Urteil des SozG Berlin vom 15.03.2017

SozG Berlin: unterkunftskosten, leistungskürzung, streichung, unterbringung, sanktion, behörde, wohnung, mitwirkungspflicht, sozialhilfe, mitwirkungshandlungen

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Gericht:
SG Berlin 88.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
S 88 AY 31/06 ER
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 1a Nr 2 AsylbLG, § 3 Abs 1 S 4
AsylbLG, § 60 SGB 1, §§ 60ff
SGB 1, § 66 SGB 1
Asylbewerberleistung - fehlende Mitwirkung bei Beschaffung
von Papieren - Anspruchseinschränkung - Umfang der Sanktion -
vorherige Anhörung
Leitsatz
1) Den in den §§ 60 ff SGB 1 normierten Mitwirkungspflichten lässt sich keine Verpflichtung
zur Beantragung eines Passes oder zur Vorsprache bei der Rückkehrbehörde entnehmen.
2) Das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Leistungsminderung nach § 1a Nr 2 AsylbLG
rechtfertigt lediglich des Streichung des Taschengeldbetrages und nicht die vollständige
Einstellung der Leistung.
Tenor
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem
Antragsteller ab 24.03.2006 bis zur bestandskräftigen Entscheidung in der Hauptsache
Leistungen nach § 1a Asylbewerberleistungsgesetz in Höhe von 184,07 € monatlich zu
gewähren.
Der weitergehende Antrag wird abgelehnt.
Der Antragsgegner trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers.
Dem Antragsteller wird für das Eilverfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von
Rechtsanwalt ... B, gewährt.
Gründe
Der am 1976 geborene Antragsteller (Ast) bezog von dem Antragsgegner (Ag) von
August 2001 bis Februar 2002 Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz
(AsylbLG). Aufgrund seines Antrages vom 7.11.05 gewährte der Ag dem Ast mit
Bescheid vom 29.11.05 erneut Leistungen nach § 3 AsylbLG in Höhe von 202,27 €
monatlich, wobei Leistungen nach § 3 Abs. 2 AsylbLG in Höhe von 161,37 € und ein
Barbetrag nach § 3 Abs.1 S.4 AsylbLG (sog. Taschengeld) in Höhe von 40,90 €
berücksichtigt wurde. Eine Energiepauschale wurde in Höhe von 22,70 € in Abzug
gebracht. Kosten der Unterkunft wurden nicht berücksichtigt. Der Ast verfügt über eine
eigene Wohnung, die aber wegen umfangreicher Mietschulden fristlos gekündigt wurde.
Er hat angegeben, nur gelegentlich in seiner Wohnung und oft bei Freunden oder in einer
Moschee übernachtet zu haben.
Ebenfalls am 29.11.05 forderte der Ag den Ast unter Hinweis auf die §§ 60 ff und 66 SGB
I auf, einen Nachweis über das Bemühen der Erlangung eines gültigen Reisedokumentes
und eines Besuches bei der Rückkehr- und Weiterwanderungsbehörde zu erbringen.
Diese Aufforderung wiederholte er am 16.01.06 unter Fristsetzung bis zum 14.02.06 und
Androhung der Entziehung der laufenden Leistung.
Mit Bescheid vom 21.02.06 stellt er der Ag die laufenden Leistungen mit Wirkung vom
14.02.06 vollkommen ein und begründete dies mit der mangelnden Mitwirkung des Ag
gemäß § 60 ff SGB I. Dagegen erhob der Ast Widerspruch.
Am 24.03.06 hat sich der Ast mit dem Begehren des Erlasses einer einstweiligen
Anordnung an das Gericht gewandt.
Er trägt vor, er habe keine Möglichkeit türkische Reisedokumente zu beantragen, weil er
nicht im Besitz von Ausweispapieren sei. Als politischer Flüchtling erhalte er ohnehin
keine Reisdokumente.
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Er beantragt,
den Ag zu verpflichten, ihm ab 14.2.06 Leistungen nach dem AsylbLG zu gewähren,
und
ihm für das Eilverfahren Prozesskostenhilfe zu gewähren.
