Urteil des SozG Würzburg vom 17.03.2008

SozG Würzburg: behandlung, leistungsanspruch, form, krankenversicherung, versorgung, zahnfehlstellung, entlastung, kieferorthopädie, erstellung, kieferanomalie

Sozialgericht Würzburg
Urteil vom 17.03.2008 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Würzburg S 4 KR 727/06
I. Die Klage wird abgewiesen. II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte der Klägerin eine kieferorthopädische Behandlung zu bewilligen
hat.
Die 1970 geborene Klägerin, die im Verwaltungsverfahren noch unter dem früheren türkischen Namen K. geführt
wurde, hat der Beklagten mit Schreiben vom 27.07.2004 einen kieferorthopädischen Behandlungsplan mit
Kostenaufstellung der Praxis für Kieferorthopädie Dr. K. zugeleitet und um Genehmigung gebeten. Hierin wurde eine
kieferchirurgisch-kieferorthopädische Kombinationsbehandlung mit sagittaler Spaltung des Unterkiefers und
Rückverlagerung bzw. Verkürzung des Unterkiefers vorgesehen.
Die Beklagte fragte bei der kieferorthopädischen Praxis an, ob bei der Klägerin eine schwere Kieferanomalie vorliege.
Auch wenn hierauf keine Antwort einging, beauftragte die Beklagte im Folgenden den Medizinischen Dienst der
Krankenversicherung in Bayern mit der Erstellung eines sozialmedizinischen Gutachtens nach Aktenlage. Dr. M.
äußerte sich dazu, dass keine ausreichenden Behandlungsunterlagen vorliegen würden. Daraufhin lehnte die Beklagte
mit Bescheid vom 16.09.2004 eine Kostenübernahme ab. Eine kieferorthopädische Behandlung komme nach § 28
(Abs. 6 und 7) des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) nur in Betracht, wenn eine schwere Kieferanomalie
vorliege. Dies sei aus dem Behandlungsplan nicht ersichtlich gewesen und weitere Unterlagen seien nicht einholbar
gewesen.
Hiergegen legte die Klägerin mit Schreiben vom 20.09.2004 Widerspruch ein.
Nach Vorlage der entsprechenden Röntgenaufnahmen wurde ein weiteres Aktenlagegutachten durch Dr. M. am
12.10.2004 erstellt. Eine KIG-Einstufung (= Kieferorthopädische Indikationsgruppe) liege nicht vor; die medizinische
Notwendigkeit von kombiniert kieferorthopädisch-kieferchirurgischen Maßnahmen sei nicht nachgewiesen. Diesen
Sachverhalt teilte die Beklagte der Klägerin mit Schreiben vom 25.10.2004 mit.
Im Folgenden wurde von der Klägerseite eine ärztliche Bescheinigung des Universitätsklinikums F., Klinik für Mund-,
Kiefer- und plastische Gesichtschirurgie vom 28.11.2005 vorgelegt. Hierzu holte die Beklagte ein weiteres Gutachten,
nunmehr durch den Zahnarzt für Kieferorthopädie Dr. R. ein. Dieser kam zum Ergebnis, dass die vorliegende
Dysgnathie eine Behandlung über die gesetzliche Krankenversicherung nicht zulasse, da am Modell keine
Abweichungen gemessen werden konnten, die die Einstufung in die KIG 3, 4 oder 5 rechtfertigen würden.
Mit Widerspruchsbescheid vom 04.10.2006 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück. Ein Anspruch auf
kieferorthopädische Behandlung bestehe wegen der Einschränkungen des § 28 SGB V nur für Versicherte der
medizinisch begründeten Indikationsgruppen, bei denen eine Kiefer- oder Zahnfehlstellung vorliege, die das Kauen,
Beißen, Sprechen oder Atmen erheblich beeinträchtige oder zu beeinträchtigen drohe (§ 29 Abs. 1 SGB V). Nach den
KFO-Richtlinien i.V.m. § 29 Abs. 4, 92 SGB V sei mindestens eine Einstufung in den Behandlungsbedarfgrad 3 der
Indikationsgruppen für eine Behandlung zu Lasten der Krankenkasse erforderlich. Aufgrund der gutachterlichen
Feststellungen habe sich ergeben, dass ein Behandlungsbedarfsgrad 3 nicht vorliege.
Daraufhin erhob die Klägerin mit Schreiben vom 15.10.2006 Klage zum Sozialgericht Würzburg.
Der Klägerin wurde im Folgenden Prozesskostenhilfe unter Beiordnung eines von ihr benannten Rechtsanwaltes
bewilligt, da weitere Beweisaufnahme erforderlich erschien.
