Urteil des OVG Niedersachsen vom 16.06.2014

OVG Lüneburg: wiederherstellung der aufschiebenden wirkung, gebäude, aufschiebende wirkung, fassade, vollziehung, abgrabung, stadt, dachgeschoss, baurecht, aufteilung

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Legalisierungswirkung der Baugenehmigung bei
Abweichungen des errichteten Gebäudes
Ob ein abweichend von einer Baugenehmigung errichtetes Gebäude noch
von ihrer Legalisierungswirkung erfasst wird oder aber als aliud einem
gänzlich neuen Baugenehmigungsverfahren zu unterziehen ist, richtet sich
danach, ob sich das errichtete Vorhaben in Bezug auf baurechtlich
relevante Kriterien von dem ursprünglichen Vorhaben unterscheidet. Dies
gilt unabhängig davon, ob die baurechtliche Zulässigkeit des
abgewandelten Vorhabens als solche im Ergebnis anders zu beurteilen ist
(wie OVG Münster, Beschl. v. 22.4.2013 2 A 1891/12 , juris Rn. 7 = BauR 2013,
1668; Beschl. v. 13.12.2012 2 B 1250/12 , juris Rn. 15 = NVwZ RR 2013, 500 =
BRS 79 Nr. 153, beide m. w. N.).
OVG Lüneburg 1. Senat, Beschluss vom 16.06.2014, 1 ME 70/14
§ 70 BauO ND
Tenor
Die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des
Verwaltungsgerichts Oldenburg - 4. Kammer - vom 14. April 2014 wird
zurückgewiesen.
Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens als
Gesamtschuldner.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf
6.000,- EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Die Antragsteller wenden sich gegen die vollständige Untersagung der
Nutzung eines Apartmenthauses, das sie entgegen der ihnen erteilten
Baugenehmigung mit sieben anstelle von vier Wohnungen ausgebaut haben;
sie sind der Ansicht, der Beklagte habe nur die Nutzung derjenigen
Wohnungen untersagen dürfen, die wesentlich von der erteilten
Baugenehmigung abweichen.
Die Antragsteller sind Eigentümer des in der Stadt E., F. Straße 23, gelegenen
Baugrundstücks. Mit Baugenehmigung vom 10. Februar 2012 gestattete ihnen
der Antragsgegner die Errichtung eines Apartmenthauses mit vier
Wohneinheiten auf zwei Etagen. Keller und Dachgeschoss des Gebäudes
sollten nicht zu Wohnzwecken ausgebaut werden. Tatsächlich errichteten die
Antragsteller ein Gebäude mit insgesamt sieben Wohneinheiten unter Nutzung
von Dachgeschoss und Keller. Dabei entsprechen die Außenwände und das
Dach - abgesehen von den insbesondere in der Dachhaut in Anzahl und
Größe erheblich erweiterten Fensteröffnungen und der nördlichen Fassade -
im Wesentlichen dem genehmigten Gebäude. An der Nordseite des Gebäudes
haben die Antragsteller das Grundstück abgegraben und im Kellerbereich
große Fenster eingebaut, um die dortigen Räume zu Wohnzwecken nutzen zu
können. Die Abgrabung ist mit einer Stützwand gesichert. Im Gebäudeinnern
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sind die Wände größtenteils abweichend gesetzt; auch die Anordnung der
Treppen und Zugänge entspricht weithin nicht der Baugenehmigung.
Nachdem dem Antragsgegner aufgrund einer Nachbarbeschwerde die
abweichende Bauausführung bekannt geworden war, beantragten die
Antragsteller die Erteilung einer (Nachtrags)Baugenehmigung; eine solche
Baugenehmigung hat der Antragsgegner bislang nicht erteilt. Zudem
untersagte er mit Verfügung vom 15. Oktober 2013 unter Anordnung der
sofortigen Vollziehung sowie unter Zwangsgeldandrohung die Nutzung des
gesamten Gebäudes zu Wohnzwecken. Zur Begründung verwies er auf die
formelle Illegalität.
