Urteil des SozG München vom 05.03.2009

SozG München: versorgung, posten, pflegezulage, nachzahlung, vertreter, schmerzensgeld, gewalt, gewissheit, sorgfalt, form

Sozialgericht München
Urteil vom 05.03.2009 (rechtskräftig)
Sozialgericht München S 30 VG 2/08
I. Die Klage gegen den Bescheid vom 21.10.1993 in der Gestalt des Teilabhilfebescheides vom 19.11.2002 und des
Widerspruchsbescheides vom 03.12.2007 wird abgewiesen. II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Streitig zwischen den Beteiligten ist die Versagung einer Versorgung nach dem Opferent-schädigungsgesetz (OEG)
wegen Unbilligkeit für die Zeit von Juni 1992 bis Dezember 1995 nach einer Gewalttat vom 28.06.1992. Die Klägerin
ist geboren 1941. Sie beantragte am 02.09.1992 eine Versorgung nach dem OEG, nachdem sie am 28.06.1992 Opfer
einer extremen Gewalttat geworden war. Ihr E-hemann hatte ihr mit einer Pistole ins Gesicht geschossen mit der
Folge eines Trümmer-bruches das fünften Halswirbelkörpers und einer hierdurch bedingten bleibenden vierfa-chen
Querschnittlähmung. Die Klägerin hatte vor der Tat ein Modegeschäft in Garmisch-Partenkirchen betrieben. Im Laufe
des Verwaltungsverfahrens wurde u. a. eine notarielle Vereinbarung vom 27.04.1993 vorgelegt, wonach die Klägerin
einen Schadensersatzbetrag von DM 500.000 erhalten solle, hiervon DM 300.000 als Schmerzensgeld, DM 100.000
als materiellen Schadensersatz und DM 100.000 als Vorschuss zur freien Verrechnung auf beide Posten. Mit
Bescheid vom 21.10.1993 lehnte der beklagte Freistaat die Versorgung ab und stützte seine Entscheidung auf § 2
Abs. 1 OEG mit der Begründung, die anderweitig erlangte Ent-schädigung führe zur Unbilligkeit der Versorgung. Mit
ihrem Widerspruch wies die Klägerin auf die außergewöhnlich schweren Folgen der Tat hin. Den Aufwand für Pflege
und Unter-bringung bezifferte sie monatlich mit 6.644,00 DM und rechnete den zu erwartenden Ge-samtschaden auf
mehr als 4 Millionen DM hoch. Der Beklagte gelangte in einer Beurtei-lung vom 04.08.1994 zu einer Minderung der
Erwerbsfähigkeit (MdE) der Klägerin von 100 v.H. sowie der Anerkennung der Voraussetzungen für eine Pflegezulage
nach Stufe V. 1997 wurde berichtet, dass die Klägerin ihre Arme wieder in geringem Umfang gebrauchen könne. Der
vom Landgericht München II am 29.04.1993 wegen versuchten Mordes zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren und
anschließender Unterbringung in einer Entziehungsanstalt verurteilte Schädiger starb am 18.06.1999. Am 29.07.2002
erstellte der Vertreter der Klägerin eine aktualisierte Schadensabrechnung. Den bislang angefallenen materiellen
Schaden bezifferte er mit DM 1.042.558,20 und den immateriellen Schaden mit mindes-tens DM 700.000. Die Klägerin
habe vom Schädiger bisher erhalten DM 1.146.903,90, von denen DM 436.574,97 dem immateriellen Schaden
zugerechnet wurden. Unter Berück-sichtigung der für die meisten Zahlungseingänge ausdrücklichen Zuordnung zu
immateriel-len bzw. materiellen Schäden und der gewünschten Zuordnung zweier nicht präzise ge-widmeter weiterer
Zahlungen ergebe sich die Tilgung des immateriellen Schadens mit DM 700.000 und bis 31.12.1998 ein Fehlbetrag
von DM 595.654,30 vom materiellen Schaden. Mit einem Teilabhilfebescheid vom 19.11.2002 erkannte der Beklagte
als Schädigungsfol-gen an 1. Halswirbelkörperfraktur C 5 mit inkompletter Querschnittslähmung, 2. operierte
Halsschlagaderaussackung rechts; Hirninfarkt rechts nach Verschluss der rechten vorderen Gehirnarterie, 3.