Der Ag beantragt,
vorläufigen Rechtschutz nicht zu gewähren.
Er weist ergänzend zu der mangelnden Mitwirkung des Ast darauf hin, dass nicht
ausgeschlossen sei, dass dieser von anderswo Sozialleistungen beziehe oder über
Einkommen und Vermögen verfüge. Zur Leistung des unabweisbar gebotenem erklärt
sich der Ag im Falle der Mitwirkung des Ast bei dessen Rückführung bereit.
Ergänzend wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.
Der Eilantrag ist in aus dem Tenor ersichtlichen Umfang erfolgreich.
Gemäß § 86 b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht auf Antrag eine
einstweilige Anordnung in Bezug auf einen Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr
besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung
eines Rechtes des Ast vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte.
Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes zulässig,
wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.
Entscheidungserhebliche Angaben sind dabei von den Beteiligten glaubhaft zu machen
(§ 86 b Abs. 2 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung - ZPO -).
Zusammengefasst müssen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung regelmäßig
zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Zum einen muss es im Ergebnis einer Prüfung der
materiellen Rechtslage überwiegend wahrscheinlich sein, dass der Antragsteller mit
seinem Begehren im hauptsächlichen Verwaltungs- oder Klageverfahren erfolgreich sein
wird (Anordnungsanspruch). Zum anderen muss eine gerichtliche Entscheidung
deswegen dringend geboten sein, weil es dem Ast wegen drohender schwerwiegender
Nachteile nicht zuzumuten ist, den Ausgang des Hauptsacheverfahrens abzuwarten
(Anordnungsgrund). Dabei hat das Gericht die Belange der Öffentlichkeit und des Ast
miteinander abzuwägen.
Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch sind zu bejahen.
Das Verwaltungshandeln des Ag kann entgegen seinem Bescheid in § 66 SGB I keine
Stütze finden, denn den normierten Mitwirkungspflichten nach § 60 ff SGB I lässt sich
keine Verpflichtung zur Beantragung eines Passes oder zur Vorsprache bei der
Rückkehrbehörde entnehmen. Die Sanktion des § 66 SGB I kann somit nicht aufgrund
der diesbezüglichen Untätigkeit des Ast. verhängt werden..
Hingegen ist eine teilweise Leistungskürzung gemäß § 1a AsylbLG gerechtfertigt.
§ 3 AsylbLG bestimmt den Leistungsumfang bei Leistungsberechtigung nach § 1
AsylbLG. Neben baren oder unbaren Leistungen zum Lebensunterhalt nach § 3 Abs. 2
AsylbLG erhalten Leistungsberechtigte dabei grundsätzlich einen zusätzlichen
Geldbetrag nach § 3 Abs. 1 Satz 4 AsylbLG.
Nach § 1 a AsylbLG ist u. a. bei Leistungsberechtigten, die eine Duldung nach § 60 a des
Aufenthaltsgesetzes besitzen, eine Leistungseinschränkung auf das den Umständen
nach unabweisbar Gebotene vorgesehen, wenn sich die Berechtigten in dem
Geltungsbereich dieses Gesetzes begeben haben, um Leistungen nach dem AsylbLG zu
erlangen oder bei denen aus von ihnen zu vertretenden Gründen aufenthaltsbeendende
Maßnahmen nicht vollzogen werden können. Bei Vorliegen dieser Tatbestände ist eine
Streichung des Taschengeldbetrages zulässig. Die übrigen Geld- oder Sachleistungen
nach § 3 AsylbLG sind in der Regel auch bei Tatbestandsmäßigkeit im Sinne von § 1a
AsylbLG weiter zu leisten, da sie bereits das durch Artikel 1 Abs. 1 Grundgesetz
geschützte unerlässliche Existenzminimum darstellen, welches nicht unterschritten
werden darf. (Vgl. Adolph in Linhart/Adolph SGB II, SGB XII, AsylbLG, § 1a AsylbLG Rn.25;
Birk In LPK SGB XII § 1a AsylbLG Rn.8; OVG NRW vom 31.05.01 NVwZ RR S358 ff)
Da das AsylbLG ohnehin gegenüber den Leistungen des SGB II oder des SGB XII ein
deutlich abgesenktes Leistungsniveau vorsieht, unterliegt die weitergehende
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deutlich abgesenktes Leistungsniveau vorsieht, unterliegt die weitergehende
Leistungskürzung nach § 1a AsylbLG strengen Anforderungen. Die materielle Beweislast
liegt bei der Behörde. Zwar knüpfen die Tatbestände von § 1a AsylbLG an innere
Tatsachen und Umstände an, die in der Wissenssphäre des Leistungsberechtigten
liegen, so dass von dem Leistungsberechtigten zu fordern ist, dass er sich umfassend
und schlüssig zu seinen Einreisemotiven und anderen inneren Tatsachen äußert. Nichts
desto trotz darf die Behörde die Leistungskürzung nicht aufgrund bloßer Vermutungen
anordnen.
