Urteil des SozG Dresden vom 03.11.2009

SozG Dresden: wohnung, elterliche sorge, zusicherung, stiefvater, hauptsache, familie, rechtsgrundlage, zivilprozessordnung, umzug, wohngemeinschaft

Sozialgericht Dresden
Beschluss vom 03.11.2009 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Dresden S 10 AS 5249/09 ER
1. Es wird im Wege der einstweiligen Anordnung festgestellt, dass der Antragsgegner verpflichtet ist, dem
Antragsteller vorläufig Leistungen für die Unterkunft und Heizung in der Wohnung in der G. straße X in R. als
Mitbewohner in einer Wohngemeinschaft mit einer weiteren Person nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II zu erbringen. 2.
Der Antragsgegner trägt die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers.
Gründe:
I.
Der Antragsteller begehrt vom Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Zustimmung zu einem
beabsichtigten Umzug gemäß § 22 Abs. 2a Zweites Buch Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende –
(SGB II). Der am 1989 geborene Antragsteller ist derzeit obdachlos. Der Mutter des Antragstellers war im Jahr 2004
die elterliche Sorge entzogen worden. Der Antragsteller hatte sodann in einem Kinderheim gelebt, war jedoch im Jahr
2006 auf Grund schulischer Schwierigkeiten in die Wohnung seiner Mutter und deren Lebensgefährten zurückgekehrt.
Seit Dezember 2007 wohnen seine Mutter, ihr Lebensgefährte und zwei weitere Kinder in einer Wohnung in der B. str.
X in R ... Die Familie bezieht Leistungen nach dem SGB II. Der Antragsteller war zunächst in diese Wohnung mit
eingezogen, Anfang 2009 aber zu seiner damaligen Freundin nach D. gezogen. Zu diesem Zeitpunkt befand er sich in
einem Ausbildungsverhältnis und nahm in D. kein Arbeitslosengeld II in Anspruch. Am 01.06.2009 musste der
Antragsteller aus der Wohnung seiner früheren Freundin ausziehen, nachdem es zu einem Zerwürfnis gekommen war.
Seitdem hat der Antragsteller keinen festen Wohnsitz und übernachtet bei Freunden, seiner Schwester und
gelegentlich bei seiner Mutter. Mit Bescheid vom 09.07.2009 bewilligte die Agentur für Arbeit Dresden dem
Antragsteller Arbeitslosengeld in Höhe von monatlich 148,20 EUR. Nachdem der Antragsgegner den Antragsteller
mehrfach, ohne dass es hierfür jegliche Rechtsgrundlage gäbe, wieder weggeschickt hatte, gelang es dem
Prozessbevollmächtigten des Antragstellers am 24.09.2009 auf postalischem Wege, einen Antrag auf Leistungen
nach dem SGB II für den Antragsteller beim Antragsgegner anzubringen. Der Antragsteller beabsichtigte nunmehr, mit
Frau G. in Form einer Wohngemeinschaft in eine Wohnung in der G. straße X in R. zu ziehen. Hierzu legte er ein
Wohnungsangebot des Vermieters vor, demzufolge die Grundmiete 255 EUR, die Betriebskostenvorauszahlung 73,50
EUR, die Kabel-TV-Kosten 10,50 EUR und die Heizkostenvorauszahlung 46 EUR, die Warmmiete insgesamt also
monatlich 385 EUR beträgt. Mit Bescheid vom 19.10.2009 lehnte der Antragsgegner die Zusicherung für den Umzug
ab. Mit Bescheid vom 23.10.2009 bewilligte der Antragsgegner dem Antragsteller für Sep-tember 2009 3,68 EUR und
für Oktober 2009 bis Februar 2010 monatlich 168,80 EUR. Der Antragsteller erhob am 21.10.2009 Widerspruch gegen
den Bescheid vom 19.10.2009, den der Antragsgegner mit Widerspruchsbescheid vom 23.10.2009 zurückwies. Am
selben Tag führte der Antragsgegner einen Hausbesuch bei der Mutter des Antragstellers durch. Der Antragsteller hat
am 23.10.2009 Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beim Sozialgericht Dresden gestellt und zugleich
Klage erhoben, die unter dem Az. S 10 AS 5266/09 geführt wird und über die bislang noch nicht entschieden ist. In
der Familie bestünden seit Jahren erhebliche soziale Probleme. Das Zimmer in der Wohnung der Mutter, in das er
einziehen solle, sei nur 7,6 m² groß. Mit dem Lebensgefährten der Mutter bestünden weiterhin erhebliche Differenzen.
