Urteil des SozG Marburg vom 18.10.2010

SozG Marburg: aufschiebende wirkung, wiederherstellung der aufschiebenden wirkung, vollziehung, psychotherapie, erlass, stadt, unterbrechung, mangel, hauptsache, anfechtungsklage

Sozialgericht Marburg
Beschluss vom 18.10.2010 (rechtskräftig)
Sozialgericht Marburg S 12 KA 801/10 ER
1. Es wird die sofortige Vollziehung des Beschlusses des Zulassungsausschusses vom 17.06.2010 bis einen Monat
nach einer Entscheidung des Berufungsausschusses über den Widerspruch der Beigeladenen zu 9) im Wege der
einstweiligen Anordnung angeordnet. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
2. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten und die
Gerichtskosten zu tragen.
3. Der Streitwert wird auf 5.000,00 EUR festgesetzt.
Gründe:
I.
Die Beteiligten streiten im Wege eines einstweiligen Anordnungsverfahrens um die sofortige Vollziehung des
Beschlusses des Zulassungsausschusses, mit dem dieser den Antragsteller (Ast) zur Übernahme des gem. § 103
Abs. 4 SGB V ausgeschriebenen Vertragspsychotherapeutensitzes in A-Stadt, D-Straße, mit Wirkung zum
01.07.2010 als psychologischen Psychotherapeuten zur vertragspsychotherapeutischen Tätigkeit zugelassen hat.
Der Zulassungsausschuss/Psychotherapie bei der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen ließ den Antragsteller mit
Beschluss vom 17.06.2010 zur Übernahme des Versorgungsauftrags als sog. Praxisnachfolger für den
Vertragsarztsitz der Frau Dr. med. D., A-Stadt, D-Straße zu. Hiergegen legte die Beigeladene zu 9) Widerspruch ein.
Der Antragsteller erhielt zunächst vom Zulassungsausschuss mit Datum vom 28.06.2010 lediglich die Mitteilung über
dessen Entscheidung. Die schriftliche Beschlussfassung wurde erst am 15.10.2010 ausgefertigt und übersandt. Die
Beigeladene zu 9) legte gegen den Zulassungsbeschluss mit Schreiben vom 05.10.2010 Widerspruch ein, in dem sie
ankündigte, die Begründung nach Erhalt des schriftlichen Bescheids nachzuliefern.
Am 13.10.2010 hat der Ast den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt. Er trägt vor, er sei nach dem
Beschluss des Zulassungsausschusses seit dem 01.07.2010 psychotherapeutisch tätig und habe aktuell rund 50
Patienten in Behandlung. Anfang Oktober habe ihn die Kopie des Widerspruchs einer Mitbewerberin erreicht. Laut
Zulassungsausschuss und der Beigeladenen zu 1) habe dies zur Folge, dass er sofort seine
vertragspsychotherapeutische Tätigkeit einzustellen habe, bis der Berufungsausschuss über den Widerspruch
entschieden habe. Der Berufungsausschuss tage aber erst am 15.12.2010. Dies würde bedeuten, dass er allen
Patienten, denen er für die nächste Woche Termine gegeben habe, absagen müsse und die Entscheidung des
Berufungsausschusses abwarten müsse. Deshalb stelle er den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung. Für
Patienten in laufenden Psychotherapien sei es unzumutbar, die Therapie zu unterbrechen und bis Ende Dezember zu
warten. Besonders für depressive und latent suizidale Patienten würde dies eine Verschlechterung der Symptomatik
und eine Gefährdung bedeuten. Er könne die Verantwortung für eine Unterbrechung der Behandlungen nicht
übernehmen. Eine Unterbrechung bedeute auch einen unzumutbaren Verdienstausfall bei laufenden Kosten.
Der Antragsteller beantragt, die sofortige Vollziehung des Beschluss des Zulassungsausschusses/Psychotherapie
vom 17.06.2010 anzuordnen.
Der Antragsgegner hat keinen Antrag gestellt.
Er ist der Auffassung, im Hinblick auf die hohe Bedeutung die nunmehr das jeweilige praktizierte Richtlinienverfahren
aufgrund der neuen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur Sonderbedarfszulassung habe, könnte
möglicherweise im Rahmen einer Entscheidung nach § 103 Abs. 4 SGB V bei der Übergabe von
Psychotherapeutensitzen auch von Bedeutung sein, welches Richtlinienverfahren der Praxisabgeber und die
potentiellen Übernehmer praktizierten. Dies könnte jedoch allenfalls nur dann Bedeutung erlangen, wenn durch die
Übergabe eines vorhandenen Psychotherapeutensitzes an einen Bewerber mit einem anderen Richtlinienverfahren als
dort bisher praktiziert worden sei, ein Mangel im Bereich des Richtlinienverfahrens eintreten würde, dass bislang auf
dem Psychotherapeutensitz praktiziert worden sei. Davon könne vorliegend jedoch keine Rede sein. Er habe auf
Anfrage von der Beigeladenen zu 1) die Zahl der Behandler, aufgeschlüsselt nach den Richtlinienverfahren für den
Planungsbereich A-Stadt, erhalten. In den Zahlen sei der Ast bereits berücksichtigt worden. Eine Verschiebung des
Umfangs der praktizierten Richtlinienverfahren im vorliegenden Fall sei jedenfalls nicht so gravierend, dass eine
Situation im Bereich der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie im Planungsbereich eintrete.
