Urteil des SozG Karlsruhe vom 28.10.2010

SozG Karlsruhe: alleinerziehende mutter, ärztliche behandlung, asthma bronchiale, kur, krankheit, gesundheit, form, entlastung, einfluss, eltern

Sozialgericht Karlsruhe
Urteil vom 28.10.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Karlsruhe S 3 KR 2544/09
Der Bescheid vom 18.03.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbe-scheides vom 04.06.2009 wird aufgehoben. Die
Beklagte wird verurteilt, der Klägerin eine stationäre Mutter-Kind-Maßnahme zu gewähren. Die Beklagte hat der
Klägerin deren außergerichtliche Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin eine Mutter-Kind-Maßnahme zu gewähren ist.
Die 1962 geborene Klägerin ist alleinerziehende Mutter ihrer im Februar 2000 geborenen Tochter A ... Sie ist als
Diplomkauffrau teilzeitbeschäftigt mit 30 Stunden pro Woche. Im Zeitraum vom 15.08. bis 11.09.2007 befand sich die
Tochter der Klägerin im Reha-Zentrum U. einer stationäre Reha-Maßnahme. Die Klägerin war Begleitperson (Bericht
vom 15.10.2007).
Am 11.02.2009 beantragte die Klägerin eine Mutter-Kur bzw. Mutter-Kind-Kur. Zu den Be-lastungen und zum
Tagesablauf wurde u. a. ausgeführt, dass sie unter Kopfschmerzen, Reizbarkeit mit ständigen
Einschlafschwierigkeiten und Wachsein ab 4.00 Uhr morgens leide. Der Beruf erfordere höchste Konzentration.
Wochentags habe sie keine Erholungsphase und am Wochenende sei eine Dauerbetreuung ihrer Tochter erforderlich.
Sie habe ein ständiges Krankheitsgefühl und für Erwachsene-Kontakte habe sie keine Zeit. Von einer beantragten
Maßnahme erhoffe sie sich Kraft zu schöpfen, bessere Nerven zu bekommen, entspannen zu können sowie
Erziehungshilfe. Der Internist Dr. Sch. verordnete die beantragte Maßnahme wegen Erschöpfung, Reaktionen auf
Belastungen, Rückenschmerzen und Adipositas der Klägerin. Als psychosoziale Situation benannte er den Zustand
der Klägerin als alleinerziehende Mutter mit Vollzeitberufstätigkeit. Der von der Beklagten befragte MDK legte in
seiner Stellungnahme vom 12.03.2009 dar, dass eine gesundheitliche Gefährdung durch eine außergewöhnliche
mutterspezifische Belastungssituation nicht nachvollziehbar sei. Wegen Asthma und Neurodermitis des Kindes wäre
Behandlungsbedürftigkeit in einer Mutter-Kind-Kur gegeben. Jedoch liege die Indikation für eine vorzeitige Reha-
Maßnahme für die Tochter nicht vor. Gestützt hierauf lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 18.03.2009 die
beantragte Leistung ab. Mit hiergegen mit Schreiben vom 24.03.2009 erhobenem Widerspruch wurde wiederholend
vorgetragen, dass die Tochter durch allergische Erkrankungen höchst infektanfällig bis zu zehnmal im Quartal
erkrankt sei. Abgesehen davon fühle die Klägerin sich seit Monaten erschöpft und ermüdet. Die Erwerbstätigkeit und
volle Verantwortung für Erziehung und Haushalt überfordere sie. Im Attest vom 27.04.2009 führte der Internist Dr.