konsolidierte Fraktur des rechten Unterkiefers. Die MdE wurde mit 100 v.H. eingestuft. Gegen einen
Leistungsanspruch wurde ausgeführt: "In Ihrem Falle liegen folgende Gründe für eine Versorgung vor: Da Sie sich mit
dem Schä-diger über Schadensersatzleistungen geeinigt haben und daher bei Zahlung der Opferent-schädigung
doppelte Leistungen erhalten würden. Dabei sind alle Umstände des Einzel-falls zu berücksichtigen, insbesondere
wenn zu einem späteren Zeitpunkt Umstände ein-treten, die der Durchsetzbarkeit des Vergleichsbetrages
entgegenstehen. Da solche Um-stände eingetreten sind, wird Ihrem Widerspruch insofern abgeholfen. Vorerst werden
Ihnen Versorgungsbezüge ab 01.01.1996 erbracht. Ob für die Zeit vor dem 01.01.1996 Ver-sorgungsbezüge zu
erbringen sind, wird noch geprüft." Des weiteren wurde der Anspruch der Klägerin auf Schwerstbeschädigtenzulage
der Stu-fe VI nach § 31 Abs. 5 Bundesversorgungsgesetz (BVG) und auf Pflegezulage der Stufe V nach § 35 Abs. 1
BVG und auf Berufsschadensausgleich nach § 30 Abs. 3 BVG aner-kannt. Ein weiterer Bescheid vom 03.12.2002
setzte laufende Leistungen für die Klägerin ab Ja-nuar 2003 in Höhe von monatlich EUR 2716,00 fest und berechnete
die Nachzahlung von 01.01.1996 bis 31.12.2002 mit EUR 217.312,00. Ein erneuter Bescheid vom 17.04.2003 stellte
die Leistungen nach Bezifferung des Berufsschadensausgleichs neu fest, errechne-te eine weitere Nachzahlung von
EUR 10.551,00 und benannte die ab Juni 2003 laufende Leistungen mit EUR 2851,00. Am 01.07.2005 nahm der
Beklagte in einem Aktenvermerk eine ausführliche Berechnung zum Vergleich der Ansprüche nach dem OEG mit den
auf privatrechtlicher Basis erlangten Beträgen vor. Darin wurde der bereits oben genannte Betrag der Leistungen des
Schädi-gers mit DM 1.146.903,90 bestätigt. Darin sei ein Schmerzensgeld von DM 700.000,07 enthalten. Die
restlichen DM 346.903,92 hätten dem Ersatz des materiellen Schadens ge-dient. Nach dem OEG wären für die Zeit
vom 28.06.1992 bis 31.12.1995 entweder DM 215.439,00 oder die Pflegeheimkosten zusätzlich der Grundrente zu
erbringen. Den materiellen Schaden der Versorgungsberechtigten errechnete man mit DM 412.505,80, worin eine
Gewinnbeteiligung von DM 129.908,00 und die Pflegeheimkos-ten mit DM 239.184,00 die größten Posten waren. Als
Bilanz hielt der Beklagte fest, im Falle der Versagung der Leistungen nach dem OEG habe die Klägerin im offenen
Leistungszeitraum keinen Schaden, sondern immer noch einen positiven Saldo von DM 34.398,12. Bei Erbringung der
Leistungen nach dem OEG käme es jedoch zu einer Überkompensation in Höhe von DM 249.837,12. Mit Schreiben
vom 04.01.2006 gab der Beklagte den Vertretern der Klägerin diese Überlegungen zur Kenntnis. Diese wendeten ein,
ein Einnahmeverlust aus dem Einzelhandelsgeschäft in Höhe von DM 129.908,00 sei noch nicht berücksichtigt
worden, so dass jedenfalls dieser Betrag als restlicher Versorgungsanspruch für Juni 1992 bis Dezember 1995
zustehe. Mit Widerspruchsbescheid vom 03.12.2007 wies der Beklagte den immer noch offenen Widerspruch vom
11.11.1993 zurück, soweit ihm nicht mit dem Bescheid vom 19.11.2002 abgeholfen worden war. Die vom Vertreter der
Klägerin zuletzt erhobene Forderung wurde mit der Begründung abgewiesen, dass es sich beim Sozialen
Entschädigungsrecht nicht um eine Schadensersatzregelung handele. Entgangene Schadensersatzansprüche dürften
nicht gegenüber der Solidargemeinschaft durchgesetzt werden. Mit der Klage wiederholt die Klägerin ihre Forderung
nach einer Versorgung entsprechend dem OEG auch für die Zeit vom 28.06.1992 bis 31.12.1995. Für die vom
Beklagten einge-wendete Unbilligkeit fehle es an der Kongruenz der Schadenspositionen. Die Leistungen nach dem
OEG würden erbracht, weil der Staat seinen Schutzauftrag gegenüber dem Ge-schädigten nicht erfüllen konnte; der
Ausgleich zwischen den Beteiligten diene hingegen der Wiederherstellung des Rechtsfriedens. Zu Gunsten der
Klägerin sei das Quotenvor-recht nach § 81 a Abs. 1 S. 3 BVG zu berücksichtigen. Keine der in § 2 OEG
aufgeführten Fallgruppen der Unbilligkeit sei vorliegend gegeben.
