Urteil des SozG Karlsruhe vom 10.03.2011

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SG Karlsruhe Urteil vom 10.3.2011, S 16 AL 1898/10
Sperrzeit bei Arbeitsaufgabe; mündliche Kündigung des Arbeitnehmers; Auswechslung der Begründung einer Aufhebungsentscheidung
Leitsätze
1. Die mündliche Kündigung eines Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitnehmer kann - sofern der Arbeitgeber diese nicht zum Anlass für eine
arbeitgeberseitige Kündigung nimmt - eine Sperrzeit bei Arbeitsaufgabe nicht begründen.
2. Die Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosengeld wegen einer Sperrzeit kann - zumal ohne Durchführung eines förmlichen
Anhörungsverfahrens - bei Nichtvorliegen einer Sperrzeit nicht auf einen anderen Lebenssachverhalt (hier: Erlöschen der Wirkung der persönlichen
Arbeitslosmeldung nach Zwischenbeschäftigung) gestützt werden.
Tenor
1. Die Bescheide vom 18.02.2010, vom 19.02.2010 und vom 14.04.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19.04.2010 werden
aufgehoben.
2. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.
Tatbestand
1
Die Beteiligten streiten um den Eintritt einer Sperrzeit bei Arbeitsaufgabe in der Zeit vom 24.10.2009 bis zum 15.01.2010 und die Rückforderung
während der Sperrzeit vom 24.10.2009 bis zum 06.12.2009 gezahlten Arbeitslosengeldes in Höhe von 731,72 Euro.
2
Mit Bescheid vom 20.09.2009 bewilligte die Beklagte dem Kläger Arbeitslosengeld mit einem Leistungssatz von 16,63 Euro täglich (= 498,90
Euro monatlich) ab 10.09.2009.
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Am 13.10.2009 fragte der Kläger telefonisch bei der Beklagten wegen der Genehmigung einer so genannten Probearbeit als Berufskraftfahrer
bei der Firma ... in H. an, die vom 14.10.2009 bis zum 16.10.2009 stattfinden sollte und so von der Beklagten genehmigt wurde. Laut
Aktenvermerk hat der Kläger hierzu angegeben, dass bei Eignung ab 19.10.2009 eine Einstellung in Aussicht gestellt worden sei. Am
22.10.2009 teilte der Kläger telefonisch mit, es sei nicht zu einer Arbeitsaufnahme bei der Firma ... gekommen.
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Durch eine Überschneidungsmitteilung erfuhr die Beklagte am 25.11.2009, dass der Kläger in der Zeit vom 19.10.2009 bis zum 23.10.2009 von
der Firma ... als versicherungspflichtig beschäftigt gemeldet worden war. Diese teilte hierzu telefonisch mit, der Kläger sei mündlich darüber
informiert worden, dass er eingestellt werde und einen Arbeitsvertrag erhalte. Dieser Arbeitsvertrag sei bereits ausgestellt gewesen, habe dem
Kläger jedoch nicht überreicht werden können, da er nicht mehr zur Arbeit erschienen sei.
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Die Beklagte forderte daraufhin zunächst mit Erstattungsbescheid vom 08.02.2010 das für die Zeit vom 19.10.2009 bis zum 23.10.2009 bewilligte
Arbeitslosengeld in Höhe von 83,15 Euro zurück. Im Rahmen des von der Beklagten wegen der mitgeteilten Beendigung des
Arbeitsverhältnisses eingeleiteten Anhörungsverfahrens erklärte der Kläger, es habe sich aus seiner Sicht um eine Probezeit gehandelt. Eine
mündliche oder schriftliche Einstellungszusage sei ihm nicht erteilt worden.
