Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 23.11.2010

OVG NRW (öffentliche sicherheit, eingriff in grundrechte, versammlung, kamera, ermächtigung, eingriff, versammlungsfreiheit, sicherheit, grundrechtseingriff, annahme)

Oberverwaltungsgericht NRW, 5 A 2288/09
Datum:
23.11.2010
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
5. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
5 A 2288/09
Tenor:
Der Antrag des Beklagten auf Zulassung der Beru-fung gegen das Urteil
des Verwaltungsgerichts Münster vom 21. August 2009 wird
zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 5.000,-- EUR
festgesetzt.
G r ü n d e :
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Der Antrag des Beklagten auf Zulassung der Berufung ist unbegründet.
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Es bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der angegriffenen
Entscheidung (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Das Verwaltungsgericht hat zu Recht
festgestellt, dass die Videobeobachtung der Versammlung am 4. Juni 2008 in N.
zum Thema: "Urantransporte stoppen" rechtswidrig war. Es ist zutreffend davon
ausgegangen, das Richten einer aufnahmebereiten Kamera auf die
Demonstrationsteilnehmer und das Übertragen der Bilder auf einen Monitor habe den
Kläger in seinem Versammlungsgrundrecht (Art. 8 Abs. 1 GG) und in seinem Recht auf
informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) verletzt.
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Auch wenn die Bilder lediglich in Echtzeit übertragen und nicht gespeichert worden sind
und dies dem Versammlungsleiter mitgeteilt worden ist, war die aufnahmebereite
Kamera über die gesamte Dauer der Veranstaltung von einem ausgefahrenen
Kameraarm eines unmittelbar vorausfahrenden Beweissicherungsfahrzeugs der Polizei
auf die nur etwa 40 bis 70 Versammlungsteilnehmer gerichtet. Bei dieser Ausgangslage
ist die Annahme des Verwaltungsgerichts nicht zu beanstanden, die Videobeobachtung
habe die grundrechtlich relevante Eingriffsschwelle überschritten und die innere
Versammlungsfreiheit der Teilnehmer beeinträchtigt. Bürger hätten aus Sorge vor
staatlicher Überwachung von der Teilnahme an der Versammlung abgeschreckt werden
können. Durch die Kameraübertragung war auch ohne Speicherung eine intensive,
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länger andauernde und nicht nur flüchtige Beobachtung selbst einzelner
Versammlungsteilnehmer auf einem Monitor im Fahrzeuginnenraum möglich. Zudem
war bei der aufnahmebereiten Kamera aus Sicht eines (verständigen)
Versammlungsteilnehmers zu befürchten, die Aufnahme könne beabsichtigt oder
versehentlich jederzeit ausgelöst werden.
Unter diesen Gesichtspunkten war der konkrete Einsatz der Kameraübertragung
geeignet, bei den Versammlungsteilnehmern das Gefühl des Überwachtwerdens mit
den damit verbundenen Unsicherheiten und Einschüchterungseffekten zu erzeugen. So
unterschied sich der Einsatz signifikant sowohl von bloßen Übersichtsaufnahmen, die
erkennbar der Lenkung eines Polizeieinsatzes namentlich von Großdemonstrationen
dienen und hierfür erforderlich sind, als auch von einer reinen Beobachtung durch
begleitende Beamte oder sonstige Dritte. Anders als solche Maßnahmen ohne
Eingriffsqualität wäre der in Rede stehende Kameraeinsatz mit Blick auf den
grundrechtlich geschützten staatsfreien Charakter von Versammlungen allenfalls auf der
Grundlage einer auf das notwendige Maß beschränkten gesetzlichen Ermächtigung
zulässig gewesen.
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Vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Mai 1985 − 1 BvR 233, 341/81 −, BVerfGE
69, 315, 349; so ist wohl auch BVerfG, Beschluss vom 17. Februar 2009
− 1BvR 2492/08 −, BVerfGE 122, 342, 372 f. zu verstehen; siehe ferner
Dietel/Gintzel/Kniesel, VersG, 15. Aufl. 2008, § 12 a Rn. 14, und Söllner,
Anmerkung zum Urteil des VG Berlin vom 5. Juli 2010 − 1 K 905.09 −, DVBl.
2010, 1248, 1249 f.
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Einer gesetzlichen Ermächtigung hätte es ferner deshalb bedurft, weil die
Videobeobachtung der Versammlung zugleich in das Recht der Teilnehmer auf
informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 GG. i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG eingriff.
Diesbezüglich war die Eingriffsschwelle unabhängig von einer Speicherung der Bilder
überschritten, weil die die Versammlung begleitende Beobachtung eine
Individualisierung von Versammlungsteilnehmern ermöglichte, von großer Streubreite
war und der Beklagte mit ihr zudem eine gewisse Beeinflussung der inneren
Versammlungsfreiheit beabsichtigt hatte. Hiervon waren zahlreiche Personen betroffen,
die in keiner Beziehung zu einem konkreten Fehlverhalten standen.
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Vgl. zu diesen Kriterien für einen Eingriff BVerfG, Urteil vom 11. März 2008 −
1 BvR 2074/05, 1254/07 −, BVerfGE 120, 378, 397 ff., 402 f. sowie
Beschluss vom 23. Februar 2007 − 1 BvR 2368/06 −, DVBl. 2007, 497, 501;
siehe ferner BVerfG, Beschluss vom 12. August 2010 − 2 BvR 1447/10 −,
juris, Rn. 16 f.; OVG NRW, Urteil vom 8. Mai 2009 − 16 A 3375/07 −, OVGE
52, 122 = juris, Rn. 39 f.; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 21. Juli 2003 − 1 S
377/02 −, NVwZ 2004, 498, 500.
