Urteil des SozG Karlsruhe vom 14.03.2011

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SG Karlsruhe Urteil vom 14.3.2011, S 5 AS 4172/10
Grundsicherung für Arbeitsuchende - Leistungsausschluss bei Ortsabwesenheit ohne Zustimmung - keine Anwendung auf alleinerziehende
Hilfebedürftige in Elternzeit
Leitsätze
§ 7 Abs. 4a SGB II ist nicht anwendbar auf alleinerziehende Hilfebedürftige, die sich in Elternzeit befinden.
Tenor
1. Der Bescheid vom 23.2.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 9.9.2010 wird aufgehoben.
2. Die Beklagte hat der Klägerin deren außergerichtliche Kosten zu erstatten.
Tatbestand
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Streitig ist die Aufhebung einer Bewilligung von Arbeitslosengeld II sowie die Erstattung erbrachter Leistungen.
2
Die Klägerin ist bei der S.-Bank angestellt. Sie lebt mit ihren Kindern M. (geb. ... 2002) und Y. (geb. ... 2008) zusammen und sorgt allein für deren
Pflege und Erziehung. Seit der Geburt ihres Sohnes Y. befindet sie sich in Elternzeit; die Elternzeit endet am ... 2011.
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Mit Bescheid vom 3.4.2009 bewilligte die Beklagte der Klägerin für die Zeit vom 1.5. - 31.10.2009 Leistungen zur Sicherung des
Lebensunterhalts nach dem SGB II in Höhe von monatlich 477 EUR. Die bewilligten Leistungen erhöhte sie mit Bescheid vom 6.6.2009 für die
Zeit vom 1.7. - 31.10.2009 auf monatlich 488 EUR.
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Mit Bescheid vom 23.2.2010 hob die Beklagte die Bewilligung für die Zeit vom 9.6. - 17.9.2009 auf; zugleich forderte sie von der Klägerin
Erstattung eines Betrags in Höhe von 2.075,04 EUR. Zur Begründung gab sie an, die Klägerin habe sich im streitigen Zeitraum in Tunesien
aufgehalten, also außerhalb des in der Erreichbarkeitsanordnung (EAO) definierten zeit- und ortsnahen Bereichs. Sie habe daher nicht
unverzüglich eine Beschäftigung aufnehmen können. Aufgrund dessen hätten ihr gemäß § 7 Abs. 4a SGB II keine Leistungen zugestanden. Dies
habe die Klägerin gewusst bzw. wissen müssen. Die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X für eine Aufhebung der Bewilligung
seien somit erfüllt. Das zu Unrecht gezahlte Arbeitslosengeld II in Höhe von 1.602,33 EUR müsse die Klägerin gemäß § 50 SGB X erstatten,
ebenso gemäß § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB II i. V. m. § 335 Abs. 1 SGB III die im streitigen Zeitraum entrichteten Beiträge zur Kranken- und
Pflegeversicherung in Höhe von 472,71 EUR.
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Hiergegen legte die Klägerin am 12.3.2010 Widerspruch ein. Sie machte geltend, sie habe sich im streitigen Zeitraum nicht in Tunesien
aufgehalten. Die Beklagte stütze ihre Annahme offenbar darauf, dass von ihrem Girokonto vereinzelt Geld in Tunesien abgehoben wurde. Die
Abhebungen habe aber nicht sie vorgenommen, sondern ihr Vater, der sich zur Zeit in Tunesien befinde. Sie habe noch Schulden bei ihrem
Vater. Aufgrund dessen habe sie ihm ihre ec-Karte mit der Maßgabe überlassen, dass er im Notfall - nach Absprache mit ihr - einen geringen
Betrag abheben dürfe; auf diese Weise habe sie ihre Schulden tilgen wollen. Eine Zahlung per Auslandsüberweisung wäre deutlich teurer
gewesen. Die Ausleihung der ec-Karte habe sie nicht beeinträchtigt. Sie habe im Vorfeld etwas Geld angesammelt und ihre Einkäufe bar bezahlt.
Außerdem habe sie mit ihrem Personalausweis auch ohne ec-Karte Geld von ihrem Konto abheben können. Die Miete, die sie ihrer Mutter in
dieser Zeit habe schuldig bleiben müssen, habe sie nachträglich geleistet. Mittlerweile habe ihr Vater die ec-Karte wieder zurückgeschickt, damit
ein solches Missverständnis nicht nochmals auftrete. Gegen die Annahme der Beklagten spreche zudem, dass sie eine schulpflichtige Tochter
habe; schon aus diesem Grunde sei eine solch lange Ortsabwesenheit gar nicht möglich. Im Übrigen befinde sie sich im Hinblick auf ihren Sohn
vom ... 2008 - ... 2011 in Elternzeit; das Arbeitsverhältnis bestehe weiterhin. Sie müsse sich daher nicht zur unverzüglichen Aufnahme einer
Beschäftigung zur Verfügung stellen.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 9.9.2010 wies die Beklagte den Widerspruch zurück und bekräftigte zur Begründung ihre Auffassung, wonach
sich die Klägerin im streitigen Zeitraum ohne Zustimmung außerhalb des in der EAO definierten zeit- und ortsnahen Bereichs aufgehalten habe.
