend ist die weitere Erwägung des Haushaltsgesetzgebers, das
Kreditbegrenzungsgebot stehe in einem "Zielkonflikt" mit "bundesgesetzlichen
Vorgaben sowie landesverfassungsrechtlich statuierten Aufgabenstellungen und -
gewährleistungen", der im Wege einer "Abwägungsentscheidung" zu lösen sei (a.a.O.,
S. 14 f., sub B.II.4). Denn der postulierte "Zielkonflikt" ist nicht auf normativer, sondern
auf faktischer Ebene angesiedelt. Es geht also nicht darum, dass die
Geltungsansprüche zweier Normen in einem abstrakten Konkurrenzverhältnis
zueinander stünden, das im Wege der Auslegung aufzulösen wäre. Vielmehr ergibt sich
das geltend gemachte Dilemma erst aus der konkret gegebenen angespannten
Haushaltssituation des Landes. Diese ist maßgeblich bedingt durch die hohe
Staatsverschuldung, der die Kreditbegrenzungsregelung gerade entgegenwirken soll.
Dies spricht gegen eine Relativierung ihrer Verbindlichkeit im Wege eines
systematischen Auslegungsrekurses auf ausgabeninduzierende Rechtsvorschriften. Der
Haushaltsgesetzgeber war hierdurch nicht gehindert, seiner Auffassung nach
bestehenden verfassungswidrigen Zuständen - etwa im Bereich der
Ersatzschulfinanzierung - durch Bewilligung von Nachtragshaushaltstiteln abzuhelfen.
Er war allerdings gehalten, die hierfür erforderlichen Mittel durch anderweitige
Einsparungen zu erwirtschaften oder den entsprechenden Fehlbetrag gemäß § 25 Abs.
3 LHO in den Haushaltsplan des Jahres 2006 bzw. 2007 einzustellen.
76
Im Übrigen fehlt es hinsichtlich der vom Haushaltsgesetzgeber in seine "Abwägung"
eingestellten "landesverfassungsrechtlich begründete(n) Leistungspflichten" an einer
näheren Konkretisierung ihrer normativen Grundlagen. In Betracht kommen
Grundrechtsbestimmungen, Staatszielregelungen oder auch Verfassungsaufträge (vgl.
Pestalozza, LKV 2004, 63, 65; Rossi, DVBl. 2005, 269, 274). Ihnen allen ist gemein,
dass sie ein weitgehend unbestimmtes Normprogramm beinhalten und keine
unmittelbaren Leistungspflichten begründen. Aufgrund ihres eher globalen Charakters
sind diese Bestimmungen strukturell ungeeignet, die präzisen normativen Vorgaben des
Kreditbegrenzungsgebots zu relativieren.
77
Der von Landtag und Landesregierung angeführte allgemeine Rechtsgrundsatz, dem
zufolge Unmögliches nicht verlangt werden kann, mag auch im Haushaltsrecht
grundsätzlich Geltung beanspruchen. Er berührt jedoch nicht die Verbindlichkeit des
Kreditbegrenzungsgebots, sondern mag im Falle einer - etwaigen - Unmöglichkeit
seiner Einhaltung die Entscheidungsträger von einer persönlichen Verantwortung
freistellen.
78
II.
79
Art. I Nr. 1 2. NHG 2005 in Verbindung mit § 1 Nr. 2 HG 2004/2005 in Verbindung mit
Einzelplan 12 Kapitel 12 700 Titel 831 10 016 und Einzelplan 20 Kapitel 20 610 Titel
831 31 872 ist mit der Landesverfassung vereinbar. Die Regelung verstößt namentlich
nicht gegen das finanzverfassungsrechtliche Wirtschaftlichkeitsgebot.
80
1. Das Wirtschaftlichkeitsgebot ist ein Verfassungsgrundsatz, der auch den
Haushaltsgesetzgeber bindet. Er stellt sich als finanzrechtliche Ausprägung des
rechtsstaatlichen Verhältnismäßigkeitsprinzips dar, das auch dem nordrhein-
westfälischen Verfassungsrecht immanent ist und alle Staatsgewalt bindet. Die
Verwurzelung im Verhältnismäßigkeitprinzip prägt den Inhalt des
Wirtschaftlichkeitsgebots. Es verlangt, in jedem Haushaltsjahr bei allen Maßnahmen die
günstigste Relation zwischen dem gesteckten Ziel und den eingesetzten Mitteln
anzustreben. Dies schließt das Erfordernis ein, ein bestimmtes Ziel mit dem geringst
möglichen Einsatz von Mitteln zu erreichen. Hieraus ergeben sich Maßgaben auch für
die Kreditermächtigung und Kreditaufnahme der öffentlichen Hand sowie die
Verwendung von Kreditmitteln. Danach widerspricht eine Kreditaufnahme im Regelfall
dem Wirtschaftlichkeitsgebot, wenn ihr in dem Haushaltsjahr, auf das sie sich bezieht,
kein entsprechender Ausgabenbedarf gegenübersteht (vgl. VerfGH NRW, OVGE 49,
278, 282 f. = NWVBl. 2003, 419, 422).
