Urteil des SozG Aachen vom 03.08.2010

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Sozialgericht Aachen, S 13 KR 162/09
Datum:
03.08.2010
Gericht:
Sozialgericht Aachen
Spruchkörper:
13. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 13 KR 162/09
Sachgebiet:
Krankenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen. Kosten haben die Beteiligten einander nicht
zu erstatten.
Tatbestand:
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Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer operativen Brustkorrektur und
Bauchdeckenstraffung.
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Die am 00.00.0000 geborene Klägerin wog nach eigenen Angaben Ende 2001 ca. 130
kg bei einer Körpergröße von 1,70 m, das entsprach einem Body-Mass-Index (BMI) von
45,0. Am 27.08.2002 untersuchte Prof. Dr. O., Chefarzt der Klinik für Plastische, Hand-
und Wiederherstellungschirurgie des St.-N.-O. S., die Klägerin. Er stellte ein Gewicht
von 98 kg und eine Größe von 1,70 m (BMI: 33,9) fest; es bestehe eine ausgeprägte
Bauchdeckenfalte und ausgeprägte hängende asymmetrische Brüste, rechts größer als
links; die Klägerin fühle sich wegen ihrer Körperkontur in ihrem psychosozialen Umfeld
sehr verunsichert. Dr. O. schlug eine Straffung der Brüste, ggf. eine Implantation einer
Prothese, und eine Bauchdeckenstraffung mit einer Liposuktion vor. Von Februar bis
August 2003 und erneut ab April 2005 befand sich die Klägerin in psychiatrischer
Behandlung bei Frau Dr. I. wegen Essstörung und Anpassungsstörung. In einem Attest
vom 25.04.2005 bescheinigte Dr. I., die Klägerin leide seit ihrer Gewichtsabnahme
massiv unter der Erschlaffung ihrer Haut sowie der unterschiedlichen Größe ihrer
Mammae; um weiteren seelischen Belastungen vorzubeugen, empfahl Dr. I. von ihrem
Fachgebiet her eine operative Veränderung (Mammae-Korrektur). Am 18.11.2008
untersuchte Dr. O. die Klägerin erneut; er diagnostizierte einen Zustand nach
erheblicher Gewichtsreduktion von 130 kg auf 95 kg; er empfahl, nach weiterer
Gewichtsreduktion auf 85 - 90 kg eine Bauchdeckenstraffung und einen Ausgleich der
Brustasymmetrie operativ durchzuführen.
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Am 05.12.2008 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Übernahme der Kosten für
die empfohlenen Operationen bei Dr. O. Die Beklagte veranlasste eine Begutachtung
durch den medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK). Dr. P. stellte im
Gutachten vom 15.01.2009 nach Untersuchung der Klägerin ein Gewicht von 103,5 kg
und eine Größe von 1,70 m (BMI: 35,8) fest. Er kam zum Ergebnis, die Brustasymmetrie
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sei nur unbekleidet erkennbar. Die Operationen seien nicht indiziert.
Am 15.01.2009 führte Dr. O. auf Kosten der Klägerin eine operative Straffung der
Oberarme sowie der Achsel und eine leichte Unterpolsterung der seitlichen Brustdrüse
durch; diese chirurgischen Maßnahmen sind nicht Streitgegenstand des vorliegenden
Verfahrens.
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Gestützt auf das MDK-Gutachten lehnte die Beklagte die beantragte
Bauchdeckenstraffung und Brustkorrektur durch Bescheid vom 03.02.2009 ab mit der
Begründung, es handele sich hierbei nicht um eine Leistung der Gesetzlichen
Krankenversicherung (GKV).
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Dagegen legte die Klägerin am 09.03.2009 Widerspruch ein. Sie trug vor, sie sei durch
die Brustasymmetrie und die erhebliche Gewichtsreduktion erheblich beeinträchtigt; sie
leide unter Ess- und Anpassungsstörungen; die Operationen seien ihr zur Vorbeugung
seelischer Belastungen ärztlich empfohlen worden.
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Die Beklagte wies den Widerspruch nach Einholung einer ergänzenden MDK-
Stellungnahme durch Widerspruchsbescheid vom 09.09.2009 zurück.
