Urteil des HessVGH vom 06.10.2010

VGH Kassel: stadt hamburg, rechtswidrigkeit, gerichtsverfahren, widerspruchsverfahren, nichtigkeit, quelle, satzung, verwaltungsgerichtsbarkeit, vergnügungssteuer, notstand

1
2
3
Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
5. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
5 A 2593/09.Z
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 3 GG, § 47 VwGO, § 113
VwGO
Spielapparatesteuer
Leitsatz
Die Verwaltungsgerichtsordnung bietet im Rahmen der Inzidenterkontrolle für das
entscheidende Verwaltungsgericht keine Grundlage, für rechtswidrig erkannte
Spielapparatesteuersatzungen für eine Übergangszeit entsprechend der vom
Bundesverfassungsgericht für seine eigene Rechtsprechung entwickelten Praxis weiter
für anwendbar zu erklären.
Tenor
Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des
Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main vom 10. Juni 2009 - 4 K 1417/07.F(3) - wird
abgelehnt.
Die Beklagte hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen.
Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 70.139,02 € festgesetzt.
Gründe
Der allein auf den Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des
angefochtenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -)
gestützte Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des
Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main vom 10. Juni 2009 bleibt ohne Erfolg.
Die Klägerin betreibt Spielautomaten mit Gewinnmöglichkeit in Gaststätten. Auf
ihre Klage hin hob das Verwaltungsgericht die diesbezüglichen
Steuerfestsetzungen für die Quartale I bis IV des Jahres 1997 und I bis III des Jahres
1998 mit der Begründung auf, die zu Grunde gelegte Satzung der Beklagten vom
13. Dezember 1991 in der Fassung der Änderungssatzung vom 31. Oktober 1994
sei wegen Verwendung des sogenannten Stückzahlmaßstabs rechtswidrig und
unwirksam.
Die Beklagte hält diese Schlussfolgerung für unrichtig. Das
Bundesverfassungsgericht habe in seiner Entscheidung vom 4. Februar 2009 (1
BvL 8/05) ausdrücklich festgestellt, dass die Verfassungswidrigkeit des dort
streitigen Hamburgischen Spielgerätesteuergesetzes für eine Übergangszeit bis
zum Inkrafttreten des (neuen) Spielvergnügungssteuergesetzes am 1. Oktober
2005 nicht zur Nichtigkeit führe, sondern das Gesetz bis zu diesem Zeitpunkt
weiter angewendet werden könne. Trotz des klaren Wortlauts des § 47 Abs. 5 Satz
2 VwGO seien auch in der Verwaltungsgerichtsbarkeit Ausnahmen vom
Nichtigkeitsdogma anerkannt, wenn sonst nicht zu vermeidende Störungen oder
nur schwer gut zu machende Schäden für das Gemeinwohl einträten. Es bestehe
ein gravierendes haushälterisches Interesse der Beklagten an der
Aufrechterhaltung der Norm, da noch mehrere hundert offene
Widerspruchsverfahren und ruhende Gerichtsverfahren zu verzeichnen seien. Es
sei nicht ersichtlich, warum das vom Bundesverfassungsgericht im Fall der Stadt
4
5
6
sei nicht ersichtlich, warum das vom Bundesverfassungsgericht im Fall der Stadt
Hamburg festgestellte Vorliegen eines Gemeinwohlvorbehalts nicht auch im Fall
der Beklagten gegeben sein solle. Zumindest bis zum Jahr 2005 und den zu
diesem Zeitpunkt ergangenen Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts
habe der Satzungsgeber von der Rechtmäßigkeit der steuerlichen Grundlage
ausgehen können. Bei dem vom Bundesverwaltungsgericht am 9. Juni 2010
entschiedenen Fall habe es sich um ein Normenkontrollverfahren gehandelt, somit
um eine andere Konstellation als im vorliegenden Verfahren.
Diese Ausführungen der Beklagten wecken beim Senat keine ernstlichen Zweifel
an der Richtigkeit des Ergebnisses der erstinstanzlichen Entscheidung.
Die Ausführungen des Verwaltungsgerichts zur Rechtswidrigkeit des sogenannten
Stückzahlmaßstabs für die Bemessung der Spielapparatesteuer bei
Gewinnspielgeräten sind nicht zu beanstanden. Sie entsprechen sowohl der
Rechtsprechung des Senats (vgl. Beschluss vom 12. August 2004 - 5 N 4228/98 -,
HSGZ 2004, 362 = KStZ 2004, 192) als auch der Rechtsprechung von
Bundesverwaltungsgericht (vgl. Urteile vom 13. April 2005 - 10 C 5.04 -, BVerwGE
123, 218, und - 10 C 8.04 -, Buchholz 406.68 Vergnügungssteuer Nr. 39) und
Bundesverfassungsgericht (Beschluss vom 4. Februar 2009 - 1 BvL 8/05 -, BVerfGE
123, 1). Nach der - insoweit bindenden - Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts kommt es nunmehr auch nicht mehr auf eine
bestimmte Schwankungsbreite der Einspielergebnisse der Automatenaufsteller im
Gebiet der steuererhebenden Kommune an. Insofern zieht auch die Beklagte die
Richtigkeit dieser Auffassung in der Begründung ihres Zulassungsantrags nicht in
Zweifel.
