Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 29.08.2008

OVG NRW: stichprobe, belastung, unternehmen, entlastung, rechtswidrigkeit, verbrauch, behörde, wahrscheinlichkeit, auskunftserteilung, politik

Oberverwaltungsgericht NRW, 8 B 959/08
Datum:
29.08.2008
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
8. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
8 B 959/08
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Düsseldorf, 23 L 684/08
Tenor:
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des
Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 4. Juni 2008 wird zurückgewiesen.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 2.500,- EUR
festgesetzt.
G r ü n d e :
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Die Beschwerde des Antragsgegners hat keinen Erfolg.
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Das Beschwerdevorbringen, auf dessen Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6
VwGO beschränkt ist, begründet keine durchgreifenden Zweifel an der Richtigkeit des
angefochtenen Beschlusses.
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Die Wahrscheinlichkeit, dass der Antragsteller im Hauptsacheverfahren obsiegt, ist auch
unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens größer als die Wahrscheinlichkeit
seines Misserfolges. Zu Recht hat das Verwaltungsgericht festgestellt, dass die
Rechtmäßigkeit des Heranziehungsbescheides des Antragsgegners vom 28. März 2008
ernstlichen Zweifeln unterliegt.
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Der - gemäß § 1 der Verordnung über die zuständige Behörde für Bundesstatistiken
vom 11. Februar 1980 (GV.NRW. S. 99) für die Durchführung von Bundesstatistiken
zuständige - Antragsgegner hat die hier angefochtene Aufforderung zur
Auskunftserteilung für das Berichtsjahr 2006 vom 28. März 2008 zutreffend auf die
Vorschriften der §§ 1 Abs. 2, 2 Abs. 1 und Abs. 2 sowie 5 Abs. 1 des Gesetzes über
Statistiken im Dienstleistungsbereich - Dienstleistungsstatistikgesetz - vom 19.
Dezember 2000 (BGBl. I S. 1765) in der Fassung der Änderung durch Art. 5 des
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Gesetzes vom 17. März 2008 (BGBl. I S. 399) - DIStatG - gestützt. Danach werden zur
Darstellung der Entwicklung der wirtschaftlichen Tätigkeit im Dienstleistungsbereich
statistische Erhebungen als Bundesstatistik durchgeführt. Die Statistik umfasst jährliche
Erhebungen, die als Stichprobe bei höchstens 15% aller Erhebungseinheiten
durchgeführt werden. Erhebungseinheiten sind Unternehmen und Einrichtungen zur
Ausübung einer freiberuflichen Tätigkeit, die in den in § 2 Abs. 1 DlStatG erfassten
Dienstleistungsbereichen tätig sind. Auskunftspflichtig sind die Inhaber oder Leiter der
Unternehmen oder Einrichtungen zur Ausübung einer freiberuflichen Tätigkeit.
Der Antragsteller betreibt eine Rechtsanwaltskanzlei und unterfällt daher im Grundsatz
sowohl dem persönlichen als auch dem sachlichen Anwendungsbereich des Gesetzes
(vgl. § 2 Abs. 1 Nr. 2, Abteilung 74 DIStatG: Erbringung von Dienstleistungen
überwiegend für Unternehmen).
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Die Entscheidung, den Antragsteller auch für das Berichtsjahr 2006 zur
Auskunftserteilung aufzufordern, widerspricht indes nach der im Verfahren des
vorläufigen Rechtsschutzes allein gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und
Rechtslage den methodischen und verfahrensrechtlichen Vorgaben des
Dienstleistungsstatistikgesetzes.
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Die Auswahl der einzelnen Erhebungseinheit steht - vorliegend bis zur Höchstgrenze
von 15% - grundsätzlich im pflichtgemäßen Ermessen der Behörde. Diese ist befugt, zur
Sicherung einer gleichförmigen Inanspruchnahme allgemeine Auswahlgrundsätze zu
entwickeln.
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Vgl. BVerwG, Urteil vom 15. November 1989 - 1 B 136.89 -, NVwZ-RR 1990, 418;
HambOVG, Beschluss vom 16. Juli 1996 - Bs III 85/96 -, juris.
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§ 1 Abs. 2 Satz 2 DIStatG bestimmt, dass die Erhebungseinheiten nach mathematisch-
statistischen Verfahren ausgewählt werden.