Sch. ergänzend aus, dass mittlerweile auch eine psychologische Mitbetreuung der Klägerin und deren Tochter
notwendig geworden sei. Er halte die Herausnahme der beiden aus ihrem gewohnten Umfeld für notwendig, um die
intrafamiliäre Spannungen professionell zu analysieren und zu therapieren. Der Kinderarzt K. teilte im Attest vom
30.04.2009 mit, dass bei der Tochter eine atopische Erkrankung (allergische Rhinitis, Asthma bronchiale atopicum)
bestehe, die im Intervall einer intensiven antiallergischen Therapie bedürfen. Aufgrund der Familiensituation und der
kindlichen Erkrankung könne eine außergewöhnliche interfamiliäre Belastungssituation diagnostiziert werden, so dass
dringlich eine Kurmaßnahme indiziert sei. Der nochmals befragte MDK führte in seinem Gutachten vom 08.05.2009
nach Aktenlage aus, dass vorliegend zwar Befindlichkeits- und Fähigkeitsstörungen vorliegen, eine besondere, über
das allgemeine Maß hinausgehende außergewöhnliche Belastung durch die spezifische Elternrolle könne jedoch den
vorliegenden Informationen nicht entnommen werden. Im vorliegenden Fall seien zielführend Hilfen vor Ort, z. B.
Familienhilfe, Beratung und soziale Kontakte der Kinder vor Ort. Gestützt hierauf wies die Beklagte den klägerischen
Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 04.06.2009 zurück.
Hiergegen ist am 12.06.2009 Klage erhoben worden. Zur Begründung der Klage wird den bisherigen Sachvortrag im
Wesentlichen wiederholend vorgetragen, dass die Klägerin aufgrund der starken Belastungssituation seit Monaten
sehr erschöpft und übermüdet sei. Dazu kämen die bereits vorgetragenen gesundheitlichen Probleme der Tochter. Da
die Tochter noch nicht alleine bleiben könne und gegenüber anderen Personen misstrauisch und ängstlich reagiere,
könne eine Maßnahme nur im Rahmen einer Mutter-Kind-Kur stattfinden.
Zur weiteren Darstellung des klägerischen Vorbringens wird auf den Inhalt der Schriftsätze verwiesen.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid vom 18.03.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.06.2009 aufzuheben und die
Beklagte zu verurteilen, eine stationäre Mutter-Kind-Maßnahme zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hält die angefochtenen Bescheide für rechtsfehlerfrei.
Das Gericht hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhaltes die behandelnden Dres. Sch. und K. sowie die
Psychotherapeutin W. als sachverständige Zeugen befragt. Auf deren Inhalt wird Bezug genommen.
Dem Gericht haben die Unterlagen der Beklagten vorgelegen. Zur weiteren Darstellung des Tatbestandes wird auf
deren Inhalt sowie auf die Prozessakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und begründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig.
Gemäß § 24 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte unter den in § 23 Abs. 1 genannten Vo-raussetzungen
Anspruch auf aus medizinischen Gründen erforderliche Vorsorgeleistungen in einer Einrichtung des
Müttergenesungswerkes oder einer gleichartigen Einrichtung. Die Leistung kann in Form einer Mutter-Kind-Maßnahme
erbracht werden. Gemäß § 24 Abs. 1 Satz 4 SGB V gilt § 23 Abs. 4 Satz 1 nicht. Gemäß § 23 Abs. 1 SGB V haben
Versicherte Anspruch auf u. a. ärztliche Behandlung, wenn diese notwendig ist, 1. eine Schwächung der Gesundheit,
die in absehbarer Zeit voraussichtlich zu einer Krankheit führen würde, zu beseitigen, 2. einer Gefährdung der
gesunden Entwicklung eines Kindes entgegenzuwirken, 3. Krankheiten zu verhüten oder deren Verschlimmerung zu
vermeiden.