Der Vortrag der Klägerin sei nicht überzeugend.
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Mit der am 5.10.2010 erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihren Antrag weiter. Sie trägt ergänzend vor, nach Auffassung des LSG Baden-
Württemberg (Urteil vom 14.7.2010, L 3 AS 3552/09) finde § 7 Abs. 4a SGB II auf Bezieher von Sozialgeld keine Anwendung, da diese der
Arbeitsvermittlung ohnehin nicht zur Verfügung stünden und es auf ihre Ortsanwesenheit zum Zwecke einer effektiven Vermittlung daher nicht
ankomme. Gleiches gelte im vorliegenden Fall: Zwar sei sie grundsätzlich erwerbsfähig, wegen ihrer Elternzeit vom ... 2008 - ... 2011 müsse sie
aber keine Beschäftigung aufnehmen, stehe also der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung. Für eine Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit
fehle es daher an einer Rechtfertigung. Doch selbst wenn § 7 Abs. 4a SGB II hier anwendbar wäre, seien jedenfalls die Voraussetzungen des §
48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X - für die die Beklagte die objektive Beweislast trage - nicht erfüllt: Das SGB II enthalte keine ausbuchstabierte
gesetzliche Regelung zur Erreichbarkeit. Die Vorgaben der EAO seien einem Hilfebedürftigen nicht ohne weiteres bekannt und müssten dies
auch nicht sein. Angesichts dessen habe der Grundsicherungsträger dem Hilfebedürftigen seine Obliegenheit, vor Ortsabwesenheit eine
Zustimmung des persönlichen Ansprechpartners einzuholen, durch Beratung oder einen Hinweis in einer Eingliederungsvereinbarung zu
verdeutlichen. Vor diesem Hintergrund habe sie jedenfalls nicht die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt.
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Die Klägerin beantragt,
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den Bescheid vom 23.2.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 9.9.2010 aufzuheben.
10 Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
12 Sie verweist zur Begründung auf die angefochtenen Bescheide.
13 Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakte sowie die Verwaltungsakte der Beklagten Bezug
genommen.
Entscheidungsgründe
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1)
die Beklagte die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für die Zeit vom 9.6. - 17.9.2009 aufgehoben
(dazu a) und Erstattung gefordert (dazu b).
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a)
X in Betracht. Nach dieser Vorschrift ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen
Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Eine Änderung ist dann „wesentlich“, wenn sie
rechtlich zu einer anderen Bewertung führt. § 48 SGB X setzt mithin voraus, dass aufgrund veränderter Umstände der ursprüngliche
Verwaltungsakt nun (so) nicht mehr erlassen werden dürfte (BSG, NZS 2008, 160 Rdnr. 3; Schütze in: von Wulffen , SGB X, 7. Aufl., § 48 Rdnr.
12).
16 Daran fehlt es hier. Denn der Klägerin standen vom 9.6. - 17.9.2009 unverändert Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB
II zu, und zwar selbst dann, wenn sie sich in diesem Zeitraum in Tunesien aufgehalten haben sollte. Entgegen der Ansicht der Beklagten schließt
§ 7 Abs. 4a SGB II den Anspruch nicht aus:
17 Nach dieser Vorschrift erhält keine Leistungen nach dem SGB II, wer sich ohne Zustimmung des persönlichen Ansprechpartners außerhalb des
in der EAO definierten zeit- und ortsnahen Bereichs aufhält; die übrigen Bestimmungen dieser Anordnung gelten entsprechend.
18 Die Vorgabe, den zeit- und ortsnahen Bereich im Sinne der EAO nicht ohne Zustimmung des Ansprechpartners zu verlassen, schränkt die durch
Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistete Handlungsfreiheit des Hilfebedürftigen ein. Angesichts dessen ist stets zu prüfen, ob hierfür unter
Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls eine sachliche Rechtfertigung besteht ( Winkler , info also 2007, 3, 7).