Das Verwaltungsgericht hat es mit dem angegriffenen Beschluss vom 14. April
2014 abgelehnt, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs insoweit
wiederherzustellen, als von der Nutzungsuntersagung auch die im südlichen
Gebäudeteil gelegenen und der erteilten Baugenehmigung immerhin teilweise
entsprechenden Wohnungen 1 und 4 betroffen sind. Eine teilweise
Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung komme nicht in Betracht, weil
die Baugenehmigung vom 10. Februar 2012 und in der Folge auch die
Nutzungsuntersagung nicht teilbar seien. Die Wohnungen 1 und 4 seien
tatsächlich schon aufgrund der gemeinsamen Haustechnik des gesamten
Gebäudes nicht selbstständig nutzbar. Hinzu komme, dass die
Baugenehmigung rechtlich nicht teilbar sei, weil andernfalls ein - legaler -
Gebäudetorso entstünde.
Hiergegen wenden sich die Antragsteller mit ihrer Beschwerde; der
Antragsgegner verteidigt den verwaltungsgerichtlichen Beschluss.
II.
Die Beschwerde hat keinen Erfolg.
Die dargelegten Gründe (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) rechtfertigen keine
Änderung des angegriffenen Beschlusses. Die Entscheidung erweist sich im
Ergebnis als richtig.
Zu Recht wenden sich die Antragsteller allerdings gegen die Auffassung des
Verwaltungsgerichts, es komme auf die Frage der Teilbarkeit der
Baugenehmigung vom 10. Februar 2012 an. Entscheidend ist allein, ob die
Nutzungsuntersagung als solche teilbar ist; das ist angesichts der Tatsache,
dass sich die Untersagungsverfügung in sieben jeweils wohnungsbezogene
selbstständige Verfügungen aufspalten lässt, der Fall.
Am Ergebnis der Entscheidung ändert dies allerdings nichts. Die auf § 79 Abs.
1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 5 NBauO gestützte und allein mit der formellen
Baurechtswidrigkeit des (gesamten) Apartmenthauses begründete
Nutzungsuntersagung ist auch nach Auffassung des Senats aller Voraussicht
nach rechtmäßig, sodass das öffentliche Interesse an der sofortigen
Vollziehung die wirtschaftlichen Interessen der Antragsteller überwiegt.
Die Untersagung der Nutzung eines gesamten Gebäudes wegen formeller
Illegalität setzt tatbestandlich voraus, dass entweder das gesamte Gebäude in
der zum Entscheidungszeitpunkt vorliegenden Gestalt ohne die erforderliche
Baugenehmigung errichtet wurde oder aber seine Nutzung insgesamt einer
erteilten Baugenehmigung nicht entspricht. Der erstgenannte Fall liegt hier vor;
entgegen der Ansicht der Antragsteller handelt es sich bei dem von ihnen
errichteten Apartmenthaus um ein „aliud“ zu dem unter dem 10. Februar 2012
genehmigten Gebäude. Von der Legalisierungswirkung der Genehmigung wird
es nicht erfasst; es handelt sich insgesamt um einen „Schwarzbau“, gegen den
der Antragsgegner einschreiten darf.
Ob ein abweichend von einer Baugenehmigung errichtetes Gebäude noch von
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ihrer Legalisierungswirkung erfasst wird oder aber als „aliud“ einem gänzlich
neuen Baugenehmigungsverfahren zu unterziehen ist, richtet sich danach, ob
sich das errichtete Vorhaben in Bezug auf baurechtlich relevante Kriterien von
dem ursprünglichen Vorhaben unterscheidet. Dies gilt unabhängig davon, ob
die baurechtliche Zulässigkeit des abgewandelten Vorhabens als solche im
Ergebnis anders zu beurteilen ist. Ein baurechtlich relevanter Unterschied
zwischen dem ursprünglichen und dem abgewandelten Bauvorhaben ist
immer dann anzunehmen, wenn sich für das abgewandelte Bauvorhaben die
Frage der Genehmigungsfähigkeit wegen geänderter tatsächlicher oder
rechtlicher Voraussetzungen neu stellt, d. h. diese geänderten
Voraussetzungen eine erneute Überprüfung der materiellen
Zulässigkeitskriterien erfordern. Ist dies der Fall, ist für das errichtete Gebäude
ein selbstständiges (neues) Genehmigungsverfahren durchzuführen. Die
Erteilung einer bloßen Nachtragsbaugenehmigung zu der für das
ursprüngliche Vorhaben erteilten Baugenehmigung scheidet aus (vgl. OVG
Münster, Beschl. v. 22.4.2013 - 2 A 1891/12 -, juris Rn. 7 = BauR 2013, 1668;
Beschl. v. 13.12.2012 - 2 B 1250/12 -, juris Rn. 15 = NVwZ-RR 2013, 500 =
BRS 79 Nr. 153; beide zur Abgrenzung von Baugenehmigung und
Nachtragsbaugenehmigung und jeweils m. w. N.).