Nach den Angaben der Beigeladenen zu 1) sind zum Stichtag 18.10.2010 im Planungsbereich A-Stadt 40
Psychologische Psychotherapeuten nach dem PT-Richtlinienverfahren tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie,
12 Psychologische Psychotherapeuten nach dem PT-Richtlinienverfahren tiefenpsychologisch fundierte und
analytische Psychotherapie und 49 Psychologische Psychotherapeuten verhaltenstherapeutisch tätig.
Die Beigeladenen haben keinen Antrag gestellt.
Die Kammer hat mit Beschluss vom 15.10.2010 die Beiladung ausgesprochen. Sie hat in diesem Beschluss im
Hinblick auf die Eilbedürftigkeit allen Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme, auch telefonisch oder per Fax, bis
Montag, 18. Oktober 2010, 16.00 Uhr eingeräumt.
Die Kammer hat ferner zunächst den Antragsteller und die Beigeladene zu 9) am 15.10.2010 telefonisch angehört. Die
Beigeladene zu 9) hat im Wesentlichen vorgetragen, die Praxisverkäuferin Frau D. sei tiefenpsychologisch tätig
gewesen. Dies entspreche ihrem Fachkundenachweis. Demgegenüber besitze der Antragsteller die Fachkunde für
Verhaltenstherapie. Nach der Entscheidung des BSG zur Sonderbedarfszulassung komme der Fachkunde eine
besondere Bedeutung zu. Dies müsse auch für die Praxisnachfolge gelten. Frau D. habe ihr gegenüber, vertreten
durch ihren Ehemann, von vornherein einen Kaufvertrag abgelehnt. Momentan sei sie zeitlich befristet bis Juni 2011
beschäftigt in einer Vollzeitstelle. Die Kammer hat dann am 15.10.2010 mit dem Prozessbevollmächtigten der
Beigeladenen zu 9) die Sach- und Rechtslage telefonisch erörtert. Am 18.10.2010 hat sie Herrn Rechtsanwalt F.,
Vorsitzender des Antragsgegners, telefonisch angehört und die Sach- und Rechtslage mit diesem ebf. erörtert.
Die Kammer hat die in elektronischer Form übersandten Verwaltungsakten des Beklagten beigezogen. In den
Verwaltungsakten war nunmehr der Beschluss des Zulassungsausschusses enthalten.
II.
Der Antrag auf Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit des Beschlusses des Zulassungsausschusses vom 17.06.
2010 ist zulässig und begründet.
Das Gericht der Hauptsache kann auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage
aufschiebende Wirkung haben, die sofortige Vollziehung ganz oder teilweise anordnen. Die Wiederherstellung der
aufschiebenden Wirkung oder die Anordnung der sofortigen Vollziehung kann mit Auflagen versehen oder befristet
werden. Das Gericht der Hauptsache kann auf Antrag die Maßnahmen jederzeit ändern oder aufheben. Der Antrag ist
schon vor Klageerhebung zulässig (§ 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 3 und 4, Abs. 3 Sozialgerichtsgesetz – SGG -).
Widerspruch und Anfechtungsklage haben aufschiebende Wirkung. Dies gilt auch bei rechtsgestaltenden und
feststellenden Verwaltungsakten sowie bei Verwaltungsakten mit Drittwirkung (§ 86a Abs. 1 SGG). In
Angelegenheiten des Antragsgegners entfällt die aufschiebende Wirkung nicht (vgl. § 86a Abs. 2 und 4 SGG). Das
Gesetz ordnet vielmehr ausdrücklich die aufschiebende Wirkung an (§ 96 Abs. 4 Satz 2 SGB V). Eine sofortige
Vollziehung des Beschlusses des Zulassungsausschusses ist nicht angeordnet worden.
Auf die erst nach Stellung des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung erfolgte Ausfertigung des
Beschlusses vom 17.06.2010 kommt es nicht an. Dieser ist jedenfalls dem Antragsteller mit der Mitteilung vom
28.06.2010 bekanntgegeben worden. Von daher ist er wirksam und konnte die Beigeladene zu 9) Widerspruch
einlegen.
