Urteil des SozG Mannheim vom 21.04.2011

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SG Mannheim Beschluß vom 21.4.2011, S 14 AS 720/11
Sozialgerichtliches Verfahren - Kostenentscheidung - keine Kostenerstattung bei Klageerhebung wegen verspäteter Neubemessung der
Regelleistungen des SGB 2 durch den Gesetzgeber
Leitsätze
1. Die Überschreitung der dem Gesetzgeber vom BVerfG in seiner Entscheidung vom 09.02.2011 (Az. 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09) gesetzten
Frist zur Neuregelung der Vorschriften des SGB II begründet keinen Anspruch auf Erstattung außergerichtlicher Kosten gem. § 193 SGG.
2. Die Vorschriften des SGB II, die vom Bundesverfassungsgericht für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt wurden, sind bis zum 24.03.2011
weiter anwendbar gewesen.
Tenor
Die Beklagte hat den Klägern keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
I.
1
Die Kläger beziehen von der Beklagten laufende Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Unter dem 21.12.2010 erließ
die Beklagte gegenüber der Klägern einen Änderungsbescheid, mit dem sie den Klägern u.a. für den Monat Januar 2011 einen Betrag von
insgesamt 619,44 EUR bewilligte. Die Kosten der Unterkunft und Heizung werden vom kommunalen Träger bewilligt.
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Mit Schreiben vom 21.01.2011 legten die Kläger anwaltlich vertreten Widerspruch gegen den Bescheid vom 21.12.2010 ein. Soweit der
Bescheid eine Bewilligungszeit im Jahr 2011 erfasse, stütze dieser sich auf nicht mehr anwendbare Regelsätze und Berechnungsgrundlagen.
Die bislang gültigen Regelsätze seien nur übergangsweise bis zum 31.12.2010 anwendbar. Dies beruhe auf der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts vom 09.02.2010. Dem Gesetzgeber sei es nicht gelungen eine fristgerechte Neuregelung zu treffen. Das bislang
gültige Recht dürfe daher nicht mehr angewendet werden. Maßgeblich sei ab dem 01.01.2011 ausschließlich die Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts. Der Bescheid vom 21.12.2010 sei aufzuheben. „Den Widerspruchsführern sind die außergerichtlichen Kosten des
Widerspruchsverfahrens zu erstatten. Hierzu gehören auch die Kosten unserer Beauftragung.“
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Mit Widerspruchsbescheid vom 08.02.2011 wies die Beklagte den Widerspruch der Kläger zurück. Tatsächlich habe der Gesetzgeber bisher
keine neue Regelung getroffen. Es könne aber auch ab 01.01.2011 von der Verwaltung keine andere Entscheidung bezüglich der
Regelsatzhöhe getroffen werden als sie weiterhin in der Höhe festzusetzen, die 2010 auch galt, solange keine gesetzgeberische Entscheidung
über die Leistungshöhe vorliege. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 09.02.2010 stelle fest, dass, sollte der Gesetzgeber seiner
Pflicht zur Neuregelung bis 31.12.2010 nicht nachgekommen sein, ein später erlassenes Gesetz schon zum 01.01.2011 in Geltung zu setzen
wäre. Ein rechtlicher Nachteil für die Kläger entstehe deshalb nicht, da davon auszugehen sei, dass die noch zu treffende Neuregelung der
Leistungshöhe rückwirkend zum 01.01.2011 gelten werde.
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Mit ihrer am 25.02.2011 zum Sozialgericht Mannheim erhobenen Klage verfolgten die Kläger ihr Begehren fort.
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Es sei nicht zulässig gewesen, die Bewilligung der Regelleistung ab 01.01.2011 auf die für verfassungswidrig erklärten Regelsätze zu stützen.
Der Umstand, dass ein neues Gesetz unter Umständen rückwirkend in Kraft zu setzen wäre, ändere nichts an der Tatsache, dass die bisherigen
Regelsätze nicht mehr dem geltenden Recht entsprechen würden und daher auch nicht angewendet werden dürften.