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Für die allein an den Grundrechten auszurichtende Bewertung der Eingriffsqualität ist es
im vorliegenden Zusammenhang unerheblich, welche Gründe dafür maßgeblich waren,
dass der Gesetzgeber mit Geltung für Nordrhein-Westfalen (anders z. B. in Bayern nach
Art. 9 BayVersG) neben den §§ 19 a, 12 a VersG keine weiteren Ermächtigungen mit
niedrigeren Eingriffsvoraussetzungen geschaffen hat. Entscheidend ist nur, dass die
Voraussetzungen dieser als Ermächtigungsgrundlage allein in Betracht kommenden
Vorschriften nicht vorlagen. Hiernach wären Bild- und Tonaufnahmen von
Versammlungsteilnehmern nur zulässig gewesen, wenn tatsächliche Anhaltspunkte die
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Annahme gerechtfertigt hätten, dass von ihnen erhebliche Gefahren für die öffentliche
Sicherheit oder Ordnung ausgehen. Diese qualifizierten Voraussetzungen waren aus
den vom Verwaltungsgericht im angegriffenen Urteil zutreffend genannten Gründen
(S. 8, dritter Absatz bis S. 10, erster Absatz) nicht gegeben. Hierfür genügte entgegen
der Auffassung des Beklagten insbesondere nicht, dass nach Erfahrungen von früheren
Urantransporten Restrisiken und Störungen des Transports am 4. Juni 2008 nicht von
vornherein mit Sicherheit auszuschließen waren. Auch wenn sich die Rechtmäßigkeit
der Gefahrenprognose des Beklagten nach der maßgeblichen ex-ante-Sicht der
eingesetzten Beamten richtet, ergibt sich daraus kein der gerichtlichen Kontrolle
entzogener Beurteilungsspielraum, der allein auf Grund der Unberechenbarkeit von
Versammlungsverläufen eine andere Einschätzung rechtfertigen könnte.
Vgl. zu den ähnlichen Anforderungen an beschränkende Verfügungen nach
§ 15 Abs. 1 VersG BVerfG, Beschluss vom 19. Dezember 2007 − 1 BvR
2793/04 −, NVwZ 2008, 671, 672.
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Der in Rede stehende Kameraeinsatz stellt sich auch nicht gegenüber zulässigen
Maßnahmen nach §§ 19 a, 12 a VersG als reine Vorbereitungshandlung dar.
Insbesondere greift der Einwand des Beklagten nicht durch, das Aufzeichnungssystem
habe lediglich in einen jederzeit arbeitsfähigen Zustand versetzt werden sollen. Zum
einen sind Vorbereitungsmaßnahmen im Hinblick auf die Ermächtigung in §§ 19 a, 12 a
VersG erst dann veranlasst, wenn einzelne Versammlungsteilnehmer ein Verhalten
erkennen lassen, das den Eintritt erheblicher Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder
Ordnung konkret erwarten lässt. Hierzu ist es unstrittig im gesamten
Versammlungsverlauf nicht gekommen. Zum anderen hätte sich der Eingriff in
Grundrechte von Versammlungsteilnehmern ohne wesentliche Einschränkung des
polizeilichen Vorsorgekonzepts vermeiden lassen, indem eine im Stand-by-Modus
geschaltete Kamera erkennbar von der Versammlung abgewendet worden wäre. Bereits
hierdurch wären die eingesetzten Beamten innerhalb weniger Sekunden in der Lage
gewesen, etwaige von ihnen wahrgenommene Gefahrenlagen im Bild einzufangen,
ohne dass hierfür anlasslos durchgehend Bilder der Versammlung auf einen Monitor
hätten übertragen werden müssen. Um einen Grundrechtseingriff zu vermeiden, hätte
der Beklagte insbesondere nicht auf veraltete Systeme zurückgreifen oder den
Kamerawagen im Bedarfsfall erst herbeiholen müssen.
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Die Berufung ist auch nicht wegen der geltend gemachte grundsätzlichen Bedeutung
der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zuzulassen. Die als klärungsbedürftig
aufgeworfene Frage,
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ob schon eine reine Videobeobachtung unmittelbar am Ort des Geschehens
− ohne Aufzeichnung und ohne Weiterleitung an eine Zentralstelle − bei
einer Versammlung unter Anwesenheit bzw. Begleitung von
Polizeivollzugsbeamten einen Grundrechtseingriff begründen kann,
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lässt sich bereits ohne Weiteres auf der Grundlage der Rechtsprechung insbesondere
des Bundesverfassungsgerichts im bejahenden Sinne beantworten. Danach ist jeweils
durch eine Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalls zu ermitteln, ob eine
Videobeobachtung ein Betroffensein in einer den Grundrechtsschutz auslösenden
Qualität zur Folge hat. Dabei ist maßgeblich auch zu berücksichtigen, ob die
Videobeobachtung in ihrer konkreten Ausgestaltung geeignet ist, einzelne Bürger von
der rechtmäßigen Ausübung ihrer Grundrechte wie z. B. der Versammlungsfreiheit
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abzuhalten, weil sie nicht übersehen können, ob ihnen daraus Risiken entstehen
können.
Vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. August 2010 − 2 BvR 1447/10 −, juris,
Rn. 16; Urteil vom 15. Dezember 1983 − 1 BvR 209/83 u. a. −, BVerfGE 65,
1, 43.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47, 52 Abs. 2 GKG.
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Dieser Beschluss ist nach § 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i. V. m. § 66 Abs. 3
Satz 3 GKG unanfechtbar.
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