Urteil des OVG Berlin-Brandenburg vom 15.10.2010

OVG Berlin-Brandenburg: widerruf, rücknahme, ausländerrecht, bedürfnis, rechtssicherheit, anwendungsbereich, quelle, sammlung, vorrang, link

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Gericht:
Oberverwaltungsgericht
Berlin-Brandenburg 3.
Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
OVG 3 N 46.09
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 73 Abs 3 AsylVfG 1992, § 60
Abs 5 AufenthG 2004, § 48 Abs
4 S 1 VwVfG, § 49 Abs 2 S 2
VwVfG
(Bedeutung der Jahresfrist des § 48 Abs. 4 VwVfG bei Widerruf
eines Abschiebungsverbots)
Leitsatz
Bei einem auf § 73 Abs. 3 AsylVfG gestützten Widerruf der Feststellung, dass ein
Abschiebungshindernis im Sinne von § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegt, ist die Jahresfrist des § 48
Abs. 4 i.V.m. § 49 Abs. 2 Satz 2 VwVfG nicht zu beachten.
wie OVG Münster, Beschluss vom 15. Oktober 2010 - 13 A 1639/10.A -, juris
Tenor
Der Antrag des Klägers, die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin
vom 20. Januar 2009 zuzulassen, wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die Kosten des Antragsverfahrens.
Gründe
Der allein auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG)
gestützte Antrag bleibt ohne Erfolg.
Der Kläger hält die Frage für grundsätzlich klärungsbedürftig, ob für den Widerruf oder
die Rücknahme der Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 2, 3, 5
und 7 AufenthG (§ 73 Abs. 3 AsylVfG) die Jahresfrist nach §§ 48 Abs. 4, 49 Abs. 2 Satz 2
VwVfG gelte.
Diese Frage ist nur insoweit entscheidungserheblich, als es um die Anwendung der
Jahresfrist des § 48 Abs. 4 (i.V.m.§ 49 Abs. 2 Satz 2) VwVfG hinsichtlich des Widerrufs der
Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 5 AufenthG geht. Denn der
angefochtene Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge betrifft den
Widerruf der Feststellung, dass zugunsten des Klägers ein Abschiebungshindernis nach §
53 Abs. 4 AuslG (nunmehr: § 60 Abs. 5 Auf-enthG) vorliegt. Zur Klärung der Frage, ob die
Jahresfrist des § 48 Abs. 4 VwVfG im Falle des Widerrufs einer auf diesen nationalen
Abschiebungsschutz bezogenen Feststellung (zur Differenzierung nach nationalem und
gemeinschaftsrechtlichen subsidiären Schutz vgl. Marx, AsylVfG, 7. Auflage 2009, Rzn.
216 ff zu § 73) zu beachten ist, bedarf es der Durchführung eines Berufungsverfahrens
nicht, weil sie sich - verneinend - schon im Wege der Auslegung des § 73 Abs. 3 AsylVfG
beantworten lässt (so auch OVG Münster, Beschluss vom 15. Oktober 2010 - 13 A
1639/10.A -, juris).
Nach § 73 Abs. 3 AsylVfG ist die Entscheidung, ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2,
3, 5 oder 7 des Aufenthaltsgesetzes vorliegen, zurückzunehmen, wenn sie fehlerhaft ist,
und zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen nicht mehr vorliegen. Bereits der Wortlaut
der Vorschrift gibt zu erkennen, dass mit ihr eine abschließende Regelung getroffen ist,
die eine ergänzende Heranziehung der §§ 48, 49 VwVfG ausschließt (vgl. Hailbronner,
Ausländerrecht, Stand August 2008, Rz. 75 zu § 73 AsylVfG; Schäfer in GK-AsylVfG,
Stand Juni 2006, Rz. 111 zu § 73; Wolff in Hofmann/Hoffmann, Ausländerrecht, 2008, Rz.
47 zu § 73 AsylVfG). Die anschließende Regelung in § 73 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG
rechtfertigt mit ihrem Hinweis auf § 48 VwVfG ein anderes Verständnis nicht. Denn
abgesehen davon, dass es im vorliegenden Verfahren nicht um eine Rücknahme,
sondern um einen Widerruf der Feststellung der Voraussetzungen eines
Abschiebungshindernisses geht, dient der Hinweis auf § 48 VwVfG allein der Klarstellung,
dass eine Rücknahme nach dieser Vorschrift etwa auch dann in Betracht kommen kann,
wenn Ausschlusstatbestände nach § 3 Abs. 2 AsylVfG vorlagen, diese im Zeitpunkt der
Anerkennung als asylberechtigt oder der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aber
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Anerkennung als asylberechtigt oder der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aber
nicht bekannt waren (so die Begründung zum Regierungsentwurf des
Richtlinienumsetzungsgesetzes, BT-Drs. 16/5065, S. 220 zu Art. 3, Nr. 46 Buchst. e,
Doppelbuchst. bb des Entwurfs).