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Die Kläger beantragten,
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1. Der Änderungsbescheid vom 21.12.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 08.02.2011 wird hinsichtlich des
Monats Januar 2011 aufgehoben.
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2. Die Beklagte wird verurteilt, den Klägern für die Zeit vom 01.01.2011 bis 31.01.2011 Leistungen zur Sicherung des
Lebensunterhalts in gesetzlicher Höhe zu bewilligen.
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Die Beklagte beantragte,
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die Klage abzuweisen.
11 Im Termin zur Erörterung des Sachverhalts am 19.04.2011 erklärten die Kläger den Rechtsstreit für erledigt, da zwischenzeitlich eine
rückwirkende Nachzahlung erfolgt sei. Die Kläger stellten einen Antrag gem. § 193 SGG.
12 Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Verwaltungsakte der Beklagten und der SG-Akte Bezug genommen.
II.
13 Der Antrag ist zulässig. Die Beklagte hat den Klägern jedoch keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
14 Nach § 193 Abs. 1 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entscheidet das Gericht, wenn das Verfahren anders als durch Urteil beendet wird, auf
Antrag durch Beschluss, ob und in welchem Umfange die Beteiligten einander außergerichtliche Kosten zu erstatten haben. Die
Kostenentscheidung stellt eine Ermessensentscheidung dar, wobei es in der Regel sachgemäßem Ermessen entspricht, bei dieser Entscheidung
auf den vermutlichen Verfahrensausgang unter Zugrundelegung des Sach- und Streitstands im Zeitpunkt der Erledigung abzustellen (insoweit ist
der Rechtsgedanke der §§ 91 a ZPO, 161 Abs. 2 VwGO heranzuziehen). Es ist allerdings nicht nur auf das mögliche Ergebnis des Rechtsstreits
abzustellen. Das Gericht muss vielmehr alle Umstände des Einzelfalls berücksichtigen. So kann auch ein Obsiegen der Beteiligten nach dem
Veranlassungsprinzip (Bayerisches LSG Breithaupt 98, 454, 457; LSG Schleswig Holstein NZS. 1997, 392) zur Kostenerstattung verurteilt
werden. Das Gericht kann somit auch den Anlass für die Klagerhebung berücksichtigen (Meyer-Ladewig, SGG, § 193 Rnr. 12 b). Von einer
Kostenerstattung zu Gunsten des Klägers kann aufgrund des vorprozessualen Verhaltens des Klägers abgesehen werden, z. B. wenn er seinen
Mitwirkungspflichten im Verwaltungsverfahren nicht hinreichend nachgekommen ist (BSG, Beschluss vom 22.10.1987, Az.: 12 RK 49/86; LSG
Niedersachsen, Beschluss vom 02.05.1991, Az.: L 1 S (An) 66/91).
15 Im vorliegenden Fall entspricht es sachgemäßem Ermessen, dass die Beklagte den Klägern keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten hat, da
diese mit ihrer Klage keinen Erfolg gehabt hätten. Streitgegenstand des Hauptverfahrens war letztlich allein die Frage, ob die
Leistungsbewilligung im Monat Januar 2011 rechtswidrig war. Mit Urteil vom 09.02.2010, Az. 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09 hat das
Bundesverfassungsgericht (BVerfG) § 20 Absatz 2 1. Halbsatz und Absatz 3 Satz 1, § 28 Absatz 1 Satz 3 Nr. 1 1. Alternative, jeweils in
Verbindung mit § 20 Absatz 1 SGB II in der Fassung des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 24. Dezember
2003 (Bundesgesetzblatt I Seite 2954), § 20 Absatz 2 Satz 1 und Absatz 3 SGB II in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches
Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 24. März 2006 (Bundesgesetzblatt I Seite 558), § 28 Absatz 1 Satz 3 Nr. 1 1. Alternative in
Verbindung mit § 74 SGB II in der Fassung des Gesetzes zur Sicherung von Beschäftigung und Stabilität in Deutschland vom 2. März 2009
(Bundesgesetzblatt I Seite 416), jeweils in Verbindung mit § 20 Absatz 1 SGB II in der Fassung des Gesetzes zur Fortentwicklung der
Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20. Juli 2006 (Bundesgesetzblatt I Seite 1706), sowie die Bekanntmachungen über die Höhe der
Regelleistung nach § 20 Absatz 2 und § 20 Absatz 2 Satz 1 SGB II vom 1. September 2005 (Bundesgesetzblatt I Seite 2718), vom 20. Juli 2006
(Bundesgesetzblatt I Seite 1702), vom 18. Juni 2007 (Bundesgesetzblatt I Seite 1139), vom 26. Juni 2008 (Bundesgesetzblatt I Seite 1102) und
vom 17. Juni 2009 (Bundesgesetzblatt I Seite 1342) als mit Art. 1 Absatz 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Absatz 1 GG
unvereinbar erklärt.