Die Klägerin beantragt, den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 21.10.1993 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 03.12.2007 zu verurteilen, der Klägerin für die Zeit von 29.06.1992 bis 31.12.1995
Leistungen der Opferentschädigung zu zahlen.
Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Das Gericht hat die Akten des Beklagten beigezogen. Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die Prozessakte
sowie auf den gesamten Akteninhalt verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage wurde nach Durchführung des gesetzlich vorgeschriebenen Widerspruchsver-fahrens form- und fristgerecht
beim zuständigen Gericht erhoben und ist somit zulässig. Sie ist jedoch in der Sache nicht begründet. Das Gericht
kann die mit großer Sorgfalt getroffene Entscheidung gegen einen Versorgungsanspruch für die ersten dreieinhalb
Jahre nach der Gewalttat nicht beanstanden. Die Auseinandersetzung des Gerichts mit dem An-spruch der Klägerin
geschieht in dem Bewusstsein der außerordentlichen Schwere ihres durch besonders brutale Gewalt hervorgerufenen
Leides. Das Gericht bestätigt die rechts-technischen und rechnerischen Feststellungen der Beklagten in der
Gewissheit, der Kläge-rin damit keine zusätzlichen Schwierigkeiten in ihrer aktuellen von fremder Hilfe außeror-
dentlich abhängigen Lebensbewältigung zu schaffen. § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG gibt demjenigen einen Anspruch auf
staatliche Versorgung, der in-folge eines vorsätzlichen rechtswidrigen Angriffs gegen seine oder eine andere Person
ei-ne gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Auf das Bundesversorgungsgesetz (BVG) wird verwiesen. § 30 Abs. 1
Satz 1 BVG gebietet zur Prüfung des Anspruchs auf Beschädigten-rente die Beurteilung der MdE (seit 01.01.2008
Grad der Schädigungsfolgen, GdS) nach der körperlichen und geistigen Beeinträchtigung im allgemeinen
Erwerbsleben; dabei sind seelische Begleiterscheinungen und Schmerzen zu berücksichtigen. § 31 BVG lässt einen
Rentenanspruch ab einem GdS von 30 v.H. zu. Diese Vorschrift muss gelesen werden im Zusammenhang mit § 30
Abs. 1 S. 2 BVG: der Grad der Schädigungsfolgen ist nach Zeh-nergraden vom 10 bis 100 zu bemessen. Der
grundsätzliche Anspruch der Klägerin nach Maßgabe dieser Vorschriften ist unstreitig. Er kann jedoch ganz oder
teilweise an der Unbilligkeit im Sinne von § 2 OEG scheitern. Die Klägerin wird nicht von den speziell aufgeführten
Ausschlussgründen nach § 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 – 3 OEG betroffen, die im weiteren Sinne auf ein Mitverschulden
des Geschä-digten abstellen. Ebenfalls nicht einschlägig ist § 2 Abs. 2 OEG, der eine mangelnde Mit-wirkung bei der
Aufklärung des Geschehens sanktioniert. Die Beklagte hat die Generalklausel nach § 2 Abs. 1 Satz 1 angewendet,
wonach Leistungen zu versagen sind, wenn der Geschädigte die Schädigung verursacht hat oder wenn es aus
sonstigen, insbesondere in dem eigenem Verhalten des Anspruchstellers liegenden Gründen unbillig wäre, eine
Entschädigung zu gewähren. Hiervon scheiden aus der Be-trachtung vorliegend aus die Varianten einer selbst
verursachten Schädigung oder eines zu beanstandenden Verhaltens der Klägerin. Die Beklagte hat einen "sonstigen"