81
2. Hiervon ausgehend verstoßen die Kapitalzuführungen an den BLB NRW und an die
BVG NRW nicht gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot.
82
a) Die Eigenkapitalzuführung an den BLB NRW in Höhe von 613,6 Mio. EUR dient
ausweislich der dem Haushaltstitel 831 10 016 beigegebenen Begründung der Tilgung
von Kreditmarktverbindlichkeiten mit dem Ziel der liquiditätsmäßigen Absicherung von
schadstoffbedingten Altlasten und zur Durchführung von Brandschutzmaßnahmen. Dem
liegt zugrunde, dass die Eröffnungsbilanz des BLB NRW zum 1. Januar 2001 zwar eine
diesbezügliche Rückstellung in Höhe von 613,6 Mio. EUR ausweist, ihm jedoch die
hierfür erforderlichen Mittel seitens des Landes nicht zur Verfügung gestellt worden sind.
Diese Unterlassung hat wesentlich zur Unterfinanzierung des BLB NRW beigetragen
(vgl. die Begründung zu Art. I des Entwurfs eines Zweiten Nachtragshaushaltsgesetzes
2005 in Anlage 5 des Gesetzentwurfs der Landesregierung, LT NRW-Drs. 14/300 vom
4. Oktober 2005, S. 12, sub B.II.2). Sie ist infolgedessen mitursächlich für die sukzessive
Verschlechterung der Vermögens- und Finanzlage des BLB NRW, die sich ausweislich
der Bilanz zum 31. Dezember 2004 in einem nicht durch Eigenkapital gedeckten
Fehlbetrag - mithin einer bilanziellen Überschuldung - in Höhe von 275,3 Mio. EUR
manifestiert (LT NRW-Vorlage 14/174, S. 28). Bei dieser Sachlage war die Zuführung
frischen Eigenkapitals erforderlich, um die für eine Wirtschaftsführung nach
kaufmännischen Grundsätzen (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 1des Bau- und
Liegenschaftsbetriebsgesetzes - BLBG -) erforderlichen finanziellen
Rahmenbedingungen zu gewährleisten. Diese Einschätzung wird nicht in Frage gestellt
durch die unsubstantiierte Einlassung der Antragsteller, der BLB NRW habe sich
allenfalls in einer "angespannten" Liquiditätssituation befunden, aber keiner
"Rettungsaktion" bedurft.
83
b) Die Kapitalzuführung an die BVG NRW in Höhe von 330,0 Mio. EUR soll diese
ausweislich der dem Haushaltstitel 831 31 872 beigegebenen Begründung in die Lage
versetzen, sich am Kapitalmarkt zu entschulden. Diese Maßnahme trägt der im
Zeitpunkt der Verabschiedung des Zweiten Nachtragshaushaltsgesetzes 2005
angespannten finanziellen Situation der BVG NRW in angemessener Weise Rechnung.
Aus dem Jahresabschluss der Gesellschaft zum 31. Dezember 2004 (LT NRW-Vorlage
14/491, S. 5) ergab sich ein Jahresfehlbetrag in Höhe von 385,7 Mio. EUR. Das
Eigenkapital betrug nach der auf denselben Stichtag bezogenen Bilanz (a.a.O., S. 4)
58,6 Mio. EUR; dies entsprich bei einer Bilanzsumme von insgesamt 397,5 Mio. EUR
84
einer Eigenkapitalquote von lediglich 14,7 %. Die Verbindlichkeiten beliefen sich auf
338,8 Mio. EUR. Angesichts dieser finanzwirtschaftlichen Kennzahlen war die BVG
NRW zur Sicherung ihrer Zahlungsfähigkeit auf die Kapitalzuführung durch das Land
als ihres Alleingesellschafters angewiesen (vgl. Lagebericht für das Geschäftsjahr 2004,
a.a.O., S. 16). Dieser Einschätzung haben die Antragsteller Substantiiertes nicht
entgegengesetzt.
III.
85
Art. I Nr. 1 2. NHG 2005 in Verbindung mit § 1 Nr. 2 HG 2004/2005 in Verbindung mit
Einzelplan 20 Kapitel 20 010 ist mit der Landesverfassung vereinbar. Die Regelung
verstößt namentlich nicht gegen den Grundsatz der Haushaltswahrheit.