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Dagegen hat die Klägerin am 08.10.2009 Klage erhoben. Sie weist darauf hin, 140 kg
gewogen und ihr Gewicht um 40 kg reduziert zu haben; die schlaffe Bauchhaut und die
ungleich großen Brüste verursachten erhebliche psychische Beschwerden. Hinzu
komme, dass im Bereich der Bauchfalten sehr oft Pilzerkrankungen aufträten. Deshalb
seien nach Ansicht der Klägerin die empfohlenen Operationen notwendig.
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Die Klägerin beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 03.02.2009 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 09.09.2009 zu verurteilen, ihr eine operative Korrektur
der linken Brust und eine Bauchdeckenstraffung zu gewähren.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie verbleibt bei ihrer in den angefochtenen Bescheiden vertretenen Rechtsauffassung.
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Zur Aufklärung des Sachverhalts hat das Gericht von Dr. O. ärztliche Unterlagen
beigezogen und einen Befundbericht vom 23.03.2010 eingeholt. Auf Anforderung des
Gerichts hat die Klägerin Lichtbilder vorgelegt, die ihre unbekleidete Brust- und
Bauchpartie in Front- und Seitenansicht zeigen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der
Gerichtsakte sowie der beigezogenen die Klägerin betreffenden Verwaltungsakte der
Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug
genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Die Klage ist zulässig, jedoch nicht begründet.
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Die Klägerin wird durch die angefochtenen Bescheide nicht im Sinne des § 54 Abs. 2
Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert, da sie nicht rechtswidrig sind. Die Beklagte hat
zu Recht die beantragten Operationen abgelehnt. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf
eine operative Brustkorrektur und eine Bauchdeckenstraffung zu Lasten der GKV.
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Gem. § 27 Abs. 1 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) haben Versicherte
Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu
erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu
lindern. Die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung setzt also eine
"Krankheit" voraus. Damit wird in der Rechtsprechung ein regelwidriger, vom Leitbild
des gesunden Menschen abweichender Körper- oder Geisteszustand umschrieben, der
ärztlicher Behandlung bedarf oder den Betroffenen arbeitsunfähig macht (BSG, Urteil
vom 19.10.2004 - B 1 KR 3/03 R = BSGE 93, 252 = SozR 4-2500 § 27 Nr. 3 m.w.N.).
Krankheitswert im Rechtssinne kommt nicht jeder körperlichen Unregelmäßigkeit zu.
Erforderlich ist vielmehr, dass der Versicherte in seinen Körperfunktionen beeinträchtigt
wird oder dass er an einer Abweichung vom Regelfall leidet, die entstellend wirkt (BSG,
Urteil vom 28.02.2008 - B 1 KR 19/07 R = SozR 4-2500 § 27 Nr. 14 m.w.N.).
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Die - von der Klägerin als störend empfundene - Asymmetrie ihrer Brüste ist für sich
genommen kein Befund von Krankheitswert, der eine operative Behandlung erforderlich
macht. Anhand der von der Klägerin vorgelegten Lichtbilder konnte sich die Kammer
einen Eindruck vom Zustand der Brüste der Klägerin machen. Diese lassen eine
allenfalls diskrete Asymmetrie von relativ geringem Ausmaß erkennen. Eine derartige
Brustasymmetrie bewegt sich noch im Rahmen des Normalen und stellt keine
Missbildung bzw. Entstellung dar, die operativ behandelt werden müsste.
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Die bei der Klägerin infolge der Reduzierung des Körpergewichts von 130 bis 140 kg
auf 90 - 100 kg entstandenen Hautlappenüberschüsse im Bauchbereich im Sinne einer
sogenannten "Fettschürze" können schon deshalb nicht als behandlungsbedürftige
Krankheit bewertet werden, weil damit keine körperliche Fehlfunktion verbunden ist (vgl.
hierzu Urteil der Kammer vom 08.09.2009 - S 13 KR 85/09 -, LSG NRW Urteil vom
08.05.2008 - L 5 KR 91/07 -; LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 16.11.2006 - L 4 KR 60/04
-; LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 19.01.2006 - L 5 KR 65/05 -; Sächsisches LSG, Urteil
vom 23.03.2005 - L 1 KR 24/04 -; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 28.07.2004 - L 11
KR 896/94 -).