Es komme zu verbalen Entgleisungen und ständigen Zankereien. Der Antragsteller beantragt, Der Antragsgegner wird
einstweilig verpflichtet, dem Antragsteller die An-gemessenheit der Wohnung G. str. X, R. zu bestätigen. Darüber
hinaus hat der Antragsgegner die Notwendigkeit des Umzuges zu bestätigen. Der Antragsgegner beantragt, den
Antrag abzuweisen. Es fehle ein schlüssiger Vortrag zum Aufenthaltsort des Antragstellers. Zwar lägen
Meinungsverschiedenheiten vor, allerdings reichten diese allein für einen Auszug nicht aus. Es bestehe kein
Anordnungsgrund. Es sei fraglich, wieso der Antragsteller gerade in diese Wohnung ziehen müsse. Am 02.11.2009
hat ein Erörterungstermin stattgefunden, in dem der Antragsteller ausführlich persönlich angehört und seine Mutter,
Frau H. , als Zeugin vernommen worden ist. Auf den Inhalt der Niederschrift wird Bezug genommen. Wegen der
weiteren Einzelheiten zum Sach- und Streitstand wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Akte S 10 AS 5266/09 und
der vom Antragsgegner vorgelegten Verwaltungsakten Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist begründet. Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG sind
einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis
zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den
Erfolg des Antrages ist, dass ein Anordnungsanspruch und ein Anordnungsgrund vorliegen. Für eine vorläufige
Entscheidung, d.h. bis zur Entscheidung der Beklagten im Widerspruchsverfahren und bis zu einer Entscheidung des
Gerichts im ggf. anschließenden Klageverfahren, müssen gewichtige Gründe vorliegen (Anordnungsgrund). Der
Anordnungsgrund liegt vor, wenn dem Antragsteller wesentliche, insbesondere irreversible Nachteile drohen, die für
ihn ein Abwarten bis zur Entscheidung in der Hauptsache unzumutbar machen und die Regelung zur Verhinderung
dieser unzumutbaren Nachteile durch eine Anordnung nötig erscheint (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19.10.1977, Az: 2
BvR 42/76). Sinn und Zweck des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens liegen in der Sicherung der
Entscheidungsfähigkeit und der prozessualen Lage, um eine endgültige Rechtsverwirklichung im Hauptsacheverfahren
zu ermöglichen. Das einstweilige Rechtsschutzverfahren will nichts anderes, als allein wegen der Zeitdimension der
Rechtserkenntnis und der Rechtsdurchsetzung im Hauptsacheverfahren eine zukünftige oder gegenwärtige
prozessuale Rechtsstellung vor zeitüberholenden Entwicklungen sichern (Säch-sisches LSG, Beschluss vom
11.02.2004, Az: L 1 B 227/03 KR-ER). Ferner muss ein Anordnungsanspruch vorliegen. Dabei muss es sich um einen
der Durchsetzung zugänglichen materiell-rechtlichen Anspruch des Antragstellers handeln (Berlit, info also 2005, 3, 7;
Sächsisches LSG, Beschluss vom 14.04.2005 - L 3 B 30/05 AS/ER; Beschluss vom 19.09.2005 -L 3 B 155/05
AS/ER). Eine einstweilige Anordnung ergeht demnach nur, wenn sie nach gebotener summarischer Prüfung der
Sachlage zur Abwendung wesentlicher, nicht wiedergutzumachender Nachteile für den Antragsteller notwendig ist.