86
1. Der Grundsatz der Haushaltswahrheit konkretisiert das verfassungsrechtliche Prinzip
der Vollständigkeit des Haushaltsplans nach Art. 81 Abs. 2 LV NRW. Er ist bei der
verfassungsrechtlichen Kontrolle von Haushaltsgesetzen als Maßstab heranzuziehen.
Der Grundsatz gebietet, die Einnahmen und Ausgaben in der Höhe zu veranschlagen,
in der sie aller Voraussicht nach in der kommenden Haushaltsperiode anfallen bzw. zu
leisten sind. Der Forderung nach Haushaltswahrheit sind allerdings Grenzen gesetzt, da
die Haushaltsplanung zwangsläufig mit Prognosen arbeitet. Schwierigkeiten bereitet vor
allem die Veranschlagung der Steuereinnahmen, deren Höhe von der nicht präzise
voraussehbaren gesamtwirtschaftlichen Entwicklung abhängt. Vom
Haushaltsgesetzgeber kann insoweit nicht mehr verlangt werden als eine auf
vernünftigen Erwägungen beruhende Schätzung, für die er über einen
Prognosespielraum verfügt. Der Grundsatz der Haushaltswahrheit ist dementsprechend
erst bei vorsätzlicher Verschleierung oder fahrlässiger Fehleinschätzung verletzt
(VerfGH NRW, OVGE 49, 278, 289 = NWVBl. 2003, 419, 425).
87
2. Hiervon ausgehend verstößt der Umstand, dass im Rahmen des Zweiten
Nachtragshaushaltsgesetzes 2005 von einer Erhöhung des Steueransatzes abgesehen
worden ist, nicht gegen den Grundsatz der Haushaltswahrheit.
88
Die tatsächlichen Steuereinnahmen im Haushaltsjahr 2005 überschreiten das
veranschlagte Aufkommen um 360,7 Mio. EUR. Das entspricht einer Abweichungsquote
von 1,05 %, die im langfristigen Vergleich mit früheren Haushaltsjahren im unteren
Bereich liegt. Ausweislich der von Landtag und Landesregierung vorgelegten Statistik
schwankten die Abweichungen von Soll- und Ist-Wert in den Jahren 1961 bis 2004
zwischen +10,08 % und -8,11 %. Nur elf Mal lag die Differenz unter dem Wert für 2005.
Wenngleich bei der Würdigung der Schätzabweichung zu berücksichtigen ist, dass das
Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2005 erst kurz vor Jahresende verabschiedet worden
ist, spricht doch bereits ihre relative Geringfügigkeit gegen die Annahme einer
vorsätzlichen Verschleierung oder fahrlässigen Fehleinschätzung der
Steuereinnahmen.
89
Im Übrigen haben Landtag und Landesregierung nachvollziehbar dargelegt, warum die
Prognose des "Arbeitskreises Steuerschätzung" vom 2./3. November 2005, der zufolge
für die Ländergesamtheit Steuermehreinnahmen in Höhe von 1,2 Mrd. EUR zu erwarten
waren, keinen Anlass zu einer Erhöhung des Steueransatzes für das Haushaltsjahr
2005 gegeben hat. Dieser berücksichtigte eine überdurchschnittlich hohe
Einnahmesteigerung im Land Nordrhein-Westfalen bereits dadurch, dass er trotz der im
Mai 2005 vom "Arbeitskreis Steuerschätzung" prognostizierten Mindereinnahmen in
90
Höhe von 2,5 Mrd. EUR nicht abgesenkt worden war. Das Absehen von einer Erhöhung
des Steueransatzes war zudem durch das Vorsichtsprinzip gerechtfertigt, das die
Berücksichtigung verschiedener Risikofaktoren gebot. Namentlich waren
Mindereinnahmen im Rahmen der Umsatzsteuerabrechnung sowie umfängliche
Erstattungen im Bereich der Körperschaftssteuer zu erwarten. Vor diesem Hintergrund
war die Prognose der im Monat Dezember anfallenden Steuereinnahmen mit großen
Unsicherheiten behaftet. Ihre zurückhaltende Einplanung entsprach den Erfordernissen
einer verantwortungsvollen Haushaltsplanung. Der Umstand, dass sich die
Risikofaktoren in der Folgezeit nicht oder nur teilweise realisiert haben, lässt entgegen
der Annahme der Antragsteller retrospektiv nicht darauf schließen, dass durch eine
"taktisch motivierte Veranschlagungspolitik" eine "verzerrendes Bild der
finanzpolitischen Realitäten und Verantwortlichkeiten gezeichnet" werden sollte.