Auch die Systematik des § 73 AsylVfG spricht gegen eine Geltung der Jahresfrist des §
48 Abs. 4 VwVfG bei einer auf § 73 Abs. 3 AsylVfG gestützten Entscheidung. Denn im
Gegensatz zu § 73 Abs. 1 und Abs. 2a AsylVfG ist die Rücknahme- bzw.
Widerrufsentscheidung in § 73 Abs. 3 AsylVfG nicht von einem zeitbezogenen Kriterium
abhängig (so zu Recht: OVG Münster, Beschluss vom 15. Oktober 2010, a.a.O., Rz. 15).
Diese mit dem Asylverfahrensgesetz vom 26. Juni 1992 (BGBl. I S. 1126) in Kraft
getretene Bestimmung ist seither im Wortlaut - mit Ausnahme der Anpassung an die
geänderten Abschiebungsschutzbestimmungen im Aufenthaltsgesetz gegenüber dem
früheren Ausländergesetz - nicht verändert worden. Insbesondere hat der Gesetzgeber
weder die Einführung des § 73 Abs. 2a AsylVfG durch Art. 3 Nr. 46 des
Zuwanderungsgesetzes vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 1950, 1994) noch die Änderungen
des § 73 Abs. 1 bis Abs. 2a und die Einfügung von Absätzen 2b und 2c in § 73 durch Art.
3 Nr. 46 des Richtlinienumsetzungsgesetzes vom 19. August 2007 (BGBl. I Seite 1970,
1999) zum Anlass für Ergänzungen oder Veränderungen genommen.
Der Anwendung von § 48 Abs. 4 VwVfG im Rahmen einer auf § 73 Abs. 3 AsylVfG
gestützten Entscheidung steht ferner der Sinn und Zweck dieser Vorschrift entgegen.
Der nachträgliche Wegfall der ursprünglich gegebenen Voraussetzungen des § 60 Abs. 5
AufenthG hat zwingend den Widerruf der Entscheidung, dass diese Voraussetzungen
vorliegen, zur Folge. Anders als in § 49 Abs. 2 VwVfG besteht für die
Widerrufsentscheidung kein Ermessen. Maßgeblich ist allein, ob die ursprüngliche
Entscheidung noch durch die objektive Sachlage gedeckt ist. Der Gesetzgeber hat
mithin in § 73 Abs. 3 AsylVfG eine Durchbrechung der Bestandskraft im öffentlichen
Interesse geregelt und der materiellen Gerechtigkeit Vorrang vor der Rechtssicherheit
eingeräumt (vgl. Marx, a.a.O., Rz. 219 m.w.N.). Die auf § 73 Abs. 3 AsylVfG gestützte
Entscheidung ist auch nicht von humanitären Zumutbarkeitserwägungen abhängig; eine
dem § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG entsprechende Regelung enthält Abs. 3 der Vorschrift
nicht. Ebenso wenig kommt es auf den Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes an (Wolff,
a.a.O., Rz. 48). Dient § 73 Abs. 3 AsylVfG demnach allein dazu, die Entscheidung über
das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG nur so lange
fortbestehen zu lassen, wie ein nach den tatsächlichen Gegebenheiten hierfür
vorhandenes Bedürfnis besteht, ist die Anwendbarkeit von § 48 Abs. 4 VwVfG damit nicht
vereinbar, weil sonst eine früher gewährte Schutzposition allein aufgrund eines
zögerlichen behördlichen Verhaltens aufrecht erhalten bliebe, obwohl hierfür kein
tatsächliches Bedürfnis mehr besteht (vgl. OVG Münster, a.a.O.).
Eine andere Einschätzung ist schließlich nicht im Hinblick darauf gerechtfertigt, dass
nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 19. September
2000 - 9 C 12.00 -, NVwZ 2001, 335, 337; Urteil vom 12. Juni 2007 - 10 C 24.07 -, NVwZ
2007, 1330) die allgemeinen Vorschriften der §§ 48 f. VwVfG neben den
spezialgesetzlichen Regelungen in § 73 AsylVfG anwendbar sind, soweit Letztere dafür
Raum lassen. Aus dieser, zu § 73 Abs. 1 und 2 AsylVfG a.F. sowie zu § 73 Abs. 1 und
Abs. 2a AsylVfG in der seit dem 1. Januar 2005 geltenden Fassung ergangenen
Rechtsprechung mag sich ergeben, dass eine Rücknahme oder ein Widerruf der
Feststellung eines Abschiebungshindernisses im Sinne von § 60 Abs. 5 AufenthG nach §
48 bzw. § 49 VwVfG - dann unter Beachtung der Jahresfrist des § 48 Abs. 4 VwVfG -
erfolgen kann, wenn die Voraussetzungen des § 73 Abs. 3 AsylVfG nicht vorliegen.
Daraus lässt sich indes nicht ableiten, dass auch im originären Anwendungsbereich des
§ 73 Abs. 3 die Jahresfrist Geltung beanspruchen könnte.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß §
83 b AsylVfG nicht erhoben.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylVfG, § 152 Abs. 1 VwGO).
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