Grund außerhalb der Bewertung eines Verhaltens herangezogen. Bei § 2 Abs. 1 OEG ("Leistungen sind zu versagen")
handelt es sich anders als bei Abs. 2 der Vorschrift ("Leistungen können versagt werden") nicht um eine
Ermessensvorschrift. Die Versorgungsbehörde hat bei der Anwendung der Vorschrift und der Feststellung einer
Unbilligkeit jedoch einen breiten Beurteilungsspielraum. Dieser Spielraum ist nicht durch Maßgaben einer
herrschenden Rechtsprechung eingeschränkt, die zu § 2 Abs. 1 OEG kaum je stattgefunden hat. Dem Beklagten ist
zuzustimmen, wenn er bei der Ausfüllung dieses Spielraums als nahezu einzig vorstellbare Fallgruppe die Problematik
einer Doppelversorgung in Betracht zieht. Ein Gesetzeszweck des OEG ist es, eine Versorgungslücke zu schließen,
die dadurch entsteht, dass Opfer von Gewalttaten nur selten realistische Aussichten haben, bei den verurteilten
die dadurch entsteht, dass Opfer von Gewalttaten nur selten realistische Aussichten haben, bei den verurteilten
Tätern insbesondere während der Zeit ihrer Strafhaft oder Sicherungsverwahrung Geldbeträge für Schadensersatz zu
vollstrecken. Der vor-liegende Fall repräsentiert die Ausnahme, konnte doch beim Täter auf erhebliches Geld- und
Immobilienvermögen zugegriffen werden. Die finanzielle Abrechnung, über deren Eckdaten zwischen den Beteiligten
Einigkeit besteht, belegt nicht nur die Erbringung eines auf OEG-Ansprüche selbstverständlich nicht anrechenbaren
Schmerzensgeldes in einer nach den Maßstäben der Zivilrechtsprechung angemessenen Höhe, sondern jedenfalls bis
zur Aufzehrung des Vermögens des Täters auch den Ausgleich des Schadens, der durch den Verdienstausfall
bezüglich der allgemeinen Lebenshaltung der Klägerin und durch ihre Verletzungen bezüglich der speziellen
Lebensführung unter den Bedingungen ihrer Pfle-gebedürftigkeit eingetreten ist. Die an die Kriegsopferversorgung
angelehnte Opferversor-gung entschädigt Herabsetzung oder Wegfall der Erwerbsmöglichkeit im ersten Schritt mit
einem pauschalisierenden Verfahren entsprechend der festgestellten MdE (GdS). Indivi-duelle Besonderheiten werden
sodann mit dem System von Ausgleichsrente, Berufsscha-densausgleich und besonderer beruflicher Betroffenheit
berücksichtigt. Beide Stufen der Anwendung des BVG wurden vom Beklagten gegenüber der Klägerin zutreffend
umge-setzt. Ein Anspruch auf vollen Schadensersatz einschließlich aller entgangenen Gewinn-möglichkeiten aus
unternehmerischer Tätigkeit über dieses Regelwerk hinaus wird durch das OEG jedoch nicht gewährleistet, so dass
die Billigkeitsprüfung auch nicht auf die Wah-rung einer Versorgungshöhe zu achten hat, die indirekt, aber nicht
bestimmungsgemäß, für einen solchen Schadensersatz sorgt. Unter den besonderen Bedingungen des Falles mit
einem vermögenden Schädiger hat der Beklagte die Vorschrift des § 2 OEG zutreffend angewendet. Der Beklagte hat
auch nicht unter Verstoß gegen § 81 a Abs. 1 S. 3 BVG Leistungen des Schädigers verlangt oder erhalten, die
vorrangig der Klägerin zugestanden hätten. Die Beteiligten das Gericht waren sich in der mündlichen Verhandlung
darüber einig, dass eine Klärung der streitigen Rechtsfragen auch auf höherer Instanz nützlich sei. Die
Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).