16 Des Weiteren sprach das BVerfG mit Gesetzeswirkung (§ 31 Abs. 2 BVerfGG) aus, dass bis zur Neuregelung, die der Gesetzgeber bis spätestens
zum 31. Dezember 2010 zu treffen hat, diese Vorschriften weiter anwendbar seien.
17 Wegen des gesetzgeberischen Gestaltungsermessens sei das BVerfG nicht befugt, aufgrund eigener Einschätzungen und Wertungen gestaltend
selbst einen bestimmten Leistungsbetrag festzusetzen. Die verfassungswidrigen Normen blieben daher bis zu einer Neuregelung durch den
Gesetzgeber weiterhin anwendbar (BVerfG aaO, Rn. 212 nach juris). Sollte der Gesetzgeber seiner Pflicht zur Neuregelung bis zum 31.
Dezember 2010 nicht nachgekommen sein, sei ein pflichtwidrig später erlassenes Gesetz schon zum 01.01.2011 in Geltung zu setzen (BVerfG
aaO, Rn. 218 nach juris).
18 Der Entscheidungstenor der BVerfG-Entscheidung ist unter Bezugnahme auf die Entscheidungsgründe dahingehend auszulegen, dass die der
Höhe der Regelleistung zugrundeliegenden Vorschriften bis zu einer Neuregelung - d.h. vorliegend bis zum Inkrafttreten der Neufassung des
SGB II am 24.03.2011 (BGBl. I S. 453) - anwendbar geblieben sind. Für den Fall, dass die in Ziff. 2 des Urteilstenors genannte Frist nicht
eingehalten wird, hat das BVerfG darauf hingewiesen, dass in einem derartigen Fall die Neuregelung rückwirkend in Kraft zu setzen ist. Dieser
„Auflage“ trägt die gesetzliche Neuregelung Rechnung, sodass die Beklagte einen entsprechenden Änderungsbescheid erlassen hat, der zur
Erledigterklärung führte. Die Klage der Kläger war somit im Zeitpunkt der Klageerhebung zwar zulässig, in der Sache jedoch unbegründet. Die
Beklagte hat in ihrem Bescheid vom 21.12.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 08.02.2011 zutreffend zur Berechnung der Höhe
der Regelleistung zwar nicht mit dem Grundgesetz zu vereinbarende, jedoch weiterhin anwendbare Rechtsvorschriften zu Grunde gelegt. Die
angefochtenen Bescheide sind somit nicht rechtswidrig und verletzten die Kläger nicht in ihren Rechten.
19 Auch unter dem Gesichtspunkt des Veranlassungsprinzips steht den Klägern keine Kostenerstattung zu. Die Beklagte hat keine Veranlassung
zur Erhebung der Klage gegeben. Vielmehr hat sie zutreffend in ihrem Widerspruchsbescheid auf den Umstand hingewiesen, dass eine
gesetzliche Neuregelung rückwirkend in Kraft gesetzt werden muss. Dies geschah zwar nicht - wie die Beklagte meint - in Form einer
Zusicherung, jedoch wurden die Kläger zutreffend über die aus dem Urteil des BVerfG folgenden rechtlichen Konsequenzen aufgeklärt.
20 Nach alledem konnte eine Kostenerstattung nicht erfolgen.
21 Dieser Beschluss ist gemäß § 172 Abs. 3 Nr. 3 SGG unanfechtbar.