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Die gerichtliche Prüfung der Auswahlentscheidung beschränkt sich nach § 114 VwGO
darauf, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten wurden oder von dem
Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise
Gebrauch gemacht worden ist. Ein Ermessensfehler liegt vor, wenn das Ermessen
überhaupt nicht ausgeübt wurde, wenn in die Entscheidung an Belangen nicht
eingestellt wird, was nach Lage der Dinge in sie eingestellt werden muss, wenn die
Bedeutung der betroffenen Belange verkannt oder wenn der Ausgleich zwischen den
jeweiligen Belangen in einer Weise vorgenommen wird, der zur objektiven
Gewichtigkeit einzelner Belange außer Verhältnis steht.
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Hiervon ausgehend begegnet die erneute Heranziehung des Antragstellers für das
Berichtsjahr 2006 erheblichen rechtlichen Bedenken. Die ihr zu Grunde liegenden
Auswahlkriterien tragen dem gesetzlichen Gebot der Begrenzung der Belastung der
Auskunftspflichtigen nicht angemessen Rechnung und widersprechen damit dem
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Defizite des federführend vom Statistischen Bundesamt
erarbeiteten Auswahlverfahrens muss sich der Antragsgegner zurechnen lassen, auch
wenn die Entscheidung ansonsten mit den entwickelten Vorgaben übereinstimmt. Die
Rechtswidrigkeit der Auswahlkriterien bedingt auch die Rechtswidrigkeit der konkreten
Auswahlentscheidung.
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Ausweislich der Gesetzesbegründung
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- vgl. BT-Drucks. 14/4049 S. 14 -
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soll das Auswahlverfahren zur Dienstleistungsstatistik (auch) einen systematischen
Austausch der jeweils Auskunftspflichtigen vorsehen. Die Rotation diene dazu, die
Belastung der Befragten, die durch eine jährlich wiederholte Beteiligung an der
Erhebung entstehe, abzubauen und somit eine möglichst gleichmäßige Verteilung der
Auskunftsverpflichtung zu erreichen. In Abhängigkeit vom Auswahlsatz in den einzelnen
Stichprobenschichten komme dabei eine vollständige oder partielle Rotation der
Sichtprobeneinheiten in Frage.
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Dem vom Gesetzgeber danach als besonders schützenswert eingestuften privaten
Interesse der wiederholt zu Erhebungszwecken herangezogenen Pflichtigen an einer
Entlastung tragen die vom Antragsgegner in der Beschwerdebegründung
zusammenfassend dargelegten Auswahlgrundsätze auch im Verhältnis zu dem -
gewichtigen - öffentlichen Interesse an einem hohen Genauigkeitsgrad der Ergebnisse
der statistischen Erhebung nicht angemessen Rechnung.
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Der Antragsgegner führt aus, eine Stichprobe sei aus statistischen Gründen so lange
beizubehalten, bis negative Auswirkungen von Strukturveränderungen auf die Qualität
der Ergebnisse eine komplette Neuziehung erforderlich machten bzw. objektive
Sachverhalte eine Beibehaltung der Stichprobe aus fachlicher Sicht nicht mehr
zulassen würden. Darüber entschieden die Fachreferenten der Statistischen Ämter des
Bundes und der Länder nach pflichtgemäßem Ermessen. Wann eine Stichprobe für
statistische Zwecke verbraucht sei, hänge von unterschiedlichen Faktoren ab und lasse
sich nur im Nachgang des Prozesses, nicht aber zu Beginn einer Erhebung
voraussagen. Ein vollständige Neuwahl der auskunftspflichtigen Einheiten einer
Stichprobenerhebung werde dann durchgeführt, wenn die Ergebnisse etwa bedingt
durch die Alterung des Berichtskreises oder zahlreiche Landes-, Wirtschaftszweig- und
Größenklassenwechsler stark abgesunken seien. Von Zeit zu Zeit erfolge eine Neuwahl
auch, um die bisherigen Auskunftspflichtigen zu entlasten bzw. weil neue gesetzliche
Vorgaben dies erforderlich machten.
