Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 17.11.2009

OVG NRW (aufschiebende wirkung, wand, gebäude, höhe, grundstück, wirkung, dachgeschoss, abstand, antragsteller, beschwerde)

Oberverwaltungsgericht NRW, 7 B 1350/09
Datum:
17.11.2009
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
7. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
7 B 1350/09
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Köln, 2 L 595/09
Schlagworte:
Abstandfläche Außenwand Gebäude grenzständige Bebauung
Normen:
BauO NRW § 6 Abs. 1
Leitsätze:
1. Außenwände im Sinne des § 6 Abs. 1 Satz 1 BauO NRW sind die
über der Gelände-oberfläche liegenden Wände, die von außen sichtbar
sind und die das Gebäude ge-gen die Außenluft abschließen. Dieser
Begriff ist Relativierungen, die sich an der Schutzwürdigkeit des jeweils
betroffenen Nachbarn im Einzelfall orientieren, nicht zugänglich.
2. Macht der Bauherr in den Fällen des § 6 Abs. 1 Satz 2 Buchst. b)
BauO NRW nur teilweise von der Option einer grenzständigen
Bebauung Gebrauch, müssen die nicht grenzständig errichteten Teile
der Außenwand ihrerseits die landesrechtlichen Abstanderfordernisse
einhalten.
Tenor:
Der angefochtene Beschluss wird teilweise geändert.
Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die dem
Beigeladenen erteilte Baugenehmigung des Antragsgegners vom 27.
April 2009 zur Änderung eines Wohngebäudes mittlerer Höhe auf dem
Grundstück U.--------straße 54 in L. , Gemarkung L1. , Flur 63, Flurstück
2164/0, wird angeordnet.
Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Der Antragsgegner und der Beigeladene tragen die Kosten des
Verfahrens in beiden Rechtszügen je zur Hälfte; ihre außergerichtlichen
Kosten tragen sie jeweils selbst.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 3.750,- Euro
festgesetzt.
G r ü n d e :
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Die Beschwerde des Antragstellers mit dem sinngemäßen Antrag,
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unter Änderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts L. vom 26.
August 2009 – mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung – die aufschiebende
Wirkung seiner Klage gegen die dem Beigeladenen erteilte
Baugenehmigung des Antragsgegners vom 27. April 2009 anzuordnen und
dem Antragsgegner aufzugeben, die Baustelle auf dem Grundstück U1. -
54 in L. stillzulegen,
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hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.
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Die aufschiebende Wirkung der Klage ist anzuordnen, weil nach der im Verfahren des
vorläufigen Rechtsschutzes nur möglichen summarischen Prüfung Überwiegendes
dafür spricht, dass die angefochtene Baugenehmigung zu Lasten des Antrag-stellers
gegen nachbarschützende Vorschriften des Bauordnungsrechts verstößt. Auf diese
Vorschriften kann sich der Antragsteller stützen, da er ein vormerkungsgesichertes
Anwartschaftsrecht auf Wohnungseigentum auf dem nördlich an das
Vorhabengrundstück angrenzenden Grundstück U.--------straße 56, Gemarkung L1. ,
Flur 63, Flurstück 2165, hat.
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Das genehmigte Vorhaben des Beigeladenen, das die Errichtung eines
Dachgeschosses zum Gegenstand hat, hält zu diesem Nachbargrundstück die vor der
von der Grundstücksgrenze um 2,50 Meter zurückspringenden Wand des
Dachgeschosses erforderliche Abstandfläche nicht ein. Diese Wand ist eine
Außenwand im Sinne des § 6 Abs. 1 Satz 1 BauO NRW. Dass sie über eine
waagerechte "Pergolakon-struktion" aus in einem Abstand von knapp 1,50 Meter
angeordneten Deckenbalken mit einer Verlängerung der grenzständig errichteten
Brandwand verbunden werden soll, rechtfertigt keine andere Beurteilung.