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Mit Bescheid vom 18.02.2010 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass in der Zeit vom 24.10.2009 bis zum 15.01.2010 eine Sperrzeit eingetreten
sei, während derer der Anspruch auf Arbeitslosengeld ruhe. Der Kläger habe das Beschäftigungsverhältnis bei der Firma ... durch eigene
Kündigung selbst gelöst und habe voraussehen müssen, dass er dadurch erneut arbeitslos werde. Ein wichtiger Grund für dieses Verhalten sei
nicht erkennbar. Mit weiterem Bescheid vom 19.02.2010 forderte die Beklagte sodann Erstattung von 731,72 Euro geleisteten Arbeitslosengeldes
und nahm dabei auf den „Änderungs-/Aufhebungsbescheid vom 19.02.2010“ (gemeint wohl der Sperrzeitbescheid vom 18.02.2010) Bezug.
7
Hiergegen wandte sich der Kläger mit Widerspruch vom 15.03.2010 und führte aus, an den fünf Probetagen, welche er bei der Firma ... gearbeitet
habe, sei seitens des Arbeitgebers kein einziges Gespräch über einen Arbeitsvertrag, über Lohn oder eine Einstellung geführt worden.
Ausgehend davon, dass er seine Probezeit absolviert habe, habe er nochmals angerufen, sich bedankt und mitgeteilt, dass er noch weitere
Probetage bei anderen Unternehmen absolvieren werde. Herr ... von der Firma ... habe mit „Ja gut, schade.“ geantwortet. Einige Zeit später habe
die Sekretärin der Firma ... angerufen und um Vorlage der Lohnsteuerkarte gebeten, da er noch Geld für die Probetage erhalten würde. Über die
folgende Zahlung habe er die Beklagte dann auch informiert und habe Arbeitslosengeld erstatten müssen.
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Auf erneute Anfrage der Beklagten erklärte die Firma ... hierauf, man habe mit dem Kläger ein Einstellungsgespräch im Beisein von Herrn ...
geführt. Dabei sei über die Arbeitszeit und das Gehalt gesprochen worden. Der Kläger habe einen Personalbogen ausgefüllt, der in den PC
übernommen worden und an den Steuerberater weitergeleitet worden sei. Am 13.10.2009 habe der Kläger bei Herrn ... angerufen und gesagt,
dass er nicht mehr komme, da er eine andere Stelle habe.
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Am 14.04.2010 erteilte die Beklagte einen „Änderungsbescheid zum Sperrzeitbescheid vom 18.02.2010“ und hob ihre Bewilligungsentscheidung
ab 24.10.2009 ganz auf. Zur Begründung berief sie sich auf ihre Sperrzeitentscheidung.
10 Mit Widerspruchsbescheid vom 19.04.2010 wies die Beklagte sodann den Widerspruch zurück. Auf die Begründung Bezug genommen.
11 Mit der am 05.05.2010 erhobenen Klage wendet sich der Kläger weiter gegen die Sperrzeitentscheidung und die damit verbundene Aufhebungs-
und Erstattungsentscheidung der Beklagten. Der Kläger vertieft zur Begründung seiner bisherigen Ausführungen.
12 Der Kläger beantragt,
13
die Bescheide vom 18.02.2010, vom 19.02.2010 und vom 14.04.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19.04.2010
aufzuheben.
14 Die Beklagte beantragt,
15
die Klage abzuweisen.
16 Die Beklagte verteidigt die angefochtenen Bescheide.
17 Die Kammer hat die Firma ... schriftlich zu den Sachverhalt befragt. Auf die Auskünfte in den Schreiben vom 04.10.2010, vom 28.10.2010 und
vom 15.11.2010 sowie das vorgelegte Personalstammdatenblatt wird Bezug genommen.
18 Die Beklagte sieht ihrer Auffassung durch die eingeholte Arbeitgeberauskunft bestätigt.
19 Die Kammer hat sodann den zuständigen Disponenten der Firma ..., Herrn ... ..., zeugenschaftlich zur Sache gehört. Für die Einzelheiten der
Zeugenaussage wird auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 10.03.2011 Bezug genommen.