19 Nach der Vorstellung des Gesetzgebers soll § 7 Abs. 4a SGB II dazu beitragen, den Hilfebedürftigen zu einer aktiven Mitwirkung an seiner
Eingliederung in den Arbeitsmarkt zu bewegen (BT-Drucks. 16/1696 Seite 26). Damit der Grundsicherungsträger eine effektive
Vermittlungstätigkeit entfalten kann, soll der Hilfebedürftige für diesen erreichbar sein (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 14.7.2010, L 3 AS
3552/09, Rdnr. 43 - nach Juris; Brühl/Schoch in: Münder , SGB II, 3. Aufl., § 7 Rdnr. 109).
20 Kommt indes im Einzelfall gar keine Eingliederung in den Arbeitsmarkt in Betracht, so besteht kein Grund, die Handlungsfreiheit des
Hilfebedürftigen zu begrenzen; § 7 Abs. 4a SGB II findet in einer solchen Konstellation keine Anwendung. Dies gilt zum einen für
erwerbsunfähige Bezieher von Sozialgeld nach § 28 SGB II (LSG Baden-Württemberg, a. a. O., Rdnr. 39 - nach Juris), zum anderen für
Hilfebedürftige, denen nach § 10 Abs. 1 SGB II keine Erwerbstätigkeit zumutbar ist ( Brühl/Schoch , a. a. O.; Winkler , a. a. O., Seite 9).
21 Gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 3 SGB II ist einem Hilfebedürftigen die Ausübung einer Arbeit unzumutbar, wenn sie die Erziehung seines Kindes
gefährden würde. Jedenfalls bei Betreuung eines Kindes unter drei Jahren durch einen Alleinerziehenden kann der Grundsicherungsträger die
Aufnahme einer Erwerbstätigkeit nicht verlangen ( Brühl in: Münder , a. a. O., § 10 Rdnr. 17; Valgolio in: Hauck/Noftz , SGB II, § 10 Rdnr. 105;
Hackethal in: jurisPK-SGB II, 2. Aufl., § 10 Rdnr. 19). Dies gilt auch und erst recht, wenn sich der alleinerziehende Hilfebedürftige gemäß § 15
BEEG in Elternzeit befindet ( Brühl , a. a. O., Rdnr. 18): Nimmt ein Arbeitnehmer Elternzeit in Anspruch, bleibt sein Arbeitsverhältnis bestehen;
allerdings ruhen die wechselseitigen Hauptpflichten wie die Vergütungspflicht und die Arbeitspflicht ( Sievers in: Hambüchen ,
BEEG/EStG/BKGG, § 15 BEEG Rdnr. 45; Dörner/Gallner in: ErfK, 11. Aufl., § 15 BEEG Rdnr. 10 und 25). Es wäre widersprüchlich, den
Hilfebedürftige einerseits von der Pflicht freizustellen, in seinem bisherigen und weiter bestehenden Beschäftigungsverhältnis zu arbeiten (um
ihm die Betreuung seines Kindes zu ermöglichen), ihn andererseits aber zu verpflichten, eine andere Erwerbstätigkeit aufzunehmen.
22 Vor diesem Hintergrund findet § 7 Abs. 4a SGB II im vorliegenden Fall keine Anwendung. Die Klägerin hatte bei Beginn des streitigen Zeitraums
als Alleinerziehende für die Pflege und Erziehung ihrer (siebenjährigen) Tochter M. und ihres (einjährigen) Sohnes Y. gesorgt. Zudem befand sie
sich seit der Geburt ihres Sohnes am ... 2008 in Elternzeit. Angesichts dessen bestand im streitigen Zeitraum für sie keine Verpflichtung zur
Aufnahme einer Arbeit und damit auch keine Verpflichtung, auf etwaige Vermittlungsvorschläge der Beklagten zu reagieren. Es fehlte also an
einem rechtfertigenden Grund dafür, die Klägerin den Anforderungen der EAO an die Erreichbarkeit zu unterwerfen.
23 Andere Umstände, die hier eine Aufhebung der Bewilligung begründen könnten, sind weder ersichtlich noch von der Beklagten vorgetragen.
Insbesondere hatte die Klägerin ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des § 36 SGB II weiterhin im Zuständigkeitsbereich der Beklagten. Dies
gilt selbst dann, wenn sie sich vom 9.6. - 17.9.2009 in Tunesien aufgehalten haben sollte. Denn eine Urlaubsfahrt ins Ausland hat keinen Einfluss
auf den Ort des gewöhnlichen Aufenthalts (vgl. LSG Baden-Württemberg, a. a. O., Rdnr. 46 - nach Juris).
24
b)
nicht wirksam aufgehoben, scheidet eine Verpflichtung zur Erstattung dieser Leistungen aus. Denn gemäß § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X sind
erbrachte Leistungen nur zu erstatten, soweit der zugrunde liegende Verwaltungsakt aufgehoben worden ist. Gleiches gilt für die Beiträge zur
Kranken- und Pflegeversicherung.
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2)