Dabei hat der Antragsteller wegen der von ihm geltend gemachten Eilbedürftigkeit der Entscheidung die
Voraussetzungen für den Erlass ei-ner einstweiligen Anordnung nach §§ 202 SGG, 294 der Zivilprozessordnung
(ZPO), also Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund, glaubhaft zu machen. Unter Beachtung dieser Grundsätze
ist es zur Verwirklichung effektiven Rechtsschutzes erforderlich, dass die beantragte einstweilige Anordnung erlassen
wird. Denn der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Der
Antragsteller hat glaubhaft gemacht, dass er einen Anspruch auf Erbringung von Leistungen nach § 22 Abs. 1 Satz 1
SGB II für die Wohnung in der G. straße X in R. gegen den Antragsgegner hat. Die Einholung einer Zusicherung nach
§ 22 Abs. 2a Satz 1 SGB II ist nicht erforderlich. Selbst wenn sie erforderlich wäre, wäre jedenfalls der Antragsgegner
verpflichtet, sie wegen Vorliegens der Voraussetzungen des § 22 Abs. 2a Satz 2 Nr. 1 SGB II zu erteilen. Es ist
bereits keine gesetzliche Grundlage dafür ersichtlich, vom Antragsteller die Einholung einer Zusicherung nach § 22
Abs. 2a Satz 1 SGB II zu verlangen. Denn die Anwendbarkeit dieser erheblich in die Freiheitsrechte junger
Hilfebedürftiger eingreifende Vorschrift bleibt nach der einhelligen Meinung in der Kommentarliteratur jedenfalls auf die
Fälle des Erstbezuges einer eigenen Wohnung begrenzt (Berlit, in: Münder, SGB II, 3. Aufl. 2009, § 22 Rn. 87;
Lang/Link, in: Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Auflage 2008, § 22 Rn. 80b). In den Fällen, in denen ein unter 25-jähriger
Hilfeempfänger ohne Leistungsbezug außerhalb des elterlichen Hauhalts gelebt hat, kann ein Leistungsausschluss nur
dann angenommen werden, wenn die strengen Voraussetzungen des § 22 Abs. 2a Satz 4 SGB II gegeben sind (LSG
Hamburg, Beschluss vom 24.01.2008 – L 5 B 504/07 ER AS –). Davon, dass der Antragsteller absichtlich die
Voraussetzungen für die Leistungsgewährung herbeiführen würde, spricht nicht einmal der Antragsgegner; dies ist in
Anbetracht aller Umstände des Falles auch auszuschließen. Der Bescheid vom 19.10.2009 entbehrt bereits aus
diesem Grunde jeglicher Rechtsgrundlage. Anhaltspunkte dafür, dass die Höhe der Kosten der Unterkunft und
Heizung in der Wohnung in der G. straße X in R. für den Antragsteller als Mitbewohner in einer Wohnge-meinschaft
mit einer weiteren Person nicht angemessen wären, sind weder vom Antragsgegner vorgebracht worden noch sonst
ersichtlich. Selbst wenn man jedoch wie der Antragsgegner annähme, dass vom Antragsteller die Einholung einer
Zusicherung nach § 22 Abs. 2a Satz 1 SGB II verlangt werden könnte, hätte der Antragsgegner diese jedenfalls
gemäß § 22 Abs. 2a Satz 2 Nr. 1 SGB II erteilen müssen, weil der Antragsteller aus schwerwiegenden sozialen
Gründen nicht auf die Wohnung der Mutter verwiesen werden kann. Zwar mag dem Antragsgegner dahingehend
zugestimmt werden, dass bloße Meinungsverschiedenheiten mit den Eltern nicht als schwerwiegende soziale Gründe
in diesem Sinne angesehen werden könnten. Woher allerdings der Antragsgegner die Erkenntnis gewonnen hat, dass
zwischen dem Antragsteller und seinem Stiefvater "bloße Meinungsverschiedenheiten" vorlägen, bleibt im Dunkeln.