§ 1a Nr. 2 AsylbLG knüpft zwar an Mitwirkungshandlungen des Leistungsberechtigten im
ausländerrechtlichen Verfahren an, diese ist jedoch von der allgemeinen
verfahrensrechtlichen Mitwirkungspflicht nach § 60 ff SGB I und ihrer Sanktionierung nach
§ 66 SGB I zu unterscheiden. Gleichwohl erfordert die Absenkung von Leistungen nach §
1 a unter das ohnehin gegenüber dem Niveau der Sozialhilfe deutlich abgesenkte
Leistungsniveau des AsylbLG aus rechtsstaatlichen Gründen (Artikel 20 in Verbindung
mit Artikel 1 Grundgesetz) eine vorherige Anhörung des Betroffenen, eine Konfrontation
mit den Vorwürfen, die ihm im Rahmen von § 1 a AsylbLG gemacht werden sollen und
die Setzung einer angemessenen Frist um sich zu erklären bzw. gebotene Handlungen
nachzuholen.
Eine Verfahrensweise analog zur Mitwirkungsversagung gemäß § 66 SGB I ist nicht zu
beanstanden.
Der Tatbestand des § 1a Nr.2 AsylbLG ist vorliegend auch gegeben, weil der Ast
entgegen der eindeutigen Aufforderung des Ag die ihm zumutbare Beantragung eines
Ausweisdokumentes unterlassen hat. Dass diese nach seiner Ansicht nicht erfolgreich
sein würde, ändert an dieser Bewertung nichts.
Entgegen der Auffassung des Ag rechtfertigt die Tatbestandsmäßigkeit aber nur die
Streichung des Taschengeldbetrages und nicht die vollständige Leistungseinstellung.
Dem Ast ist daher der in § 3 Abs.2 S.2 Nr.1 genannte Betrag zu gewähren.
Unterkunftskosten sind vorläufig nicht zu gewähren, da nach den diffusen Angaben des
Ast davon auszugehen ist, dass er bei Freunden und Bekannten zeitweise wohnen kann
und auf eine Unterbringung o.ä. nicht angewiesen ist. Sollte sich diese Situation ändern,
wird der Ag ggf. über Unterkunftskosten bzw eine Unterbringung des Ast zu entscheiden
haben. Da keine Unterkunftskosten zu gewähren sind, ist der Abzug einer
Energiepauschale nicht gerechtfertigt. Somit ergibt sich der im Tenor genannte Betrag.
Dieser ist nicht ab Leistungseinstellung, sondern ab Eingang des Eilantrages bei Gericht
zu gewähren.
Die Befürchtung des Ag, der Ast könnte über Einkommen oder Vermögen verfügen oder
von anderswo Leistungen beziehen, rechtfertigt eine weitere Kürzung der Leistung auf
Grundlage des § 1a AsylbLG nicht. Es handelt sich dabei um eine bloße Vermutung. Der
Ag müsste sich bemühen, den Sachverhalt aufzuklären und kann sich in den
gesetzlichen Grenzen dabei auch der § 60 ff SGB I bedienen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Das geringfügige Unterliegen des Ast.
rechtfertigt eine andere Entscheidung nicht.
Die Entscheidung zur Prozesskostenhilfe beruht auf §§ 73a SGG i.V.m. § 114 ZPO.
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