Eine Leistung zur medizinischen Vorsorge kann mithin nur dann beansprucht werden, wenn sie von einer
Vorsorgeindikation gedeckt ist. Voraussetzung hierfür ist 1. ein nach § 23 Abs. 1 SGB V relevantes Gesundheitsrisiko
und 2., dass diesem Risiko erfolgversprechend nur mit einer Maßnahme nach § 24 SGB V entgegengewirkt werden
kann. Ein relevantes Gesundheitsrisiko im Sinne des § 23 Abs. 1 Nr. 1, 3 SGB V ist vorliegend gegeben. Die
zwischenzeitlich die Klägerin zusätzlich behandelnde Psychotherapeutin hat in ihrer sachverständigen
Zeugenauskunft vom 04.03.2010 darüber berichtet, dass aufgrund schwerer Belastungen Ein- und
Durchschlafstörungen, Spannungskopfschmerz, Verdauungsstörungen, vegetative Störungen, belastungsbedingte
Essstörungen sowie rezidivierende behandlungsresistente Bronchitiden bestehen. Mithin werden die Ausführungen
des Dr. Sch. der erneut in seiner sachverständigen Zeugenauskunft vom 15.03.2010 über das Überlastungssyndrom
durch Belastung als Alleinerziehende und Beruf berichtet, bestätigt. Bei den zuletzt von der Psychotherapeutin
beschriebenen Störungen handelt es sich um Krankheiten, deren Verschlimmerung durch eine Vorsorgemaßnahme
vermieden werden kann. Die Indikation für die medizinische Vorsorgeleistung gemäß § 23 Abs. 1 ist entweder eine
Schwächung der Gesundheit, die in absehbarer Zeit voraussichtlich zu einer Krankheit führen würde, zu beseitigen
(Erschöpfungszustand) oder die Verschlimmerung einer Krankheit ( Kopfschmerzen, Verdauungsstörungen,
Essstörungen) zu vermeiden. Dies ist vorliegend der Fall. Nach den gem. § 23 Abs. 1 SGB V geltenden
Anspruchsvoraussetzungen ist abweichend von der Auffassung der Beklagten und des MdK nicht maßgebend, dass
diese ihre Ursache in einer "außergewöhnlichen" psychosozialen Belastungssituation haben.
Zur Überzeugung der Kammer kann vorliegend auch nur mit einer Maßnahme nach § 24 SGB V dem dargestellten
Gesundheitsrisiko mit Erfolg entgegengewirkt werden. Nach dem systematischen Kontext der §§ 23, 24 SGB V ist
Zweck der Leistungen nach § 24 SGB V die Reduzierung von gesundheitlichen Belastungen, die wesentlich aus der
Eltern-Kind-Beziehung herrühren. Ziel der Leistungen nach § 24 SGB V kann mithin deshalb nur die Minderung solcher
gesundheitlicher Belastungen sein, die in wesentlicher Hinsicht durch gesundheitliche Belastungen aus der Stellung
der Versicherten als Mutter eines oder mehrerer Kinder verursacht und/oder aufrecht erhalten werden. Zweck der
Leistungen in diesem Sinne ist mithin, im Rahmen stationärer Vorsorgeleistungen durch ganzheitliche
Therapieansätze unter Einbeziehung psychologischer, psychosozialer und gesundheitsfördernder Hilfen den
spezifischen Gesundheitsrisiken von Müttern und Vätern entgegenzuwirken ( siehe Begutachtungs-Richtlinie des
MDS - Vorsorge und Rehabilitation Oktober 2005, Seite 29). Da einerseits gemäß § 24 Abs. 1 Satz 4 SGB V i. V. m.
