Urteil des SozG Lüneburg vom 17.09.2009

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Sozialgericht Lüneburg
Beschluss vom 17.09.2009 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Lüneburg S 86 AS 1369/09 ER
Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 27. August 2009 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 26. August 2009 wird angeordnet. Die Antragsgegnerin wird im Wege der
einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig - unter dem Vorbehalt anderer Entscheidung im
Verfahren der Hauptsache - einen Betrag von 218,- EUR für den Erwerb und Anschluss eines Elektroherdes zu
bewilligen. Außergerichtliche Kosten der Antragstellerin hat die Antragsgegnerin zu tragen. Der Antragstellerin wird
ratenfreie Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin E. bewilligt.
Gründe:
I.
Die Antragstellerin begehrt nach einem Umzug in eine neue Wohnung im Rahmen der Erstausstattung den für die
Anschaffung eines Kochherdes erforderlichen Geldbetrag von 178,- EUR.
Da in der von ihr bezogenen Wohnung kein Herd vorhanden war, beantragte sie eine Beihilfe für einen Elektroherd,
was durch Bescheid vom 28. Juli 2009 abgelehnt wurde. Auf den Widerspruch der Antragstellerin, dem diverse
Angebote für Elektroherde beigefügt waren, erging der Widerspruchsbescheid vom 26. August 2009, in dem ein Betrag
von 80,- EUR zugesagt wurde, was durch Bewilligungsbescheid vom 31. August 2009 umgesetzt wurde.
Am 11. September 2009 hat die Antragstellerin beim Sozialgericht Klage erhoben.
Zur Begründung ihres zeitgleich am 11. September 2009 gestellten Antrages auf Gewährung vorläufigen
Rechtsschutzes trägt die Antragstellerin vor, das einfachste Modell sei für 199,- EUR bei der Fa. F. zu erwerben, die
den Herd anliefern und auch anschließen würden (für 59,- EUR). Auch bei einer weiteren Fa. sei ein Standherd für
199,95 EUR lieferbar. In der Stadt Hamburg sähen die Fachanweisungen zu § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 SGB II vor, dass
für einen Elektroherd ein Betrag von 195,- EUR bewilligt werden könne. Die im Widerspruchsbescheid nebst
Bewilligungsbescheid nun angesetzten 80,- EUR entbehrten einer belastbaren Grundlage und seien nicht geeignet,
den Anspruch der Antragstellerin auf eine Erstausstattung zu erfüllen. Die Antragstellerin beantragt,
die Antragsgegnerin zu verpflichten, unter Abänderung des Bescheides vom 28.07.2009 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 26. August 2009 der Antragstellerin weitere 178, -.EUR für den Erwerb eines
Elektroherdes zu bewilligen, hilfsweise, die Antragsgegnerin zu verpflichten, der Antragstellerin weitere 40,- EUR für
den fachmännischen Anschluss eines Elektroherdes zu bewilligen und über 138,- EUR ein Darlehen zu gewähren.
Die Antragsgegnerin beantragt, den Antrag abzulehnen.
Sie ist der Auffassung, die hier in Rede stehenden Leistungen nach § 23 Abs. 3 Nr. 1 SGB II könnten in Form von
Pauschbeträgen erbracht werden, wobei Erfahrungswerte zu berücksichtigen seien. Die Gewährung von Hilfen habe
sich u.a. auch an der Kaufkraft der arbeitenden Bevölkerung mit unterem Einkommen zu orientieren, so dass
gebrauchte Gegenstände als angemessene Hilfe zur Verfügung gestellt werden könnten.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten
Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag hat Erfolg.