Nach langwierigen Ermittlungen bei den behandelnden Zahnärzten bzw. der für die Behandlung vorgesehenen
Kieferorthopädin Dr. K., konnte das Gericht mit Beweisanordnung vom 03.12.2007 den Kieferorthopäden Dr. Kx. mit
der Erstellung eines ärztlichen Sachverständigengutachtens beauftragen. Dieser beschrieb als Gesundheitsstörungen
der Klägerin auf kieferorthopädischem Gebiet eine dental-kompensierte Progenie, bei der die Kiefergelenke dauerhaft
überlastet würden und bereits krankhaft verändert seien. Im Vergleich zu den Modellen von Juli 2004 zeige sich, dass
sich der Überbiss mit der Zeit vertieft habe. Eine Progenie dieser Größenordnung bedürfe kieferorthopädischer
Maßnahmen und chirurgisch-operativer Kieferkorrekturen um die schwere Kau- und Funktionsstörung zu beheben.
Sowohl in den Modellen von 2004 als auch von 2008 sei jedoch eine kieferorthopädische Indikationsgruppe von 3 oder
mehr nicht festzustellen. Dies habe sich aus der prothetischen Kompensation im Rahmen der Vorbehandlung der
Progenie ergeben. Das grobe KIG-Schema könne das komplexe Krankheitsbild in seiner Schwere nicht erfassen, da
die zutreffende Einteilung KIG 2 üblicherweise nur für geringgradige Fehlstellungen bei leichten Drehständen zutreffe.
Eine kombinierte kieferorthopädische und kieferchirurgische Behandlung könne im Rahmen der Richtlinien dann
erreicht werden, wenn durch eine Schienenbehandlung zur Entlastung der Kiefergelenke, eine Neupositionierung des
Unterkiefers eintrete, die dann auch den tatsächlichen Schweregrad von KIG 3 oder mehr abbilde. Die Feststellungen
der Vorgutachter seien entsprechend der gutachterlichen Beauftragung aus ärztlicher Sicht korrekt erfolgt.
Die Klägerin lässt vortragen, dass ohne die prothetische Kompensation ein Kreuzbiss und damit ein
Behandlungsanspruch vorgelegen hätte; dieser Sonderfall könne zu keiner Änderung der Rechtslage führen.
Die Beklagte sieht aufgrund der vorliegenden Richtlinien keine Leistungspflicht gegeben.
Die Beteiligten erklären ihr Einverständnis über eine Entscheidung des Gerichts ohne mündliche Verhandlung (§ 124
Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG), wobei die Klägerseite ergänzend vorträgt, dass die Klägerin vorübergehend in die
Schweiz verzogen sei.
Die Klägerin beantragt,
I. Der Bescheid der Beklagten vom 16.09.2004 in Form des Widerspruchsbescheides vom 04.10.2006 wird
aufgehoben. II. Die kieferorthopädisch-kieferchirurgische Kombinations behandlung gemäß Behandlungsplan der
Kieferorthopädin Dr. K. vom 26.07.2004 wird genehmigt.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zum Verfahren beigezogen waren die Akten der Beklagten und Kiefermodelle von Frau Dr. K. Zur Ergänzung des
Tatbestands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Akten und Unterlagen sowie der ärztlichen
Gutachten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig. Sie wurde form- und fristgerecht beim örtlich und sachlich zuständigen Sozialgericht erhoben
(§§ 51, 54, 57, 87, 90 SGG). Dass die Klägerin sich derzeit in der Schweiz aufhält, ist für die Frage der örtlichen
Zuständigkeit ohne Belang, da hier der Wohnsitz der Klägerin zum Zeitpunkt der Klageerhebung maßgeblich ist.
Über die entscheidungsreife Klage konnte auch ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, nachdem die
Beteiligten sich mit Schreiben vom 20.02.2008 und vom 05.03.2008 mit einer Entscheidung ohne mündliche
Verhandlung einverstanden erklärt haben.
Die Klage ist aus Sicht des Gerichtes nicht begründet und die Klägerin hat derzeit keinen Anspruch gegenüber der
Beklagten auf Genehmigung einer entsprechenden kieferorthopädisch-kieferchirurgischen Behandlung.
Die Klägerin ist nach § 10 Abs. 1 SGB V über ihren Ehegatten bei der Beklagten familienversichert. Auf die Frage, ob
ein inländischer Wohnsitz weggefallen ist und somit gegebenenfalls § 10 Abs. 1 Nr. 1 SGB V aktuell nicht mehr erfüllt
ist, kam es aus Sicht des Gerichtes nicht an, da die übrigen Leistungsvoraussetzungen sowohl in der Vergangenheit
als auch gegenwärtig nicht gegeben sind.