Nach der im einstweiligen Anordnungsverfahren gebotenen summarischen Prüfung ist es als offen anzusehen, ob der
Zulassungsbeschluss rechtmäßig ist. Die Rechtsfrage, ob die Auffassung des Bundessozialgerichts, dass im
Rahmen einer Sonderbedarfszulassung den psychoanalytisch begründeten und den verhaltenstherapeutischen
Behandlungsverfahren je eigenständige Bedeutung entsprechend einem Schwerpunkt im Sinne des § 24 Buchst. b
BedarfsplRL-Ä zuzumessen ist (vgl. BSG, Urt. v. 23.06.2010 – B 6 KA 22/09 R – juris Rdnr. 38), auf ein
Praxisnachfolgeverfahren übertragen werden kann, muss als offen bezeichnet werden. Insbesondere ist die
Rechtsfrage, ob eine Praxisnachfolge nur dann möglich ist, wenn Praxisabgeber und Praxisübernehmer den
Fachkundenachweis für das gleiche Richtlinienverfahren haben, als offen zu bezeichnen, ebenso wie die Auffassung
des Antragsgegners, dass es entscheidend darauf ankomme, ob ein Mangel im Bereich des Richtlinienverfahren, das
bislang auf dem Psychotherapeutensitz praktiziert wurde, eintreten würde.
Im Rahmen einer aufgrund der offenen Rechtslage vorzunehmenden Interessenabwägung ist aber das Interesse des
Antragstellers eindeutig überwiegend zu Gunsten der tenorierten Entscheidung.
Der Antragsteller hat glaubhaft versichert, dass er seine psychotherapeutische Tätigkeit bereits begonnen hat. Würde
der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht ergehen und bleibt der Widerspruch der Beigeladenen zu 9) ohne
Erfolg, so wäre der Antragsteller für einen längeren Zeitraum gehindert, seiner Erwerbstätigkeit nachzugehen und
würde bei bestehenden Kosten erhebliche Nachteile erleiden. Hinzu kommt, dass die begonnenen Therapien
unterbrochen werden müssten. Ergeht demgegenüber die Entscheidung und ist der Widerspruch der Beigeladenen zu
9) erfolgreich, so kann die Beigeladene zu 9) als Praxisnachfolgerin zugelassen werden. Der Antragsteller müsste
dann seine Tätigkeit beenden. Im Hinblick auf die besondere persönliche Vertrauensbeziehung zwischen einem
Psychotherapeuten und einem Patienten geht die Kammer dabei grundsätzlich davon aus, dass die Patienten in
laufenden Therapieverfahren allenfalls in Ausnahmefällen von einem Praxisnachfolger übernommen werden können,
dies gilt sowohl für einen Praxisnachfolger nach § 103 Abs. 4 SGG V als auch für den Fall, dass die Beigeladene zu
9) faktisch dem Antragsteller in der Praxisnachfolge selbst Nachfolgerin würde. Von daher erwächst der Beigeladenen
zu 9) in diesem Fall kein weiterer Nachteil. Hinzu kommt, dass auch bereits jetzt Therapien begonnen worden sind
und sich das Problem der Übernahme der Therapien gleichfalls stellen würde. Ferner kommt hinzu, dass die
Beigeladene zu 9) gegenwärtig bis voraussichtlich Juni 2011 in einem Vollzeitbeschäftigungsverhältnis steht und
insofern wirtschaftlich abgesichert ist.
Insofern war dem Antrag im tenorierten Umfang stattzugeben.
Der Antrag war aber insoweit abzulehnen, als das Gericht nur bis zur Entscheidung des Antragsgegners eine
Anordnung treffen kann.
Nach allem war dem Antrag im tenorierten Umfang stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i. V. m. § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung. Der Antragsteller
hat im Wesentlichen vorgetragen, er könne mit einer Entscheidung nicht bis zur avisierten Sitzung des
Berufungsausschusses abwarten. Von daher erfolgte die Abweisung des Antrags im Übrigen klarstellend. Mit Kosten
war der Antragsteller daher nicht zu belasten.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf den gesetzlichen Vorgaben.
Für das Klageverfahren gilt das Gerichtskostengesetz i. d. F. des Gesetzes zur Modernisierung des Kostenrechts
(Kostenrechtsmodernisierungsgesetz – KostRMoG) vom 05.05.2004, BGBl. I S. 718). Soweit eine Entscheidung nach
§ 62 Satz 1 nicht ergeht oder nicht bindet, was hier der Fall ist, setzt das Prozessgericht den Wert für die zu
erhebenden Gebühren durch Beschluss fest, sobald eine Entscheidung über den gesamten Streitgegenstand ergeht
oder sich das Verfahren anderweitig erledigt (§ 63 Abs. 2 Satz 1 GKG). In Prozessverfahren vor den Gerichten der
Sozialgerichtsbarkeit wird die Verfahrensgebühr mit der Einreichung der Klage-, Antrags-, Einspruchs- oder
Rechtsmittelschrift oder mit der Abgabe der entsprechenden Erklärung zu Protokoll fällig (§ 6 Abs. 1 Nr. 4 GKG). In
Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit ist, soweit nichts anderes bestimmt ist, der Streitwert nach den
sich aus dem Antrag des Klägers für ihn ergebenden Bedeutung der Sache nach Ermessen zu bestimmen. Bietet der
Sach- und Streitwert für die Bestimmung des Streitwerts keine genügenden Anhaltspunkte, so ist ein Streitwert von
5.000,00 Euro anzunehmen (§ 52 Abs. 1 und 2 GKG).
Angesichts der kurzen entscheidungsrelevanten Zeitspanne war vom Regelstreitwert auszugehen.