Entgegen ihrer Auffassung kommt es auch nicht in Betracht, die vom
Bundesverfassungsgericht für seine eigene Rechtsprechung im Rahmen von § 31
Abs. 2 und § 79 Abs. 1 BVerfGG entwickelte Möglichkeit, die Anwendbarkeit als
verfassungswidrig erkannter Gesetze für eine Übergangszeit zur Vermeidung
besonderer Nachteile für das Gemeinwohl auszusprechen, auf kommunale
Satzungen als untergesetzliche Normen im Rahmen der Inzidenterkontrolle bei der
Überprüfung der Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsaktes durch die
Verwaltungsgerichte zu übertragen und deshalb die rechtswidrige
Spielapparatesteuersatzung der Beklagten bis zum Jahre 2005 als wirksam
anzusehen. Wie das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 9. Juni 2010 (-
9 CN 1. 09 -, KStZ 2010, 166) im Rahmen eines Normenkontrollverfahrens
ausgeführt hat, enthält die Verwaltungsgerichtsordnung keine Vorschrift, auf die
sich ein derartiger Ausspruch stützen kann. Für die Inzidenterkontrolle hat das
Bundesverwaltungsgericht dies bereits in der Vergangenheit entschieden (vgl.
Beschlüsse vom 26. Januar 1995 - 8 B 193.94 -, Buchholz 310 § 113 VwGO und Nr.
273 = HSGZ 1995, 361, und vom 10. Februar 2000 - 11 B 54.99 -, Buchholz 310 §
113 Abs. 1 VwGO Nr. 9 = NVwZ-RR 2000, 457). Dem folgt auch der Senat. Im
Hinblick auf die für die Kommunen bestehende Möglichkeit, rechtswidrige - und
damit unwirksame - Satzungen rückwirkend gemäß § 3 Hess KAG durch
rechtmäßige Regelungen zu ersetzen, besteht grundsätzlich auch keine
Notwendigkeit für eine der oben aufgeführten bundesverfassungsgerichtlichen
Entscheidungspraxis entsprechenden Fortbildung des § 113 Abs. 1 VwGO. Die
Richtigkeit dieser Auffassung zeigt sich auch daran, dass - soweit dem Senat
bekannt - die hessischen Kommunen sämtlich mit Ausnahme der Beklagten von
der Möglichkeit der rückwirkenden Ersetzung des ab dem Jahr 1997 rechtswidrigen
Bemessungsmaßstabs nach der Stückzahl der aufgestellten
Gewinnspielautomaten durch einen rechtmäßigen Bemessungsmaßstab Gebrauch
gemacht haben (vgl. zum sogenannten "Bruttokassenmaßstab" mit Begrenzung
auf einen Höchstbetrag, Beschluss des Senats vom 5. März 2009 - 5 C 2256/07.N
-, HSGZ 2009, 256). Insofern kann der Senat auch offen lassen, ob es in eng
begrenzten Ausnahmefällen, in denen die Unwirksamkeitserklärung einer
untergesetzlichen Norm einen "Notstand" zur Folge hätte, eine gerichtliche
Weitergeltungsanordnung möglich wäre (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl. 2009,
§ 47 Rdnr. 125 ff.; offen gelassen auch bei BVerwG, Urteil vom 9. Juni 2010, a.a.O.).
Soweit sich die Beklagte zusätzlich auf das Urteil des Oberverwaltungsgerichts
Nordrhein-Westfalen vom 3. Dezember 2009 (- 14 A 3281/07 -, ZKF 2010,740)
bezieht, führt auch dies nicht weiter, denn auch dort handelte es sich um die
Weitergeltung eines als verfassungswidrig erkannten Gesetzes, nicht einer
untergesetzlichen Norm. Ob eine derartige Auslegung eines als verfassungswidrig
erkannten Gesetzes durch ein Verwaltungsgericht sich allerdings mit der alleinigen
Entscheidungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts verträgt, muss der
Senat im vorliegenden Verfahren nicht entscheiden.
7
8
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Entscheidung über den
Streitwert auf den §§ 52 Abs. 3, 47 Gerichtskostengesetz - GKG -.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO und § 68 Abs. 1 Satz 5 in
Verbindung mit § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.