1. Die aufschiebende Wirkung der erhobenen Klage ist anzuordnen, weil rechtliche Zweifel am angefochtenen
Bescheid vom 28. Juli 2009 idF des Widerspruchsbescheides vom 26. August 2009 bestehen. Eine sachgerechte
Ermessensausübung besteht darin, dass der Geldleistung grundsätzlich der Vorzug zu geben ist (Münder in LPK-SGB
II, § 23 Rn. 16), da hierdurch die Eigenverantwortung des Hilfebedürftigen gestärkt werden kann. Keiner weiteren
Ausführungen bedarf es, dass ein Kochherd zum notwendigen Bedarf zählt. Allerdings ist ein Pauschalbetrag von 80,-
EUR für die Anschaffung eines Elektroherdes im Rahmen einer Erstausstattung angesichts der Angebote auf dem
Markt zu eng bemessen, da es unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten - auch mit Blick auf die Nutzungsdauer eines
Kochherdes - durchaus sinnvoll ist, nicht einen bereits langjährig (ab-) genutzten Herd zu erwerben, sondern einen
neuen - einwandfrei funktionsfähigen - Herd. Insoweit wird auf die nachfolgenden Gründe verwiesen.
2. Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung liegen derzeit - im Zeitpunkt der gerichtlichen
Entscheidung jetzt im September 2009 - vor: Nach § 86b Abs.2 S.2 SGG sind derartige Anordnungen u.a. zur
Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche
Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile "nötig" erscheint. Die tatsächlichen Voraussetzungen des
Anordnungsanspruchs – die Rechtsposition, deren Durchsetzung im Hauptsacheverfahren beabsichtigt ist – sowie
des Anordnungsgrunds – die Eilbedürftigkeit / Dringlichkeit der begehrten vorläufigen Regelung – sind glaubhaft zu
machen (§ 86 Abs.2 S.4 SGG, § 920 Abs.3 Zivilprozessordnung - ZPO -). Das ist der Antragstellerin hier gelungen.
Angesichts der aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG iVm Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 GG abzuleitenden Verantwortung und
Pflicht des Staates als einer Solidargemeinschaft, die materiellen Bedingungen einer (tatsächlich) menschenwürdigen
Existenz zu sichern (Bachof, VVDStRL 12, 37/42; Dürig, AöR 81, 117/131 ff., Maihofer, Rechtsstaat und menschliche
Würde, S. 17 ff.; Neumann, NVwZ 1995, 426. ff.; vgl. Sächs. LSG, Beschluss v. 22.4.2008 - L 2 B 111/08 AS-ER -,
NZS 2009, S. 458/459 zu 1 b), ist es im grundrechtlichen Spannungsfeld im Lichte der Grundrechte nicht hinnehmbar,
wenn einem Hilfsbedürftigen das soziokulturelle Minimum, zu dem auch ein funktionsfähiger, eine sachgemäße
Haushaltsführung garantierender Kochherd zählt, vorenthalten wird.
In sozialgerichtlichen Verfahren ist einem Antragsteller das Abwarten des Hauptsacheverfahrens (der Ausgang des
Klageverfahrens) regelmäßig unzumutbar, so dass es in aller Regel nur auf eine materiell-rechtliche Beurteilung der
Sach- und Rechtslage ankommt. Ist dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im
Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. In deren Rahmen ist unter
Berücksichtigung der Grundrechte (Art. 1 GG, Menschenwürde) und sämtlicher Belange des Rechtsschutzsuchenden
zu entscheiden. Jedenfalls eine Versagung und Abweisung des gerichtlich erstrebten vorläufigen Rechtsschutzes
hätte sich stets auf eine eingehende Aufklärung der Sach- und Rechtslage zu stützen, die in vielen Fällen jedoch
nicht möglich ist. Vgl. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 25.2.2009 - 1 BvR 120/09 -:
"Art. 19 Abs. 4 GG verlangt auch bei Vornahmesachen jedenfalls dann vorläufigen Rechtsschutz, wenn ohne ihn
schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die
Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (vgl. BVerfGE 79, 69 (74); 94, 166 (216)). Die Gerichte
sind, wenn sie ihre Entscheidung nicht an einer Abwägung der widerstreitenden Interessen, sondern an den
Erfolgsaussichten in der Hauptsache orientieren, in solchen Fällen gemäß Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gehalten, die
Versagung vorläufigen Rechtsschutzes auf eine eingehende Prüfung der Sach- und Rechtslage zu stützen. Ist dem
Gericht dagegen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand
einer Folgenabwägung zu entscheiden. Auch in diesem Fall sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers
umfassend in die Abwägung einzustellen. Die Gerichte müssen sich schützend und fördernd vor die Grundrechte des
Einzelnen stellen. Dies gilt ganz besonders, wenn es um die Wahrung der Würde des Menschen geht. Eine
Verletzung dieser grundgesetzlichen Gewährleistung, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig
andauert, haben die Gerichte zu verhindern (vgl. BVerfGK 5, 237 (242 f.))."