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Eine Regelwidrigkeit und damit eine Krankheit ließe sich allenfalls in Bezug auf
Hautveränderungen (Ekzem/Rötung/Pilzbildung) begründen, sofern diese durch die
hängenden Brüste und die überhängende Bauchdecke hervorgerufen würden, wie die
Klägerin dies in der Klageschrift angesprochen hat. Solche Hautveränderungen führen
jedoch nicht dazu, dass die beantragten operativen Eingriffe vorgenommen werden
müssten; denn sie sind dermatologisch behandelbar. Die Klägerin hat weder dargelegt
noch ist dies ersichtlich, dass bei ihr eine therapieresistente Hauterkrankung durch die
Falten unter den Brüsten und der Bauchdecke vorliegt.
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Soweit die Klägerin und ihre behandelnden Ärzte eine psychische Belastung ("sehr
verunsichert", "seelische Belastungen", "erhebliche psychische Beschwerden",
"Vorbeugung seelischer Belastungen") durch die Brustasymmetrie und die erschlaffte
Haut geltend machen, mag dies einen operativen Eingriff ebenfalls nicht zu
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rechtfertigen. Denn nach ständiger Rechtsprechung (vgl. BSG, Urteile vom 19.10.2004
und 28.02.2008, a.a.O.) ist derartigen Belastungen nicht mit chirurgischen Eingriffen in
eine an sich gesunde Körpersubstanz, sondern mit Mitteln der Psychiatrie und
Psychotherapie zu begegnen (ebenso in Bezug auf eine Bauchdeckenplastik: LSG
NRW, Urteil vom 08.05.2008 - L 5 KR 91/07; LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom
19.01.2006 - L 5 KR 65/05; Sächsisches LSG, Urteil vom 23.03.2005 - L 1 KR 24/04 und
LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 28.07.2004 - L 11 KR 896/04; speziell in Bezug auf
eine Bodylift-(Hautstraffungs-)Operation: LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 16.11.2006 -
L 4 KR 60/04).
Wie bereits für die Brustasymmetrie dargelegt, lässt sich die Leistungspflicht der
Beklagten auch im Hinblick auf die Hautlappenüberschüsse im Bauchbereich
(Fettschürze) nicht damit begründen, dass die Klägerin wegen einer äußerlichen
Entstellung als behandlungsbedürftig anzusehen und die begehrte
Bauchdeckenstraffungsoperation durchzuführen wäre. Die Kammer konnte sich
aufgrund der von der Klägerin vorgelegten Fotografien davon überzeugen, dass die
überschüssige Haut weder im Bereich der Brust noch im Bereich des Bauches
entstellend ist. Um eine Entstellung annehmen zu können, genügt nicht jede körperliche
Annormalität. Vielmehr - so das BSG (Urteil vom 28.02.2008, a.a.O.) - "muss es sich
objektiv um eine erhebliche Auffälligkeit handeln, die naheliegende Reaktionen der
Mitmenschen wie Neugier oder Betroffenheit und damit zugleich erwarten lässt, dass
der Betroffene ständig viele Blicke auf sich zieht, zum Objekt besonderer Beachtung
anderer wird und sich deshalb aus dem Leben in der Gemeinschaft zurückzuziehen und
zu vereinsamen droht, sodass die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft gefährdet ist ...
Um eine Auffälligkeit eines solchen Ausmaßes zu erreichen, muss eine beachtliche
Erheblichkeitsschwelle überschritten sein: Es genügt nicht allein ein markantes Gesicht
oder generell die ungewöhnliche Ausgestaltung von Organen, etwa die Ausbildung
eines sechsten Fingers an einer Hand. Vielmehr muss die körperliche Auffälligkeit in
einer solchen Ausprägung vorhanden sein, dass sie sich schon bei flüchtiger
Begegnung in alltäglichen Situationen quasi "im Vorbeigehen" bemerkbar macht und
regelmäßig zur Fixierung des Interesses anderer auf den Betroffenen führt". Nach
diesen Maßstäben sind nach Überzeugung der Kammer die Hautlappenüberschüsse im
Bereich der Brust und des Bauches der Klägerin nicht entstellend. Die Bauchhautfalte
bildet zwar eine Schürze, kann jedoch durch weite Kleidung bedeckt werden.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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