§ 23 Abs. 4 SGB V für die Gewährung einer medizinischen Vorsorgemaßnahme für Mütter und Väter nicht erforderlich
ist, dass zunächst die ambulanten Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft sein müssen (siehe hierzu auch
Bundestagsdrucksache 16/3100, Seite 101, sowie die Antwort des Parlamentarischen Staats-sekretärs D. Bahr vom
03.09.2010 - BT-Drucksache 17/2892 Nr. 101 vom 10.09.2010), ande-rerseits Leistungen der gesetzlichen
Krankenversicherung nur beansprucht werden können, wenn sie notwendig im Sinne des § 12 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz
2 SGB V sind, kann eine Leistung nach § 24 SGB V dann nicht beansprucht werden, wenn das Vorsorgeziel mit
anderen, auch ambulanten Maßnahmen ebenso erreicht werden kann. Allerdings kann dies bei Vorsorgeleistungen
gemäß § 24 SGB V nicht ausschließlich nach den Möglichkeiten der medizinischen Versorgung selbst zu beurteilen
sein, sondern danach, ob die Versicherten dem sie gesundheitlich belastenden Einfluss ihrer Kinder bzw. ihrer
spezifischen Rolle als Erziehender weiter ausgesetzt sind oder ob sie jedenfalls für die Dauer einer
Vorsorgemaßnahme Entlastung erfahren sollen (so auch Schütze in: jurisPK-SGB V, § 24 SGB V, Rn. 29) und
deshalb eine ambulante Maßnahme am Wohnort gerade wegen der aus der Eltern-Kind-Beziehung herrührenden
gesundheitlichen Beeinträchtigung nicht geeignet entgegenwirken kann.
Dies ist vorliegend zur Überzeugung der Kammer der Fall. Sämtliche die die Klägerin behandelnden Ärzte als auch der
Kinderarzt bestätigen übereinstimmend, dass die von ihnen diagnostizierten Störungen ihre Ursache ausschließlich im
belastenden Einfluss als vorwiegend alleinverantwortlich erziehende Mutter mit einer Berufstätigkeit von 30
Arbeitsstunden pro Woche haben. Angesichts dessen ist für die erkennende Kammer nicht erkennbar, inwiefern durch
die mit intensivierten ambulanten Maßnahmen verbundenen zusätzlichen Belastungen der Klägerin eine entlastende
Wirkung in ihrer besonderen Rolle als alleinerziehende und berufstätige Mutter erreicht werden kann. Eine Entlastung
durch ambulante Behandlungsmöglichkeiten reicht mithin zur Überzeugung der Kammer nach dem Dargestellten nicht
aus.
Die Klägerin hat einen Anspruch auf Gewährung einer Vorsorgemaßnahme in einer Einrichtung des
Müttergenesungswerks oder einer gleichartigen Einrichtung im Sinne des § 24 Abs. 1 Satz 1 erster Halbsatz SGB V.
Ob die Leistung in Form einer Mutter-Kind-Maßnahme zu erbringen ist, steht im Ermessen der Beklagten. Für die
Beurteilung, ob eine Ermessensreduzierung auf Null angenommen werden kann, ist maßgebend, ob bei fehlendem
wesentlichen Erkrankungsrisiko des Kindes die der Klägerin zu gewährende Leistung tatsächlich und/oder rechtlich
zumutbar ohne das Kind nicht durchgeführt werden kann. Dies ist vorliegend nach den glaubhaften Darlegungen der
Klägerin der Fall.
Die im Zeitraum vom 15.08. bis 11.09.2007 der Tochter der Klägerin gewährte Reha-Maßnahme steht der Bewilligung
der Mutter-Kind-Maßnahme gemäß § 24 Abs. 2 SGB V i. V. m. § 23 Abs. 4 SGB V nicht entgegen. Hiernach können
stationäre medizinische Vorsorgemaßnahmen nicht vor Ablauf von vier Jahren nach Durchführung solcher oder
ähnlicher Leistungen erbracht werden, es sei denn eine vorzeitige Leistung ist aus medizinischen Gründen dringend
erforderlich. Die stationäre Reha-Maßnahme des Jahres 2007 ist der Tochter der Klägerin bewilligt worden. Bei der
Vorsorgemaßnahme nach § 24 Abs. 1 SGB V handelt es sich primär um eine solche der Mutter. Mithin ist eine
Wartefrist von vier Jahren vorliegend nicht beachtlich.
Nach alledem war der Klage mit der Kostenfolge aus § 193 Abs. 1 SGG stattzugeben.