Hier liegt es so, dass die Antragstellerin einen Anordnungsanspruch wie auch Anordnungsgrund glaubhaft gemacht
hat. Im Übrigen führt hier auch eine Folgenabwägung zum Erfolg des Antrags.
3. Gemäß § 23 Abs.3 S. 1 Nr. 1 SGB II werden Leistungen für Erstausstattungen einschließlich Haushaltsgeräten
nicht im Rahmen der Regelleistungen erbracht, sondern "gesondert": Liegen die Voraussetzungen dafür vor, so
besteht auf die Leistungen ein Rechtsanspruch. Die Darlehensregelung des Abs. 1 gilt im Rahmen des Abs. 3 nicht,
so dass die Leistungen nicht etwa zurückgezahlt werden müssen (verlorener Zuschuss). Sie können jedoch
pauschaliert werden. Die entsprd. Verordnung gem. § 27 Nr. 3 SGB II liegt bislang nicht vor, so dass die
Fachanweisung der Hamburger Behörde für Soziales, Familie, Gesundheit und Verbraucherschutz vom 18. Febr. 2009
durchaus als Anhalt für die Erstausstattung dienen kann. Hier ist für Elektroherde ein Betrag von 195,- EUR
angesetzt. Auch die sozialgerichtliche Rechtsprechung erkennt derartige Beträge an, da eine Pauschale
"bedarfsdeckend" sein muss. Vgl. SG Karlsruhe, Beschl. v. 26.10.2007 - S 5 AS 5035/07 ER -: "Erbringt der
Leistungsträger die Leistungen nach § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 und Satz 2 SGB II durch Pauschalbeträge, müssen die
Pauschalbeträge bedarfsdeckend sein ( Behrend in: juris-PK, 2. Aufl., § 23 SGB II Rdnr. 87). Denn Leistungen der
Grundsicherung für Arbeitssuchende dienen der Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens. Diese Sicherstellung
ist eine verfassungsrechtliche Pflicht des Staates, die aus dem Gebot zum Schutz der Menschenwürde nach Art. 1
Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip nach Art 20 Abs. 1 GG folgt (BVerfG, Breithaupt 2005, 803,
807; Bieback , NZS 2005, 337, 338). Zwar sind pauschalierende Regelungen in diesem Rahmen nicht generell
ausgeschlossen. Erforderlich ist aber, dass trotz Typisierung der existenznotwendige Bedarf in möglichst allen Fällen
abgedeckt wird (BVerfG, NJW 1992, 3153, 3154). Angesichts dessen ist ein Pauschalbetrag zu niedrig, wenn er nur
unter günstigen Umständen zur Bedarfsdeckung ausreicht. Der Leistungsempfänger kann in der Regel nicht darauf
verwiesen werden, längere Zeit auf ein besonders preiswertes Angebot zu warten. Denn der existenznotwendige
Bedarf ist zeitnah zu befriedigen, nicht irgendwann in der Zukunft. "
Vgl. auch LSG Sachsen-Anhalt v. 18.12.2008 - L 2 B 449/08 AS ER -:
"Der von der Antragsgegnerin festgesetzte Betrag in Höhe von 130 EUR für die Anschaffung eines Herdes reicht wohl
nicht aus, um ein neues Gerät zu kaufen. Für das Gericht glaubhaft hat die Antragstellerin vorgetragen, sie habe bei
verschiedenen örtlichen Discountern sowie im Internet nach einem preiswerten Herd gesucht; das billigste (neue)
Gerät koste einschließlich Lieferung 210 EUR. Dies wird auch von der Antragsgegnerin nicht bestritten.