20 Für das weitere Vorbringen der Beteiligten und die Einzelheiten zum Sachverhalt wird auf den Inhalt der Prozessakte und der beigezogenen
Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
21 1. Die zulässige Klage ist begründet. Die Bescheide vom 18.02.2010, vom 19.02.2010 und vom 14.04.2010 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheids vom 19.04.2010 sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten.
22 a) Eine Sperrzeit ist im streitgegenständlichen Zeitraum vom 24.10.2009 bis zum 15.01.2010 nicht eingetreten.
23 Der Anspruch auf Arbeitslosengeld ruht für die Dauer einer Sperrzeit, wenn der Arbeitslose sich versicherungswidrig verhalten hat, ohne dafür
einen wichtigen Grund zu haben (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Drittes Buch ). Versicherungswidriges Verhalten liegt unter
anderem vor, wenn er ein Beschäftigungsverhältnis gelöst oder durch ein arbeitsvertragswidriges Verhalten Anlass für die Lösung des
Beschäftigungsverhältnisses gegeben und dadurch vorsätzlich oder grob fahrlässig die Arbeitslosigkeit herbeigeführt hat (Sperrzeit bei
Arbeitsaufgabe, § 144 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB III). Die Dauer der Sperrzeit bei Arbeitsaufgabe beträgt zwölf Wochen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 SGB III).
24 Der Kläger hat sich nicht im Sinne einer solchen Arbeitsaufgabe sperrzeitrelevant verhalten. Entgegen der Auffassung der Beklagten hat er kein
bestehendes Arbeitsverhältnis durch Kündigung selbst gelöst. Denn ein Arbeitsverhältnis mit der Firma ... wurde zu keiner Zeit begründet. Wie
der Zeuge ... im Rahmen der mündlichen Verhandlung – insoweit übereinstimmend mit den Angaben des Klägers – ausgesagt hat, kam ein
Arbeitsverhältnis nicht zustande. Die Kammer hat keine Veranlassung, an dieser Aussage des Zeugen zu zweifeln. Nach den Angaben des
Zeugen hat die Firma ... einen Arbeitsvertrag zwar vorbereitet. Diesen hat der Kläger aber nicht unterschrieben. Der Kläger und die Firma ...
haben sich auch nicht etwa im Vorfeld der Unterzeichnung eines entsprechenden schriftlichen Arbeitsvertrags mündlich auf die Begründung
eines Arbeitsverhältnisses geeinigt. Zum einen wurde über die essentialia negotii eines solchen Arbeitsvertrags (insbesondere Entlohnung und
Arbeitszeit) überhaupt nicht gesprochen, so dass insoweit auch keine mündliche Einigung erzielt werden konnte. Zum anderen war der Zeuge ...,
der auch nach den schriftlichen Auskünften der Firma ... einzig wegen einer Anstellung mit dem Kläger gesprochen hat, auch nicht zum
Abschluss eines Arbeitsvertrags befugt.
25 Da ein Arbeitsverhältnis mithin nicht zustande kam, kann die Lösung eines solchen Arbeitsverhältnisses auch nicht Grundlage einer Sperrzeit
wegen Arbeitsaufgabe gemäß § 144 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB III sein. Auf die Frage, ob das vermeintliche Arbeitsverhältnis durch Kündigung des
Klägers beendet worden sein oder der Kläger zu einer Beendigung durch vertragswidriges Verhalten Anlass gegeben haben könnte, kam es
daher nicht mehr an. Im Übrigen läge eine wirksame Kündigung selbst unter Zugrundelegung der ursprünglichen schriftlichen Auskünfte der
Firma ... nicht vor. Eine eigene arbeitgeberseitige Kündigung ist unstreitig nicht erfolgt. Auch eine mündliche Erklärung des Klägers aber konnte,
selbst wenn man vom Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses ausginge, dieses nicht rechtswirksam beenden. Denn die Kündigung von
Arbeitsverhältnissen bedarf nach der zwingenden gesetzlichen Regelung des § 623 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), die insoweit auch eine
Warnfunktion verfolgt (vgl. näher Henssler, in: Münchener Kommentar zum BGB, 5. Aufl. 2009, § 623 Rdrn. 2 m.w.N.), der Schriftform. Bei
Zugrundelegung der ursprünglichen Angaben der Firma ... bestünde daher noch heute ein ungekündigtes Arbeitsverhältnis. Eine mündliche
Kündigung kann somit – sofern der Arbeitgeber diese nicht zum Anlass nimmt, seinerseits formwirksam zu kündigen – unter keinem denkbaren
Gesichtspunkt eine Sperrzeit bei Arbeitsaufgabe auslösen.