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Außenwände im Sinne des § 6 Abs. 1 Satz 1 BauO NRW sind die über der
Geländeoberfläche liegenden Wände, die von außen sichtbar sind und die das
Gebäude gegen die Außenluft abschließen.
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Vgl. Gädtke/Temme/Heinz/Czepuck, BauO NRW, Kommentar, 11. Auflage
2008, § 6 Rdnr. 73.
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Das Erfordernis eines Abschlusses gegen die Außenluft folgt daraus, dass Bezugspunkt
des Begriffs der Außenwand das Gebäude ist. Gebäude sind nach § 2 Abs. 2 BauO
NRW selbständig benutzbare, überdachte bauliche Anlagen, die von Menschen
betreten werden können und geeignet oder bestimmt sind, dem Schutz von Menschen,
Tieren oder Sachen zu dienen. Dieser Verwendungszweck bedingt neben einer
Niederschläge ableitenden Überdachung regelmäßig seitliche Raumabschlüsse, die
das Gebäude gegen Witterungseinflüsse von außen abschirmen.
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Vgl. Gädtke/Temme/Heinz/Czepuck, a.a.O., § 2 Rdnrn. 105, 114, 117.
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An diesem normativen Ausgangspunkt geht der sinngemäße Einwand des
Antragsgegners und des Beigeladenen vorbei, für die subjektive Rechtsstellung des
Antragstellers mache es unter Berücksichtigung der Schutzzwecke des
Abstandflächenrechts keinen Unterschied, ob die zurückspringende Wand oder die
"Pergolakonstruktion" die Abgrenzung gegen die Außenluft bewirke. Der dargelegte
Gebäudebegriff und damit auch die Definition seiner Außenmauern richten sich
ausschließlich nach objektiven Kriterien und sind damit Relativierungen, die sich an der
Schutzwürdigkeit des jeweils betroffenen Nachbarn im Einzelfall orientieren, nicht
zugänglich.
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Die von der Grenze zum Nachbargrundstück U.--------straße 56 um 2,50 Meter
zurückspringende Wand des Dachgeschosses erfüllt das genannte Erfordernis. Diese
Wand und nicht etwa die in derselben Höhe geplante Verlängerung der Brandwand
grenzt die betretbaren, dem Schutz von Menschen, Tieren und Sachen dienenden
Räume im Dachgeschoss des Beigeladenen gegen die Außenluft ab. Die
"Pergolakonstruktion" stellt aufgrund der Öffnungen zwischen den Deckenbalken keinen
derartigen Abschluss her. Dass sich eine andere Beurteilung ergeben mag, wenn ein
Glasdach an Stelle der "Pergolakonstruktion" die Brandwand mit der zurückspringenden
Wand verbinden würde, ist entgegen der Auffassung des Beigeladenen ohne Belang,
weil ein solches Dach nicht Gegenstand des streitgegenständlichen Vorhabens ist.
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Die zurückspringende Wand ist auch von außen sichtbar. Mit dieser Voraussetzung ist
nicht etwa, wie der Beigeladene offenbar annimmt, die Sichtbarkeit aus der Perspektive
des jeweils betroffenen Nachbarn gemeint, sondern die objektive Erkennbarkeit des
Gebäudeabschlusses von außen. Auch dies folgt daraus, dass der Begriff des
Gebäudes und damit auch der Außenmauer, wie ausgeführt, rein objektiv und nicht
nach der Schutzwürdigkeit des jeweils betroffenen Nachbarn zu bestimmen ist. Darüber
hinaus würden selbst die Schutzzwecke des § 6 BauO NRW nicht gebieten, auf die
Sichtbarkeit der Wand aus der Perspektive des Nachbarn abzustellen. Abstandflächen
sollen neben dem Zweck, eine ausreichende Belichtung, Belüftung und Besonnung der
Nachbargrundstücke sicherzustellen, auch dem Brandschutz dienen und vermeiden,
dass Lebensäußerungen der in der Nachbarschaft wohnenden und arbeitenden
Menschen wie Lärm oder Geruchsbelästigungen zu intensiv aufeinander einwirken.