Der Antragsgegner blendet in diesem Zusammenhang völlig aus, dass es zwischen dem Antragsteller und seinem
Stiefvater jahrelange Auseinan-dersetzungen gegeben hat, die in massive Tätlichkeiten gipfelten und letztlich die
Heimunterbringung des Antragstellers begründeten. Die Mutter des Antragstellers hat als Zeugin glaubhaft geschildert,
dass die Auseinandersetzungen zwischen dem Antragsteller und ihrem Lebensgefährten nach der vorübergehenden
Rückkehr des Antragstellers in die mütterliche Wohnung angedauert hätten und sie deshalb vielfach ohne Erfolg um
behördliche Hilfe ersucht habe. Unter diesen Umständen hätte es sich dem Antragsgegner aufdrängen müssen, die
Akten des Jugendamtes und des Amtes für Arbeit und Soziales bezüglich der Vorsprachen der Mutter des
Antragstellers beizuziehen, um die aktenkundige Geschichte des Konfliktes zwischen dem Antragsteller und seinem
Stiefvater nachvollziehen zu können. Ferner hätte der Antragsgegner – sofern er den Antragsteller auf die Rückkehr in
die mütterliche Wohnung verweisen will – die familiäre Situation fachkundig und professionell erheben und bewerten
müssen. Hierzu dürften dem Antragsgegner Sozialarbeiter, Sozialpädagogen, Familientherapeuten, Jugend- oder
Familienhelfer oder ähnlich qualifizier-te Experten zur Verfügung stehen. Sollte dies nicht der Fall sein, hätte sich der
Antragsgegner externen fachkundigen Rat einholen müssen. Denn es erscheint dem Gericht ausgeschlossen, dass in
der Widerspruchsstelle des Antragsgegners fachkundiger Sachverstand vorhanden ist, der die aktuelle familiäre
Situation und die (Un-)Wahrscheinlichkeit eines erneuten Eskalierens der Konflikte in der Familie des Antragstellers
fundiert bewerten könnte. Jedenfalls hat der Antragsgegner es unterlassen, die entsprechende fachkundige
Einschätzung dem Gericht vorzulegen. In diesem Zusammenhang ist der Antragsgegner dringend auf seine
Verpflichtungen nach §§ 14, 15 SGB I hinzuweisen. Es ist für das Gericht in keiner Weise nachvollziehbar, dass die
Mutter des Antragstellers sich permanent in familiären Notsituationen an verschiedene Ämter des Antragsgegners
wendet, ohne dass ihr ein brauchbares Hilfsangebot unterbreitet wird, der Antragsgegner sich dann aber anmaßt, die
familiäre Situation durch die Antragsablehnung gegenüber dem Antragsteller weiter zu eskalieren, ohne die möglichen
Folgen dieser Handlungsweise ansatzweise nachvollziehbar und fachkundig durchdacht zu haben. Besonders
bedenklich erscheint dem Gericht diese Einstellung und Verfahrensweise des Antragsgegners im Hinblick auf die erst
vor wenigen Monaten in der Presse umfangreich diskutierten Missstände innerhalb des Jugendamtes des
Antragsgegners. Vor diesem Hintergrund hält es das Gericht für dringend angezeigt, dass der Antragsgegner
grundlegende organisatorische und strukturelle Ände-rungen in seinen Ämtern vornimmt, um Hilfesuchenden die ihnen
nach §§ 14, 15 SGB I zustehende Betreuung zu gewährleisten und Gefahrenlagen familiärer Gewalt wirksam
entgegenzutreten. Ein Anordnungsgrund ist ohne Weiteres zu bejahen, da ein Abwarten der Entscheidung in der
Hauptsache mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen würde, dass ein Rechtsverlust seitens des Antragstellers
eintreten würde. Es wäre lebensfremd zu erwarten, dass der Vermieter die Wohnung für den Antragsteller bis zum
Abschluss des Rechtsstreits in der Hauptsache bereit halten würde. Das Gericht schließt sich der Auffassung des
LSG Mecklenburg-Vorpommern (Beschluss vom 22.07.2008 – L 10 B 203/08 –) an, dass eine Zusi-cherung in den in §
22 SGB II geregelten Fällen nur unter sehr engen Voraussetzungen im Rahmen eines Verfahrens des einstweiligen
Rechtsschutzes vorläufig erteilt werden kann. Letztlich konnte offen bleiben, ob ein solcher Fall hier vorliegt.
Jedenfalls gebietet es der Grundsatz der Gewährung effektiven Rechtsschutzes, für den Antragsteller bereits im
Vorfeld des Mietsvertragsabschlusses die Möglichkeit zu eröffnen, eine gewisse vorläufige Klärung der Rechtslage
herbeiführen zu können. Da der Antragsteller derzeit obdachlos ist, ist eine erhebliche Eilbedürftigkeit gegeben. Die
Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 und 4 SGG. Vorsorglich wird auf § 929 Abs. 2 Zivilprozessordnung
(ZPO) in Verbindung mit § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG hingewiesen.