26 b) Da die von der Beklagten festgestellte Sperrzeit bei Arbeitsaufgabe nicht eingetreten ist, ist auch die Aufhebungsentscheidung der Beklagten
vom 14.04.2010 rechtswidrig. Denn Voraussetzung für die Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosengeld wäre eine wesentliche Veränderung
in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen bei Erlass der Bewilligungsentscheidung (§ 48 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch
). Die Beklagte hat die Aufhebungsentscheidung in dem angefochtenen Bescheid, der als „Änderungsbescheid zum Sperrzeitbescheid
vom 18.02.2010 wegen Eintritt einer Sperrzeit vom 24.10.2009 bis zum 15.01.2010“ überschrieben ist, ausschließlich mit dem Ruhen des
Arbeitslosengeldes für die Dauer der festgestellten Sperrzeit begründet. Eine Sperrzeit ist jedoch wie vorstehend dargelegt nicht eingetreten. Der
Aufhebungsbescheid kann auch nicht aus anderen Gründen, etwa mit Blick auf die Fortführung der Probearbeit über den von der Beklagten
genehmigten Zeitraum hinaus, ganz oder teilweise aufrecht erhalten bleiben. Die Beklagte ist zwar grundsätzlich nicht gehindert, Gründe zur
Rechtfertigung eines belastenden Verwaltungsaktes auch noch im gerichtlichen Verfahren „nachzuschieben“. Ein solches Nachschieben von
Gründen darf jedoch nicht zu einer Wesensveränderung der angefochtenen Entscheidung führen (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 9. Aufl. 2008, § 54 Rdnrn. 35 ff.; Schütze, in: von Wulffen, SGB X, 6. Aufl. 2008, § 41 Rdnr. 12, jeweils m.w.N.). So läge der Fall aber hier, da
die nur für die Zeit vom 24.10.2009 bis zum 29.10.2009 denkbare Aufhebung nicht wie bisher auf eine Eigenkündigung des Klägers, sondern
allenfalls auf ein mögliches Entfallen der Wirkung der persönlichen Arbeitslosmeldung nach einer nicht angezeigten Verlängerung der
Probearbeitszeit bis zur erneuten persönlichen Vorsprache am 30.10.2009 gestützt werden könnte (§§ 118 Abs. 1 Nr. 2, 122 Abs. 2 Nr. 2 SGB III).
Hierbei handelt es sich jedoch um einen völlig anderen Lebenssachverhalt, so dass die Begründung nicht dergestalt ausgewechselt werden
kann. Im Übrigen hat die Beklagte den Kläger insoweit auch nie förmlich angehört (vgl. § 24 Abs. 1 SGB X), so dass eine mit entsprechend
ausgewechselter Begründung teilweise aufrecht erhaltene Aufhebungsentscheidung auch unter formellen Gesichtspunkten rechtswidrig wäre
(vgl. hierzu Bundessozialgericht, Urteil vom 09.11.2010 – B 4 AS 37/09 R, Rdnrn. 14 ff. ).
27 c) Mangels rechtswirksamer Aufhebung kann die Beklagte vom Kläger auch keine Erstattung gezahlten Arbeitslosengeldes verlangen (§ 50 Abs.
1 Satz 1 SGB X).
28 2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).