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Vgl. OVG NRW, Urteil vom 29. August 1997 - 7 A 629/95 -, BRS 59 Nr. 110.
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Für diese Schutzzwecke des Abstandsflächenrechts ist es ohne Belang, ob die konkret
in Rede stehende Wand vom jeweils betroffenen Nachbarn optisch wahrgenommen
werden kann.
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Die von der Grundstücksgrenze zurückspringende Wand des Dachgeschosses des
Beigeladenen ist nach diesem Maßstab von außen sichtbar. Sie ist aufgrund der
Offenheit der "Pergolakonstruktion" von außen objektiv als Gebäudeabschluss
erkennbar. Dass der Antragsteller diese Wand von seiner Wohnung aus wegen der
seitlichen Ummauerung des mit der "Pergolakonstruktion" abgedeckten Raumes nicht
wahrnehmen kann, ist hingegen aus den vorstehend genannten Gründen ohne Belang.
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Dass der von der Grundstücksgrenze abgerückten Wand eine gleich hohe Brandwand
vorgelagert ist, führt entgegen der Auffassung des Antragsgegners nicht dazu, dass jene
Wand keine Abstandflächen auslöst. Der Hinweis des Antragsgegners auf
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Boeddinghaus/Hahn/Schulte, Bauordnung für das Land Nordrhein-
Westfalen, Kommentar, Stand: Juli 2009, § 6 Rdnr. 42,
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geht fehl. Diese Kommentarstelle betrifft die Fallgestaltung, dass eine Außenwand im
unteren Gebäudeteil aufgrund vorgelagerter niedrigerer Bauteile zur Innenwand wird.
Sie ist hier schon deswegen nicht einschlägig, weil die Brandwand und die
"Pergolakonstruktion" aus den vorstehend ausgeführten Gründen gerade nicht
bewirken, dass die von der Grundstücksgrenze zurückspringende Wand des
Dachgeschosses von einer Außenwand zu einer Innenwand wird.
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Die Einhaltung einer Abstandfläche vor dieser Wand ist auch nicht nach § 6 Abs. 1 Satz
2 Buchst. b) BauO NRW entbehrlich. Danach ist innerhalb der überbaubaren
Grundstücksfläche eine Abstandfläche nicht erforderlich gegenüber
Grundstücksgrenzen, gegenüber denen nach planungsrechtlichen Vorschriften ohne
Grenzabstand gebaut werden darf, wenn gesichert ist, dass auf dem Nachbargrundstück
ohne Grenzabstand gebaut wird. Diese Vorschrift lässt es bei Vorliegen der genannten
Tatbestandsvoraussetzungen lediglich zu, dass grenzständig gebaut oder ein Abstand
eingehalten wird. Macht der Bauherr in den Fällen des § 6 Abs. 1 Satz 2 Buchst. b)
BauO NRW zulässigerweise nur teilweise – sei es bezüglich der Tiefe der Bebauung,
sei es bezüglich ihrer Höhe – von der Option einer grenzständigen Bebauung
Gebrauch, müssen die nicht grenzständig errichteten Teile der Außenwand ihrerseits
die landesrechtlichen Abstanderfordernisse einhalten.
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Vgl. dazu im Einzelnen OVG NRW, Beschluss vom 17. Juli 2008 - 7 B
195/08 -, NWVBl. 2009, 102 = BauR 2008, 3033; ferner Beschluss vom 12.
November 2007 - 7 B 1354/07 -, juris.
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Da sich der Beigeladene hier nach den vorstehenden Ausführungen dazu entschlossen
hat, das geplante Dachgeschoss in Höhe der zurückspringenden Wand vom
Nachbargrundstück U2. 56 abzurücken, ist der insoweit erforderliche Abstand
nach den allgemeinen Regelungen des § 6 BauO NRW zu ermitteln.