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Diese Vorgehensweise entspricht nicht dem Gesetzeszweck einer systematischen und
damit effektiven Begrenzung der Belastung der einer Stichprobe angehörenden
Erhebungseinheiten. Konkrete zeitliche Vorgaben, wann die wiederholte
Inanspruchnahme unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten angesichts der Belastung
der Auskunftspflichtigen ohne partielle oder vollständige Rotation für unzumutbar
gehalten wird, fehlen. Rotationspläne sind nicht aufgestellt worden, obwohl § 13 Abs. 1
Nr. 1 Buchst. c BStatG gerade für Wirtschaftsstatistiken die Führung von Adressdateien
u.a. zum Zwecke der Aufstellung von Rotationsplänen vorsieht. Diese sollen
sicherstellen, dass zur möglichst schonenden Behandlung der Erhebungseinheiten und
ihrer Gleichbehandlung grundsätzlich nach angemessener Zeit die bereits
herangezogenen Erhebungseinheiten gegen andere ausgetauscht werden. Dies ist
umso eher möglich, je größer die Zahl vergleichbarer Einheiten ist.
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Vgl. BT-Drucks. 10/5345 S. 19 sowie BT-Drucks. 14/4049 S. 14 f.; HambOVG,
Beschluss vom 16. Juli 1996 - Bs III 85/96 -, juris.
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Anders als für den von tatsächlichen Entwicklungen abhängigen Verbrauch einer
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Stichprobe steht der Bestimmung einer zeitlichen Obergrenzung ihrer Inanspruchnahme
schon zu Beginn einer Stichprobenziehung nichts entgegen. Diese Möglichkeit wird im
Übrigen auch von der Regelung des § 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. c BStatG vorausgesetzt.
Anhaltspunkte für eine ungeachtet dessen geübte, systematische Rotationspraxis oder
für andere Maßnahmen zur Begrenzung der Belastung der einer Stichprobe
angehörenden Erhebungseinheiten bestehen nicht. Der vom Antragsgegner
geschilderte Verlauf der Erhebung seit dem Berichtsjahr 2000 spricht im Gegenteil für
die Annahme, dass das Interesse der Betroffenen an einer gleichmäßigen Verteilung
der Belastung bislang nicht in den Blick genommen wurde. Weder die erste
Stichprobenneuwahl für das Berichtsjahr 2003 noch die nunmehr für das Berichtsjahr
2008 angekündigte Neuwahl erfolgte bzw. erfolgt zur Entlastung der
Auskunftspflichtigen. Beide Neuwahlen beruhen auf neuen
Wirtschaftszweigklassifikationen. Der Antragsgegner hat auch nicht behauptet, dass
jedenfalls anlässlich der vierten Inanspruchnahme der für das Berichtsjahr 2003
gezogenen Stichprobe Zumutbarkeitserwägungen angestellt worden wären.
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Ein demgegenüber überragendes öffentliches Vollzugsinteresse ist nicht erkennbar. Ein
solches ist auch nicht mit Blick auf die erhebliche Bedeutung der Wirtschaftsstatistiken
für die staatlichen Organe anzunehmen. Diese bedürfen als Grundlage einer am
Sozialstaatprinzip orientierten Politik einer umfassenden, kontinuierlichen und laufend
aktualisierten Information über die wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhänge.
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Vgl. BVerfG, Urteil vom 15. Dezember 1983 - 1 BvR 209 u. a./83 -, BVerfGE 65, 1.
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Es drängt sich jedoch angesichts des hohen, eine leichte Austauschbarkeit der
Einheiten bedingenden Differenzierungsgrades der insgesamt 840 Schichten sowie des
konkreten Schichtumfangs von hier 2.818 Erhebungseinheiten mit einem
Stichprobenumfang von nur 118 Erhebungseinheiten nicht auf, dass gerade der Ausfall
des seit dem Berichtsjahr 2003 stets in Anspruch genommenen Antragstellers bei einem
ohnehin festzustellenden "natürlichen" Verbrauch der Stichprobe die Genauigkeit der
Ergebnisses und dessen Aussagekraft maßgeblich in Frage stellen würde.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 47, 53 Abs. 3 Nr. 2, 52 Abs. 2 GKG. Mangels
anderer Anhaltspunkte erscheint die Festsetzung in Höhe der Hälfte des gesetzlichen
Auffangwertes sachgerecht und im Hinblick auf die Vorläufigkeit dieses Verfahrens
angemessen.
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Der Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO; 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz
3 GKG).
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