Im konkreten Fall liegt auch eine Bedarfssituation vor, bei der sich der Anspruch des Antragstellers auf die vorläufige
Leistung eines Geldbetrages von 200,00 EUR für die Anschaffung eines Elektroherds verdichtet. Die Antragsgegnerin
hat nicht in Abrede gestellt, ihre Verwaltungspraxis an dem vom Antragsteller bereits dem Sozialgericht vorgelegten
"ALG II – Leistungskatalog", den offensichtlich der kommunale Träger erstellt hat, auszurichten. Dies begründet aus
Gleichbehandlungsgesichtspunkten eine Ermessensreduzierung der Antragsgegnerin auf den in dieser "Richtlinie"
genannten Pauschalbetrag für einen Elektroherd in Höhe von 200,00 EUR. Diesen Betrag hat die Antragsteller auch in
ihrem Darlehensangebot genannt, was zusätzlich darauf schließen lässt, dass eine solche Leistungswährung der
Praxis der Antragsgegnerin entspricht. Nach Auffassung des Senats braucht der Antragsteller sich auch als allein
stehender Leistungsempfänger von mittlerweile deutlich über 40 Jahren nicht auf ein Kochen mit einem Zwei-
Plattenkocher verweisen zu lassen. Auch bei einfachen Lebensverhältnissen gehört es in der Bundesrepublik
Deutschland gerichtsbekannt zum allgemeinen Standard, sich jedenfalls von Zeit zu Zeit eine Mahlzeit unter Nutzung
von drei Kochplatten (z. B. für ein Fleisch, Kartoffeln und Gemüse) zubereiten zu können. Weiter geht die
Antragsgegnerin in ihrer "Richtlinie" davon aus, dass zusätzlich zu den Anschaffungskosten für einen Elektroherd
regelmäßig Anschlusskosten anfallen. Damit wird berücksichtigt, dass ein Elektroherd an einen Starkstromanschluss
angeschlossen wird, was durch eine Fachkraft erfolgen sollte. Der Senat setzt hierfür einen vorläufigen Betrag von
50,00 EUR der dem Antragsteller ebenfalls zu gewähren ist, um ihn in die Lage zu versetzten, einen angeschafften
Elektroherd nutzen zu können."
Unter Berücksichtigung dessen, dass die Antragstellerin nicht nur den Elektroherd erwerben, sondern ihn auch
fachgerecht anschließen lassen muss, ist hier vorläufig ein Betrag von 218,- EUR (178,- EUR plus 40,- EUR
Anschlusskosten) als bedarfsgerecht anzusetzen. Zur Bewilligung dieses Betrages ist die Antragsgegnerin denn auch
vorläufig zu verpflichten.
4. Dies zugrunde gelegt, wäre hier auch eine Folgenabwägungsentscheidung zu Gunsten der Antragstellerin zu
treffen. Mit der begehrten Leistung wird nämlich das verfassungsrechtlich gewährleistete "soziokulturelle
Existenzminimum" abgesichert. Dem Hilfeempfänger muss es möglich sein, in der Umgebung von
Nichthilfeempfängern ähnlich wie diese zu leben, also sich unter wirtschaftlich vernünftigen Erwägungen einen neuen,
nicht bereits abgenutzten Kochherd zu kaufen, der eine entsprd. lange "Lebensdauer" hat. Für die
Abwägungsentscheidung bedeutet dies, dass die Antragstellerin eine auf dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1
Grundgesetz (GG)) und der Verpflichtung des Staates zum Schutz der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) beruhende
Position für sich reklamieren kann. Demgegenüber hat das Interesse der Antragsgegnerin, dass finanzielle Mittel nur
den gesetzlichen Regelungen entsprechend verwendet werden dürfen, vorläufig zurückzutreten, zumal Einiges dafür
spricht, dass der Rechtsstandpunkt der Antragsgegnerin unter dem Gesichtspunkt der Bedarfsgerechtigkeit nicht zu
halten ist.
5. Der erforderliche Anordnungsgrund ergibt sich aus der Tatsache, dass die Antragstellerin auf den Kochherd
dringend angewiesen ist.
6. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs.1 und 4 SGG. Der
Antragstellerin ist Prozesskostenhilfe für die Durchführung des Verfahrens unter Beiordnung von Rechtsanwältin E. zu
bewilligen, weil das Verfahren hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (§ 73a SGG in Verbindung mit §§ 114ff. ZPO).