Dies zugrunde gelegt handelt es sich bei dem von den Antragstellern
realisierten Vorhaben um ein „aliud“ zu dem genehmigten Bau. Die
Abweichungen von der Baugenehmigung vom 10. Februar 2012 sind derart
umfassend, dass sich die Genehmigungsfrage insgesamt gänzlich neu stellt
und der erteilten Baugenehmigung in Bezug auf das errichtete Gebäude keine
Rechtswirkungen zuzubilligen sind. Das errichtete Gebäude wahrt zwar in
weiten Teilen die genehmigte Kubatur sowie - möglicherweise - die
Nutzungsart. Damit sind die wesentlichen Gemeinsamkeiten indes erschöpft.
Die Veränderungen der nördlichen Fassade mit der Abgrabung zur Belichtung
der Kellerräume, der Ersatz der zwei kleinen Gauben durch ein mehr als die
Hälfte der Dachbreite einnehmendes Zwerchhaus, die vielfachen Änderungen
der Fenster, die veränderte Raumaufteilung im Inneren, die Änderung der
Zugänge und Treppen, die Stellplatzanordnung sowie nicht zuletzt auch die
deutliche intensivierte Nutzung selbst stellen allesamt keine geringfügigen
Abweichungen dar, sondern werfen baurechtlich relevante Fragen auf, die in
einem neuen Baugenehmigungsverfahren zu beantworten sind. Zu
berücksichtigen sind neben der nachbarrelevanten Stellplatzproblematik
insbesondere Fragen des Brandschutzes aufgrund der neuen Aufteilung der
Wohneinheiten, Eingriffe in die Statik nicht nur aufgrund der Führung der dritten
Dachtreppe sowie die Vereinbarkeit der nördlichen Fassade mit
Bauordnungsrecht.
Anlass zu einer differenzierten Betrachtung gab es auch unter
Ermessensgesichtspunkten nicht. Die Genehmigungsfähigkeit des Vorhabens
ist nicht offensichtlich zu bejahen; nur wenn es geradezu handgreiflich wäre
und keiner näheren Prüfung bedürfte, dass das errichtete Gebäude dem
öffentlichen Baurecht vollständig entspricht, wäre die Nutzungsuntersagung
ermessenswidrig (vgl. Senat, Beschl. v. 12.3.2003 - 1 ME 342/02 -, juris Rn. 10
= BauR 2003, 1205 = BRS 66 Nr. 201). Das ist nicht der Fall. Die
Genehmigungsfähigkeit des gesamten Vorhabens ist ungeachtet der vom Rat
der Stadt E. zwischenzeitlich beschlossenen Veränderungssperre in dem -
bislang noch - als allgemeines Wohngebiet (§ 4 BauNVO) festgesetzten
Gebiet im Gegenteil fraglich. Den Bauvorlagen ist die angestrebte Nutzung
nicht mit der gebotenen Eindeutigkeit zu entnehmen. Die Errichtung von zu
vermietenden Ferienwohnungen - als solche sind die Wohnungen jedenfalls
im Oktober 2013 offenbar genutzt worden - ist im allgemeinen Wohngebiet
unzulässig (vgl. Senat, Beschl. v. 18.7.2008 - 1 LA 203/07 -, juris Rn. 12 =
BauR 2008, 2022 = BRS 73 Nr. 168; Beschl. v. 22.11.2013 - 1 LA 49/13 -, juris
Rn. 18 f. = NVwZ-RR 2014, 255). Hinzu tritt die Problematik der gemäß § 47
NBauO erforderlichen Stellplätze, deren Anordnung entlang der rückwärtigen
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Grundstücksgrenze im Hinblick auf das Rücksichtnahmegebot einer näheren
Betrachtung bedarf (vgl. zu dieser Frage zusammenfassend jüngst Senat,
Beschl. v. 28.5.2014 - 1 ME 47/14 -, juris).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 i. V. mit § 159 Satz 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1 Satz 5, 66
Abs. 3 Satz 3 GKG).