§ 29 Abs. 1 SGB V bestimmt, dass Versicherte Anspruch auf kieferorthopädische Versorgung in medizinisch-
begründeten Indikationsgruppen haben, bei denen eine Kiefer- oder Zahnfehlstellung vorliegt, die das Kauen, Beißen,
Sprechen oder Atmen erheblich beeinträchtigt oder zu beeinträchtigen droht. Diese Indikationsgruppen werden nach §
29 Abs. 4 SGB V vom gemeinsamen Bundesausschuss in Richtlinien nach § 92 Abs. 1 SGB V befundbezogen
bestimmt, wobei auch einzuhaltende Standards zur kieferorthopädischen Befunderhebung und Diagnostik vorzugeben
sind. Aus der Formulierung der Vorschrift ergibt sich, dass ein Leistungsanspruch nur bei Erfüllung bestimmter
genannter Indikationsgruppen gegeben ist; das allgemeine Vorliegen von Anomalien reicht nicht aus. Die Richtlinien
des Bundesausschusses der Zahnärzte und Krankenkassen für die kieferorthopädische Behandlung sehen im
Abschnitt B Nr. 3 vor, dass zur vertragszahnärztlichen Versorgung gemäß § 29 Abs. 1 SGB V eine
kieferorthopädische Behandlung gehört, wenn bei ihrem Beginn ein Behandlungsbedarf anhand der befundbezogenen
kieferorthopädischen Indikationsgruppen gemäß Anlage I zu den Richtlinien festgestellt wurde und eine Einstufung
mindestens in den Behandlungsbedarfsgrad 3 der Indikationsgruppen erfolgt ist.
Für das Gericht ergibt sich aufgrund der übereinstimmenden ärztlichen Feststellungen, dass dieser Bedarfsgrad 3 bei
der Klägerin nicht vorliegt und es somit an der entsprechenden Leistungsvoraussetzung fehlt. Daran ändert sich aus
Sicht des Gerichtes auch nichts dadurch, dass vom gerichtsärztlichen Sachverständigen Dr. Kx. überzeugend
dargelegt wurde, dass die kieferorthopädischen Indikationsgruppen im Fall der Klägerin das Ausmaß der
Gesundheitsstörungen nur unzureichend abbilden würden.
Den kieferorthopädischen Richtlinien kommt im Unterschied zu anderen Richtlinien im Bereich der
Krankenversicherung nicht nur verwaltungsinterner Auslegungscharakter für gesetzliche Leistungsansprüche zu,
sondern § 29 SGB V ist so gestaltet, dass der Leistungsanspruch sich ausschließlich auf die durch die Richtlinien
geschaffenen Indikationsgruppen bezieht. Für einen darüber hinausgehenden Leistungsanspruch, zu dem das Gericht
die Beklagte verurteilen könnte, verbleibt somit kein Raum.
Allenfalls könnte daran gedacht werden, dass die Vorschrift des § 29 SGB V i.V.m. den kieferorthopädischen
Richtlinien gegen höherrangiges Recht verstoßen würde. Einen Verstoß gegen das Sozialstaatsprinzip durch eine
fehlende Öffnungsklausel konnte das Gericht im Fall der Klägerin jedoch nicht erblicken, da für die Behandlung der
Klägerin eine Behandlungsmöglichkeit im Bereich der Kassenleistungen zunächst in Form einer Schienenbehandlung
vorhanden ist, die zu einer Entlastung des Kiefergelenks führen kann, wie vom ärztlichen Sachverständigen Dr. Kx.
aufgezeigt wurde. Erst nach Abschluss dieses Behandlungsschrittes ist zu prüfen, ob im Anschluss daran eine
Indikationsgruppe im Rahmen der kieferorthopädischen Richtlinien dann vorliegt, eine hinreichende
Besserungssituation bereits geschaffen wurde oder aufgrund einer Unvollständigkeit gesetzlicher und
untergesetzlicher Regelungen der Klägerin möglicherweise ein weitergehender Leistungsanspruch zugebilligt werden
müsste.
Im Übrigen war es aus Sicht des Gerichtes nicht von wesentlicher Bedeutung, dass die Klägerin nur einen
kieferorthopädischen und keinen kieferchirurgischen Behandlungsplan vorgelegt hatte. Zwischenzeitlich hat die
Beklagte sich dahingehend eingelassen, dass es sich bei der für die Behandlung vorgesehenen Kieferorthopädin um
eine Ärztin mit entsprechender Kassenzulassung handelt.
Entsprechend den Darlegungen des Gerichts waren die angefochtenen Bescheide der Beklagten jedenfalls im
Ergebnis nicht zu beanstanden und die Klage war abzuweisen.
Aus der Klageabweisung ergibt sich, dass der Klägerin außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten sind (§ 193 SGG).