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Diese Erfordernisse sind nicht gewahrt, denn die gegenüber der Grundstücksgrenze
lediglich um 2,50 Meter zurücktretende Außenwand des Dachgeschosses hält auch
unter Berücksichtigung des 16-m-Privilegs gemäß § 6 Abs. 6 BauO NRW nicht die
Abstandfläche von 0,4 H geschweige denn den Mindestabstand von 3 Metern ein.
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Hinsichtlich dieser Wand kann auch nicht auf der Grundlage des § 6 Abs. 16 BauO
NRW eine geringere Tiefe der Abstandfläche gestattet werden. Danach können in
überwiegend bebauten Gebieten (ausnahmsweise) geringere Tiefen der
Abstandflächen gestattet werden, wenn die Gestaltung des Straßenbildes oder
besondere städtebauliche Verhältnisse dies auch unter Würdigung nachbarlicher
Belange rechtfertigen. Ein besonderer städtebaulicher Grund in diesem Sinne,
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vgl. dazu näher OVG NRW, Beschluss vom 17. Juli 2008, a.a.O.,
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ist jedoch weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
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Dem Abwehranspruch des Antragstellers lässt sich schließlich auch nicht durch die
Zulassung einer Abweichung von den dargelegten Anforderungen des § 6 BauO NRW
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begegnen. § 73 Abs. 1 Satz 2 BauO NRW lässt eine solche Abweichung regelmäßig
nur bei einer grundstücksbezogenen Atypik zu, für die hier nichts ersichtlich ist.
Insbesondere gibt eine Vergleichsbetrachtung, wonach die Nachbarn durch eine
zulässige vollständige Grenzbebauung im Dachgeschoss eine größere
Beeinträchtigung hinnehmen müssten, nichts für eine grundstücksbezogene Atypik her.
Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 17. Juli 2008, a.a.O.
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Auf die im Mittelpunkt des angefochtenen Beschlusses stehende Frage der
Rücksichtslosigkeit des streitgegenständlichen Vorhabens kommt es nach alledem nicht
an. Zur Vermeidung weiterer Streitigkeiten merkt der Senat jedoch an, dass das
Beschwerdevorbringen des Antragstellers, ihm sei es nicht zuzumuten, den
Beigeladenen aufgrund des geplanten Einbaus eines großen seitlichen Fensters zum
WC im Dachgeschoss bei jedem Toilettengang beobachten zu müssen, nicht einmal
ansatzweise geeignet ist, entgegen den zutreffenden Ausführungen des
Verwaltungsgerichts einen Verstoß gegen das planungsrechtliche Gebot der
Rücksichtnahme darzustellen.
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Soweit der Antragsteller mit der Beschwerde sein Begehren weiterverfolgt, dem
Antragsgegner die Stilllegung der Baustelle auf dem Grundstück des Beigeladenen
aufzugeben, ist sie unbegründet. Grundlage für dieses Begehren ist § 80 a Abs. 1 Nr. 2,
2. Alt., Abs. 3 VwGO. Voraussetzung für den Erfolg eines solchen Antrags ist, dass die
erstrebte Maßnahme notwendig ist, um die betroffenen Rechte des Dritten zu sichern.
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Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 27.10.2008 – 7 B 1368/08; Hess. VGH,
Beschluss vom 16. Dezember 1991 - 4 TH 1814/91 -, juris; OVG Saarl.,
Beschluss vom 13. Juni 1995 - 2 W 24/95 -, juris.
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Ein derartiges Sicherungsbedürfnis besteht nicht. Anhaltspunkte für die Befürchtung, der
Beigeladene werde die mit der vorliegenden Entscheidung angeordnete aufschiebende
Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die streitgegenständliche
Baugenehmigung missachten und durch Fortführung der Bauarbeiten vollendete, im
Falle eines Obsiegens des Antragstellers in der Hauptsache allenfalls schwer
rückgängig zu machende Fakten schaffen, sind weder vorgetragen noch sonst
ersichtlich.
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Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 1 und 3, 155 Abs. 1 Satz 3, 159
Satz 1, 162 Abs. 3 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung stützt sich auf die §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
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